KAPITEL 6

»Soll ich dich wirklich nicht fahren?« fragte Katharine. Beinahe hätte Michael laut aufgestöhnt. Schon am Freitag war es schlimm genug gewesen. Sie hatte darauf bestanden mitzukommen, als er sich an der neuen Schule einschrieb. Dabei war es keine große Sache gewesen - er musste lediglich ein paar Formulare ausfüllen, alle weiteren Unterlagen bekamen sie per Computer aus New York. Sie musste nur ein einziges Papier unterschreiben, und das hätte er ihr ohne Probleme mit nach Hause bringen können. Sie hätte es am Wochenende unterschrieben, und er hätte es am Montag wieder in die Schule gebracht. Aber nein, sie musste ja dabeisein und ihm über die Schulter sehen, als wäre er ein Viertkläßler oder so. Die Schüler, die ins Büro gekommen waren, hatten ihn schon angestarrt wie einen armen Jammerlappen, der sich nicht mal einschreiben konnte, ohne dass Mami ihm Händchen hielt.

Und jetzt wollte sie ihn am ersten Tag zur Schule bringen.

»Ich glaube, dass ich bis zur Bushaltestelle sehr gut zu Fuß gehen kann, Mom«, sagte er. »Sie liegt direkt am Ende der Straße, erinnerst du dich?«

»Ich biet's dir ja nur an.« Katharine sah auf die Uhr und nahm ihren Rucksack. »Wenn du fertig bist, kann ich dich an der Haltestelle absetzen.«

Michael schüttelte den Kopf. »Ich hab noch eine halbe Stunde Zeit.«

»Oh, dann räum doch noch die Küche auf, ja? Bis heute abend.« Sie küßte ihn auf die Wange und verschwand, ehe Michael etwas sagen konnte.

Kurz darauf hörte er, wie der fast schrottreife Wagen, den Rob Silver ihnen geliehen hatte, beleidigt aufstöhnte, als Katharine ihn zu starten versuchte. Eine Minute lang klang es, als würde die Batterie ihren Geist aufgeben, doch dann sprang der Motor an. Eine dichte Rauchwolke quoll aus dem Auspuffrohr, und der altersschwache Explorer kroch aus der Ausfahrt.

Immerhin blieb Michael die Peinlichkeit erspart, von seiner Mutter zur Schule gebracht zu werden. Dafür spülte er gern das Frühstücksgeschirr. Das Chaos in seinem Zimmer ignorierte er allerdings. Er stopfte seine Sportklamotten, Laufschuhe und ein Schreibheft in seine Schultasche. Dann verließ er das Haus und erreichte das Ende der Straße genau in dem Augenblick, als ein schlammbespritzter gelber Bus auf der Spitze des Hügels um die Ecke bog.

Er stieg ein. Am Ende des Fahrzeugs entdeckte er einen freien Platz und ging darauf zu.

Er spürte, wie sich alle Blicke auf ihn hefteten.

Sie starrten ihn an und beurteilten ihn.

Beinahe hörte er das Wort, das in ihren Köpfen kreiste:

Haole.

Weißer.

Josh Malani hatte ihn gewarnt, dass so etwas passieren würde. »Ein paar von den Jungs haben so eine Art Feiertag hier«, hatte er am Samstag zu Michael gesagt, als er ihm seine erste Surfstunde gegeben hatte. »Den Kill-einen-haole-Tag. Natürlich bringen sie an diesem Tag keine Typen mit deiner Hautfarbe um. Sie versuchen sie nur ein bißchen zu ändern, in Grün und Blau statt Weiß.«

»Du machst Witze«, hatte Michael entgegnet, obwohl er ziemlich sicher war, dass Josh durchaus keinen Witz gemacht hatte.

Josh hatte mit der Schulter gezuckt. »He, ihr seid hergekommen und habt alles gestohlen und zweihundert Jahre lang alles so gemacht, wie es euch in den Kram gepaßt hat. Die Zeiten haben sich geändert.«

Trotzdem hatte Michael noch immer gehofft, dass Josh Witze gemacht hatte.

Jetzt wusste er, dass dem nicht so war.

Als er durch den Mittelgang ging, kam er sich plötzlich wieder vor wie in New York, wo Slotzky nur auf eine Gelegenheit gewartet hatte, um einen Streit anzufangen. Nur, dass es hier ein halbes Dutzend Slotzkys gab, allein in diesem Bus. Wie viele mochten in der Schule auf ihn warten?

Sollte er ihnen direkt in die Augen sehen?

In New York war es das Schlimmste, was man machen konnte. Wenn einen jemand ansah, musste man den Blick abwenden und jeden direkten Augenkontakt vermeiden.

Jemandem ins Gesicht zu sehen, kam einer Herausforderung gleich.

Es schien sicherer, davon auszugehen, dass es hier genauso war. Er heftete seinen Blick auf den Boden und ging weiter, bis er den ersten unbesetzten Platz erreicht hatte. Dann schob er sich auf den Sitz und machte sich so klein wie möglich.

Der Bus fuhr den Hügel hinunter und hielt noch dreimal an. Michael spürte, dass ihn alle ansahen, aber keiner sagte ein Wort.

Es würde alles genauso schlimm werden, wie er befürchtet hatte.

Schließlich hielt der Bus auf dem Schulparkplatz, und während die ersten Schüler ausstiegen, seufzte Michael erleichtert auf. Bis jetzt war nichts passiert, und vielleicht würden sich Joshs düstere Voraussagen als übertrieben erweisen.

Vielleicht begnügten sie sich damit, ihn zu ignorieren.

Er stand auf und wollte durch den Gang zur Ausgangstür gehen, als er zwei Jungen sah - beide größer als er -, die so taten, als versuchten sie, eine eingeklemmte Tasche unter einem Sitz hervorzuziehen.

Für wie blöd hielten sie ihn?

Und warum war Josh Malani nicht auch mit dem Bus gekommen?

Als ihm klar wurde, dass die Jungen nicht eher gehen würden als er, gab er sich einen Ruck und ging weiter. Als er an ihrem Sitzen vorbeikam, trat einer der beiden in den Gang. Einen Augenblick lang dachte Michael, dass er sich ihm in den Weg stellen wollte.

Statt dessen ging der Junge zum Ausgang.

Michael zögerte. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, dass er sich vor den beiden fürchtete. Selbst wenn sie einen Kopf größer waren als er und zehn Kilo schwerer, den Gefallen wollte er ihnen nicht tun.

Michael ging weiter. Der zweite Junge folgte ihm.

Er ging so dicht hinter ihm, dass er den Atem des anderen in seinem Nacken spürte.

»Wieso bleibt ihr Angeber nicht da, wo ihr hingehört?« zischte der Junge hinter ihm, leise genug, dass es der Busfahrer nicht mitbekam. Plötzlich blieb der Junge vor ihnen stehen.

Der andere schubste Michael.

»Was, zum Teufel, machst du da, Arschloch?« sagte der vordere und drehte sich mit düsterem Blick zu ihm um. »Ihr haoles glaubt wohl, euch gehört alles. Aber weißt du was? Da scheiß' ich drauf.«

Michael wusste, dass nichts, was er jetzt sagen konnte, seine Lage verbessern würde. Er bereitete sich schon auf die Faust vor, die in seiner Magengrube landen würde, als eine Männerstimme ertönte.

»Aber nicht in meinem Bus!« sagte der Fahrer. Er war aufgestanden und sah Michaels Gegner streng an.

Der Junge vor Michael zögerte kurz. Dann drehte er sich um und stieg wortlos aus. Da der zweite Junge hinter ihm drängte, hatte Michael keine andere Wahl, als ebenfalls auszusteigen. Er fürchtete, dass die Auseinandersetzung nun draußen weitergehen würde. Wenn doch nur Josh Malani auftauchen würde. Auch wenn Josh wahrscheinlich nicht besser gegen zwei Typen kämpfen konnte, die doppelt so schwer waren wie er, konnte er diese Gorillas vielleicht durch Worte davon abhalten, ihn grün und blau zu schlagen.

Aber als er aus dem Bus stieg, hatte sich die Lage zumindest etwas verändert. Plötzlich waren sie von einem Dutzend anderer Schüler umgeben, und was immer Michaels Quälgeister sich ausgedacht hatten, mussten sie zumindest kurzfristig aufschieben. Der größere bedachte ihn noch mit dem gleichen, nichts Gutes versprechenden Blick, den er von Slotzky kannte, von dem Tag, als er Michael den Arm aufgeschnitten und ein blaues Auge verpaßt hatte. »Nach der Schule«, sagte der Junge drohend. »Oder vielleicht morgen. Aber keine Sorgen, haole - wir kriegen dich.« Damit drehte er sich um und verschwand mit seinem Freund in der Menge der Schüler.

Michael sah ihnen hinterher und fragte sich, ob dieser Typ wohl fester zuschlagen konnte als Slotzky in New York.

Wahrscheinlich viel fester.

Die leichte Verschiebung in der Erdkruste unter der Insel Hawaii war so minimal und vollzog sich so langsam, dass es Stunden dauerte, bevor es jemand registrierte; außer den Maschinen natürlich.

Die Maschinen registrierten alles. Dafür waren sie schließlich gebaut worden. Empfindliche Instrumente nahmen die winzigen Beben auf, die ein neuer Riß tief in den Eingeweiden des Vulkans Mauna Loa hervorgerufen hatte, und sandten die Daten an weitere Maschinen.

Keine Alarmglocken schlugen, keine Sirenen heulten auf. Es gab keine Warnung vor einer der Springfluten, die den plötzlichen größeren Verschiebungen im Meeresboden folgen können.

Statt dessen flüsterten sich die Maschinen eifrig Informationen zu und reichten die Nachrichten von den Aktivitäten unter dem Mauna Loa von einer Schnittstelle zur nächsten weiter. Sie taten das so lange, bis die Computer bereits Modelle entwarfen, um die Zukunft des Planeten vor den Folgen dieser winzigen Verschiebung zu schützen. Noch immer hatte kein Mensch die Bewegung wahrgenommen.

Tief unter dem Berg bahnte sich geschmolzene, kochende Lava ihren Weg an die Oberfläche. Sie zwängte sich durch die Spalten und Risse, die der Druck von unten geöffnet hatte, weitete sie aus und füllte sie, und sie sammelte immer mehr Kraft, um nach oben aufzusteigen.

Jetzt bemerkten es auch die Menschen.

Die ersten auf Maui, die unter ihren Füßen das Zittern der Erde spürten, waren die Techniker, die sich um die Teleskope auf der Spitze des Haleakala kümmerten. Ihre Computer waren speziell darauf programmiert, sie vor vulkanischer Tätigkeit zu warnen - trotz der mächtigen Betonblöcke, auf denen die Teleskope standen, und der Schockabsorber, die sie vor den kleinsten Erschütterungen schützen sollten. Denn jedes noch so kleine Beben vereitelte die Beobachtung des Universums jenseits der Grenzen des Planeten.

Wenn die Erde sich bewegt, kann nichts sie aufhalten.

Dann muss jede astronomische Beobachtung abgebrochen werden.

Phil Howell ärgerte sich. Die Erfahrung sagte ihm, dass Beben dieser Art sich stets fortsetzten und dass auch dieses während der nächsten Tage andauern würde. Das hieß, dass er den Stern, den er im Whirlpool der Galaxie beobachtet hatte, fünfzehn Millionen Lichtjahre entfernt, vorerst vergessen konnte.

Der Stern faszinierte Howell aus zwei Gründen. Zum einen schien er die Quelle eines Signals zu sein, das verschiedene funkteleskopische Antennen schon seit einigen Jahren empfingen. Bislang existierten diese Signale nur als Bruchstücke, und er war gerade erst dabei, sie zusammenzufügen.

Zum anderen verwandelte sich der Stern in eine Nova. Das Funksignal, da war er sicher, würde sich bald als Ankündigung der bevorstehenden Zerstörung des Sterns herausstellen.

Aber jetzt hatte ihn der Computer darüber informiert, dass die Unruhe in der Erde seine Beobachtung des Himmels auf unbestimmte Zeit unterbrechen würde. Er überließ es den Computern, die Funksignale zu entschlüsseln, und beschloß, den restlichen Tag freizunehmen. Er wollte rausfahren und sich den Fundort ansehen, von dem Rob Silver seit einem Monat sprach. Robs Entdeckung schien verlockend, wenn auch nicht ganz so verlockend wie die Aussicht, dort auch Katharine Sundquist kennenzulernen, die Frau, von der Rob Silver ebenso fasziniert zu sein schien wie Phil von dem fernen Stern. Sollten sich die Computer um das Universum kümmern. Er schloß sein Büro ab und machte sich auf den Weg nach Hana.

Die automatische Kamera klickte. Katharine hatte auf den Auslöser gedrückt. Jetzt veränderte sie ihre Position ein wenig. Sie achtete schon längst nicht mehr auf die Fliegen, die um sie herumschwirrten, und auch nicht auf den Schweiß, der ihr in schlammigen Bächen über das Gesicht lief. Sie hatte so viele Stunden vor dem Schädel - der mittlerweile fast gänzlich freigelegt war - gehockt, dass ihr jeder Knochen im Leib weh tat. Aber auch diese Schmerzen nahm sie so wenig wahr wie Fliegen und Hitze.

Sie musste diese Aufnahmen machen, eine bildliche Dokumentation der Lage, in welcher der Schädel und der Rest des Skeletts gefunden worden waren.

Erneut drückte sie auf den Auslöser.

Ein Klicken, dann drehte sich der Film surrend weiter, und es folgte ein weiterer schmerzhafter Positionswechsel.

Noch eine Aufnahme.

Noch ein Dokument, das bewies, dass dieser Fund an genau dieser Stelle, in genau dieser Lage gemacht worden war. Auch wenn es keinen Sinn ergab.

Seit Tagen arbeitete sie nun schon an der Ausgrabung und hatte behutsam Erde und Steine entfernt, um die menschlichen Überreste freizulegen. Noch hatte sie keine Ahnung, wann der Leichnam hier begraben worden war. Nach dem, was sie wusste, konnte es ein Jahr her sein, ein Jahrzehnt oder ein Jahrhundert.

Oder tausend Jahre? Viertausend? Sicherlich nicht mehr, denn der Mensch lebte noch nicht länger auf Maui - oder sonstwo auf Hawaii -, und Tiere legten keine Feuerstellen an. Das tat nur der Mensch.

Zweifellos war der Fundort jünger als tausend Jahre - wahrscheinlich nur ein paar hundert Jahre alt, wenn man bedachte, wie wenig Erde auf der Stelle gelegen hatte.

Sie hatte es abgelehnt, sich bei der Ausgrabung von Robs Team helfen zu lassen, und ihnen das Gebiet um den rudimentären Feuerkreis herum zugewiesen. Das Innere des Kreises lag noch immer unberührt. Nachdem Katharine beschlossen hatte, zunächst an dem Skelett zu arbeiten, ordnete sie an, dass die Feuerstelle zugedeckt und vorerst nicht angerührt werden sollte. Wenn sie jeden einzelnen Knochen freigelegt und in jedem Stadium der Ausgrabung fotografiert hätte und wenn eine vollständige Bestandsaufnahme der Ausgrabung vorläge, die sie ins Labor schicken könnte, dann erst würde sie sich der Feuerstelle zuwenden.

»Ich möchte, dass jede Schicht separat bleibt«, erklärte sie Rob. »Selbst wenn ich sie Millimeter für Millimeter abschälen muss.«

»Und was haben wir hier deiner Meinung nach vor uns?« fragte Rob. Offenbar nahm Katharine diese Ausgrabung sehr wichtig.

Als er die Frage zum erstenmal gestellt hatte, konnte sie ihm nicht antworten. Sie hatte rein intuitiv gearbeitet - eine Ahnung, die auf ihrer langen Erfahrung basierte, sagte ihr, dass sie einen solchen Fundort noch nie gesehen hatte.

Und dann, als sie den Schädel freizulegen begann, hatte sie noch immer keine vernünftige Erklärung.

Denn was der Fund ihr sagte, ergab keinen Sinn.

Zunächst ging sie davon aus, dass es sich bei dem Schädel um den eines Primaten handelte. Allerdings kam ihr das seltsam vor, denn sie wusste, dass es auf Hawaii keine eingeborenen Primaten gab.

Außerdem bereitete ihr die Lage Probleme. Man würde keinen Schimpansen oder Gorilla - oder irgendeine andere Primatenart - so dicht an einer Feuerstelle finden. Es sei denn, jemand hätte das Tier getötet und dort liegengelassen.

Ein nicht unmögliches Szenario, aber doch recht unwahrscheinlich.

Aber als sie weiter grub und den Schädel mit Hilfe von Dentalinstrumenten und Bürsten geduldig freilegte, wurde immer deutlicher, dass er eigentlich nicht von einem Primaten stammen konnte.

Viel eher ähnelte er dem Schädel eines frühen Hominiden.

Und das war natürlich absurd.

Erstens hatte der Urmensch auf Hawaii nicht existiert.

Zweitens datierte die Fundstelle nicht auf den Zeitraum, in dem der Urmensch gelebt hatte.

Also musste es sich bei dem Schädel um etwas anderes handeln. Aber was es auch sein mochte, sie wollte eine perfekte wissenschaftliche Dokumentation erstellen, um eventuelle Theorien absichern zu können.

Sie machte noch eine Aufnahme. Dann erhob sie sich, streckte sich und holte tief Luft. Sie rümpfte die Nase, als sie den Schwefelgeruch spürte, der die ganze Zeit über der Stelle zu hängen schien, heute noch stärker als sonst. Eben legte sie einen neuen Film ein, als sie Robs Stimme hörte.

»Kath? Ich habe einen Besucher mitgebracht, der dich gern kennenlernen möchte.« Katharine blickte auf und sah, dass Rob Silver die Lichtung betrat, gefolgt von einem Mann ungefähr in seinem Alter. »Darf ich vorstellen - Phil Howell. Er ist der oberste Sternengucker oben auf dem Berggipfel. Phil, das ist Katharine Sundquist.«

Phil Howell trat vor, streckte seine Hand aus und blickte dann stirnrunzelnd nach oben, als er den Geruch von faulen Eiern wahrnahm. »Puh! Verwenden Sie Schwefelsäure bei der Ausgrabung?«

Katharine schüttelte den Kopf. »Das sind nur Ablagerungen an einem alten Eruptionskanal. Aber heute scheint es schlimmer als sonst zu sein.«

Der Astronom hob die Augenbrauen. »Sind Sie sicher?«

Der Klang seiner Stimme ließ eine innere Alarmglocke in Katharine läuten. »Ich glaube schon«, sagte sie. »Wir hatten heute morgen Regen. Vielleicht hängt es damit zusammen.«

»Vielleicht haben aber auch die Erdbeben eine Gasader geöffnet«, entgegnete Howell.

Besorgt sah Katharine zu Rob hinüber. »Erdbeben?« wiederholte sie. »Wovon redet er?«

»Der Vulkan«, sagte Howell, bevor Rob antworten konnte. »Sieht aus, als würde er bald wieder spucken.«

Katharine sah Rob entsetzt an. »Du hast gesagt, er sei erloschen!«

»Das ist er auch«, beruhigte Rob sie. »Er redet vom Kilauea auf der Großen Insel.« Katharines Miene sagte ihm, dass sie nicht überzeugt war. »Sag du's ihr, Phil. Mir glaubt sie offenbar nicht.«

Katharine hörte schweigend zu, als Phil Howell ihr die vulkanischen Bewegungen unter der Großen Insel erklärte. »Es ist nicht nur das Erdbeben«, sagte er schließlich. »Wenn er wirklich loslegt, spuckt er so viel Staub in die Luft, dass man nichts mehr sehen kann, selbst wenn die Teleskope ruhig stehen sollten.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu. »Da fragt man sich doch wirklich, ob Berggipfel tatsächlich die besten Stellen für Observatorien sind, nicht wahr?«

Katharine antwortete nicht, aber während sie dem Astronomen die Fundstelle zeigte, wanderte ihr Blick immer wieder zu dem Loch in der Felsspalte, wo sich der alte Eruptionskanal befand. Inmitten der üppigen Vegetation des Regenwaldes sah alles friedlich und harmlos aus.

Sie versuchte sich auf ihre Schilderung zu konzentrieren, aber es kam ihr vor, als würde der Schwefelgeruch immer stärker. Sollte sie Rob und Phil davon erzählen? Doch die beiden schienen nichts dergleichen zu bemerken. Also bildete sie sich das nur ein.

Hoffentlich.

Die beiden Jungen aus dem Bus verfolgten Michael den ganzen Tag wie eine fleischgewordene Drohung. Wo auch immer er hinging, schienen sie schon auf ihn zu warten. Zu zweit standen sie da und starrten ihn düster an. Während der Pause zwischen den letzten beiden Stunden drängten sie ihn gegen ein Schließfach.

»Noch eine Stunde«, knurrte der Größere. »Dann bist du tot, haole.« Bis jetzt hatten sie ihm allerdings noch nichts getan, und wenn sie vorhatten, ihn nach der Schule abzupassen, konnten sie lange warten. Michael wollte etwas tun, das er noch nie zuvor gemacht hatte. Heute wollte er sich beim Leichtathletikteam anmelden, zum erstenmal in seinem Leben.

Er hatte sich während der Sportstunde dazu entschlossen. Den ganzen Tag über hatte er auf seinen Atem gehört und keinerlei Probleme festgestellt. Im Gegenteil, er fühlte sich besser als je zuvor. »Warte ab«, hatte Josh Malani zu ihm gesagt, als sie auf der Bahn liefen. »Manchmal ist es ganz windstill, und wenn sie dann die Zuckerrohrfelder abbrennen oder der Vulkan auf der Großen Insel ausbricht, dann erstickst du hier praktisch.«

Aber das Atmen war ihm ganz leichtgefallen, und auch nach drei Runden war er kaum aus der Puste gewesen. Als er dann am schwarzen Brett im Umkleideraum gesehen hatte, dass am Nachmittag das Laufteam trainierte, hatte er seinen Entschluß gefasst. Heute würde er es tun.

Nachdem die Schlußglocke geläutet hatte, verließ er die Schule nicht durch den Seitenausgang, wo die Busse - und die beiden Typen - warteten, sondern ging wieder zu den Umkleideräumen.

Er zog sich aus und streifte seine Sporthose über, die vom morgendlichen Sportunterricht noch feucht war. Sorgfältig band er die Schnürsenkel seiner Laufschuhe zu, wobei er darauf achtete, sie nicht zu fest anzuziehen, damit seine Füße nicht anschwollen, noch bevor er sich richtig aufgewärmt hatte. Dann lief er hinaus aufs Feld, wo das Laufteam bereits mit den Dehn- und Streckübungen begonnen hatte.

Sollte er sich ihnen anschließen oder sich allein aufwärmen?

Aber was, wenn er zu ihnen ging, als gehöre er bereits dazu, und es dann gar nicht schaffte, ins Team aufgenommen zu werden? Vielleicht war es besser, erst einmal ein, zwei Runden allein zu laufen.

Er hatte gerade die erste Runde beendet und etwa hundert Meter von der zweiten zurückgelegt, als er plötzlich einen Ellenbogen in den Rippen spürte.

»Was soll das werden, du Spinner?« fragte eine ihm nicht unbekannte Stimme.

Michael sah zur Seite, ohne den Kopf zu drehen. Der größere der beiden Typen aus dem Bus lief neben ihm. Er trug Laufkleidung.

Schweigend lief Michael weiter.

Der andere Junge, der Michael um einen Kopf überragte, lief weiter neben ihm. »Kannst du nicht sprechen, Arschloch?«

Michael sagte noch immer nichts. Er konzentrierte sich ganz auf seinen Lauf und achtete darauf, sein Tempo auf jeden Fall beizubehalten. Wenn ihn dieser Kerl von der Bahn schubsen wollte, dann sollte er es tun. Aber er hatte nicht vor zu kneifen.

Sie bogen um die letzte Kurve. Michael verließ die Bahn, um zum Trainer zu gehen und sich vorzustellen. In diesem Augenblick steigerte der andere Junge scheinbar mühelos das Tempo, so dass Michael sich fragte, ob es nicht doch besser wäre, wieder in den Umkleideraum zu laufen, zu duschen und nach Hause zu gehen. Doch dann sah er den anderen Jungen aus dem Bus, der ihn höhnisch angrinste, als wisse er genau, woran Michael gerade dachte.

Aber Michael wusste auch, dass er jeden weiteren Tag auf der Bailey High hassen würde, wenn er jetzt kniff. Er atmete kräftig aus und ging auf den Trainer zu. »Ich bin Michael Sundquist«, sagte er. »Ich würde gerne ins Team aufgenommen werden.« Er sah, wie der Trainer ihn von oben bis unten musterte, und er sah auch die Skepsis in seinen Augen. »Ich bin Sprinter«, fügte er hinzu.

»Ich glaube, ich kann mir selbst ein Urteil darüber bilden, was du bist«, sagte der Trainer. Die anderen Läufer lachten, und Michael versuchte, seine glühenden Wangen zu ignorieren. Der andere Junge lief noch immer seine Runde. Schließlich sagte der Trainer freundlicher: »Also gut, was willst du laufen?«

»Die hundert Meter, oder die zweihundert«, schlug Michael vor.

»Wie wär's mit den vierhundert?« fragte der Trainer.

Michael biß sich auf die Lippen. Dann entschied er sich, die Wahrheit zu sagen. »Ich hatte Asthma. Ich bin nicht sicher, ob ich Kraft dafür habe, bei vollem Tempo.«

Der Trainer runzelte die Stirn, aber dann sagte er nur: »Okay, ich sag' dir, wann du loslaufen sollst.« Er zog eine Stoppuhr aus der Tasche, stellte sie ein und reichte sie dem anderen Jungen aus dem Bus. Der Zeitnehmer ging zur Hundert-Meter-Ziellinie, und der Trainer nickte Michael zu, der sich zu den Startblöcken begab. »Auf die Plätze!«

Michael kniete sich hin und preßte seinen Fuß gegen den Startblock.

»Fertig!«

Er spannte seine Muskeln an und wartete auf das dritte Wort.

Und wartete.

Was, zum Teufel, sollte das? Wollte der Trainer ihn auf den Arm nehmen? Seine Beine taten schon weh. Dennoch blieb er voll angespannt, tief geduckt und wartete. Dann hörte er Schritte hinter sich und wusste Bescheid.

In dem Augenblick, als der Junge, der ihm vorhin den Ellbogen in die Seite gerammt hatte, an ihm vorbeilief, rief der Trainer: »Los!«

Als sich Michael vom Block abstieß, war ihm der größere Junge schon um einige Schritte enteilt und schien immer schneller zu werden. Na toll, dachte Michael, jetzt darf ich nicht nur jemanden einholen, der größer ist und einen Vorsprung hat, ich darf auch noch seinen Staub schlucken.

Aber wenn sie dieses Spiel spielen wollten, na schön.

Michael legte seine ganze Kraft in die ersten Schritte, mit denen er sich vorwärtsschnellte, und rannte, so rasch er konnte.

Nach einigen Metern merkte er bereits, dass die Entfernung zu dem Läufer vor ihm nicht größer wurde.

Im Gegenteil, der Abstand verringerte sich.

Dann hörte er plötzlich eine Stimme von der Tribüne. Josh Malani hüpfte auf und ab. »Los, Mike, los!« schrie er.

Michael ballte die Fäuste, um jeden Rest Energie aus seinem Körper zu holen. Er wollte die Lücke schließen. Nach vierzig Metern betrug der Abstand nur noch vier Meter.

Bei siebzig lag Michael nur noch einen Schritt zurück.

Bei achtzig hatte er den anderen Läufer eingeholt, und als er die Ziellinie überflog, hatte er mehr als einen Meter Vorsprung.

Er lief aus und wartete, was jetzt geschehen würde. Der Typ hasste ihn schon wegen seiner Hautfarbe, und jetzt hatte er ihn auch noch vor allen seinen Freunden besiegt. Großartig.

Josh Malani kam auf ihn zugelaufen. »Spitze, Mike. Er hat Staub geschluckt.«

Der Junge, den er geschlagen hatte, und der eben noch ausgesehen hatte, als wollte er Michael am liebsten verprügeln, blieb stehen und sah ihn erstaunt an. »Du bist Mike Sundquist?« fragte er.

»Michael«, verbesserte Josh. »Er mag es gar nicht, wenn du ihn Mike nennst.«

»Und warum nennst du ihn dann Mike?« mischte sich der Junge mit der Stoppuhr ein. »Ich denke, er hat dich aus dem Riff gezogen.«

»Das hat er.«

»Dann zeige gefälligst ein bißchen Respekt.« Er wandte sich an Michael. »Wenn Malani dir irgendwelchen Ärger macht, sag mir nur Bescheid. Ich will ihm schon seit Jahren eine ordentliche Tracht Prügel verpassen, aber er ist so klein, dass ich mich gar nicht an ihm vergreifen kann. Er ist ja noch kleiner als du! Aber er kann nicht laufen!«

Michael kapierte gar nichts mehr. »Was ist denn jetzt los?«

»Wie hast du das nur gemacht?« fragte der Verlierer des Rennens. »Mann, ich war zehn Meter vor dir und in vollem Lauf, als du gestartet bist!« Er legte seinen Arm um Michaels Schultern und ging mit ihm zum Trainer und den anderen Schülern. »He, Rick, wie schnell ist er die hundert denn gelaufen?« fragte er den Jungen mit der Stoppuhr.

»Knapp über elf Sekunden«, antwortete der Zeitnehmer.

»Das ist eine ganze Sekunde schneller als der beste Läufer, den wir je hatten«, sagte der andere, »Ich bin auf den langen Strecken ganz gut, aber Sprint ist nicht mein Ding.«

Michael sah ihn mißtrauisch an. »Ich dachte, du wolltest mich fertigmachen?«

Der große Junge grinste. »Das war doch, als du nichts weiter als ein stinkender haole warst. Ich bin Jeff Kina.« Er streckte seine Hand aus und rief dem Trainer zu: »Mr. Peters, er ist doch im Team, oder?«

»Er schon, aber ich weiß nicht, wie lange du noch drin bist. Wie kommt es, dass dich jemand schlägt, der einen Kopf kleiner ist als du und vor dem du einen Vorsprung hattest?«

Jeff Kina lachte prustend. »He, ich kann schließlich nicht alles können. Aber was ich nicht kann, das kann Michael. Dieses Jahr laufen wir alle in Grund und Boden!«

Zum erstenmal hatte Michael das Gefühl, dass es vielleicht doch keine schlechte Idee gewesen war, nach Maui zu gehen, und als er eine Stunde später - nach dem ersten Training - zu Hause anrief, versuchte er erst gar nicht, cool zu wirken.

»Ich bin's, Mom«, sagte er, als sich der Anrufbeantworter meldete. »Rate mal, was passiert ist. Ich hab's geschafft! Ich bin im Laufteam! Ist das nicht unglaublich? Ich hab's geschafft!« Nach kurzem Zögern sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. »Ich habe viel neue Jungen kennengelernt, die sind alle ganz toll. Nur einer ...« Er brach mitten im Satz ab. Warum sollte er seine Mutter damit beunruhigen, dass heute morgen jemand gedroht hatte, ihn zu verprügeln? Das war schließlich vorbei. »Egal, ich wollte nur sagen, dass ich mit Josh und ein paar Jungs aus dem Team noch weggehe. Wir wollen nach Kihei, einen Hamburger essen und ins Kino oder so, um zu feiern. Ich bin gegen halb elf wieder da, spätestens um elf. Ist das nicht toll, dass ich es geschafft habe? Bis später.« Michael legte den Hörer auf und sah strahlend zu Josh Malani und Jeff Kina hinüber, die an der Tür auf ihn warteten. »Wo sind die anderen?« fragte er.

»Die sind schon los«, antwortete Josh.

»Dann nichts wie hinterher!« sagte Michael und nahm seine Sporttasche. »Weiß jemand, welche Filme laufen?«

Aber als sie den Umkleideraum verließen und auf den Parkplatz zugingen, machte Josh Malani einen anderen Vorschlag, der nichts mit Kino zu tun hatte. Als er ihn hörte, spürte Michael einen Knoten im Magen.

Einerseits, weil Joshs Vorschlag so aufregend klang.

Zum anderen, weil er Angst hatte.

»Nachttauchen?« fragte er, als er seine Sporttasche auf die Ladefläche von Joshs Chevy-Pick-up warf. »Ist das nicht gefährlich?«

Josh grinste. »Ein bißchen schon. Und wenn schon. Es wird dir gefallen.«

Vielleicht sollte ich noch mal Mom anrufen, dachte Michael, als sich die Jungen in den rostigen Pick-up zwängten. Vielleicht sollte ich ihr sagen, was wir vorhaben. Wenn irgend etwas passiert ...

Vergiß es, sagte er sich schließlich. Sie macht sich doch nur Sorgen.

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