An dem Wagen war nichts Ungewöhnliches. Er sah aus wie fast alle anderen Mietwagen mittlerer Größe auf Maui. Unauffällig lackiert, bescheiden ausgestattet.
Auch an den beiden Männern, die in dem Wagen saßen, war nichts Ungewöhnliches. Beide waren mittleren Alters und trugen die Standarduniform der Touristen - Polyesterhosen und billige Hawaiihemden, wie man sie in den Läden in Lahaina und den Einkaufszentren auf dem Kihei Strip kaufen konnte.
Sie fuhren langsam die South Kihei Road entlang - wie Touristen, die nicht genau wissen, wo es langgeht, oder die Aussicht genießen.
Aber sie hatten den Wagen nicht gemietet, und sie waren auch keine Touristen. Beide lebten schon seit Jahren auf Maui, auch wenn keiner der beiden hier geboren war.
Und sie wussten auch genau, wohin sie wollten. Ihr Ziel lag einen Block vor ihnen, versteckt in einer Ecke des Einkaufszentrums. Wenn man nicht wusste, wonach man suchte, war es sehr schwer zu finden. Die Hälfte der Läden hatte bereits geschlossen, und die meisten der noch offenen lagen in der Nähe einer Eisdiele am südlichen Ende einer langen Reihe von Geschäften.
Kihei Kens Tauchladen lag der Eisdiele gegenüber. Er befand sich in einem kleinen, freistehenden Haus, das aussah, als sei es nachträglich auf dem Gelände des Einkaufszentrums errichtet worden. Die beiden Männer stellten ihren Wagen auf dem Parkplatz ab und gingen langsam auf den Tauchladen zu. Unterwegs sahen sie sich die Auslagen einiger Geschäfte an.
Wie ihnen gesagt worden war, hing bereits das Ge-schlossen-Schild hinter der Tür, aber im Laden brannte noch Licht, und sie sahen, dass ein Mann hinter der Theke stand und offenbar irgendein Formular ausfüllte. Einer der Männer hielt die Tür auf, und der andere betrat als erster den Laden. »Kihei Ken?« sagte der erste Mann.
»In der Tat.« Der Mann legte seine Abrechnung beiseite und kam mit ausgestreckter Hand hinter der Theke hervor. »Sie sind sicher die Herren, die Mr. Yoshiharas Büro angekündigt hat.«
Der zweite Mann war ebenfalls in den Laden getreten und schloß nun die Tür hinter sich. »Einen Mann dieses Namens kennen wir nicht.«
Das Lächeln auf Ken Richters Gesicht erstarb, als der erste Mann seine ausgestreckte Hand ignorierte. »Oh, entschuldigen Sie«, sagte er. Sein Blick wanderte zum Parkplatz. Vor einer Viertelstunde hatte jemand aus Takeo Yoshiharas Büro angerufen und zwei Männer angekündigt. »Leider habe ich schon geschlossen. Ich erledige nur noch etwas Papierkram. Eigentlich warte ich auf...«
»Uns«, unterbrach ihn der Mann. Etwas in seiner Stimme machte Ken ausgesprochen nervös. Eine Alarmglocke schellte in seinem Kopf. »Hören Sie, der Laden ist geschlossen ...«
Diesmal brachten ihn keine Worte zum Schweigen.
Der Mann hielt plötzlich eine Waffe in der Hand. Eben noch hatte er sowenig bedrohlich gewirkt wie ein neugieriger Tourist. Aber bis auf das Hawaiihemd hatte er jetzt nichts mehr mit einem Touristen gemein. Er sah Ken Richter mit kaltem Blick an, der ihm sagte, dass der Mann nicht zögern würde, seine hässliche schwarze Pistole zu benutzen, die so leicht in seiner Hand lag, als ob er damit aufgewachsen wäre.
»Hö... hören Sie«, stammelte Ken und wich zurück. »Wenn Sie Geld wollen, nehmen Sie es sich einfach, okay?«
Der Mann mit der Waffe schwieg. Der andere betrat das Hinterzimmer, um sich davon zu überzeugen, dass dort niemand war, und schloß dann die Eingangstür des Ladens ab. Er löschte die Beleuchtung, so dass nur noch das düster glühende Blau eines Neonzeichens, das die Konturen eines Tauchers mit Maske und Schwimmflossen zeigte, den Raum schwach erhellte.
Der Mann mit der Waffe sagte: »Nach hinten, bitte.«
Sie werden mich sicher nicht umbringen, dachte Ken. Sonst wären sie nicht so höflich. Er ging in das Hinterzimmer. »He, machen Sie doch einfach die Kasse auf, nehmen sich das Geld und verschwinden, okay? Hier hinten ist sowieso nichts - ich habe nicht mal einen Safe. Ich rufe auch nicht die Cops an. Ich...«
»Setzen Sie sich, bitte.« Der Mann mit der Waffe deutete auf einen Hocker, auf dem man Platz nehmen konnte, wenn man Schwimmflossen anprobierte, und auf den sich Ken sonst zu stellen pflegte, um die oberen Regalbretter zu erreichen.
Sie werden mich fesseln, dachte Ken, als er sich auf den harten Hocker setzte. Sie werden mich fesseln, und vielleicht räumen sie den Laden aus, aber sie werden mir nichts tun.
Auch der zweite Mann hatte den Lagerraum betreten. Ken sah, wie er die Regale betrachtete.
Suchten sie etwas?
»Bitte, achten Sie nicht auf ihn«, sagte der erste Mann. »Achten Sie auf mich.«
Ken wusste nicht, was er von all dem halten sollte. Wenn sie etwas stehlen wollten, warum nahmen sie es nicht einfach?
Eine Weile herrschte Stille, die zweimal von einem Geräusch durchbrochen wurde, das in Kens Ohren wie das Schnappen eines Gummis klang.
Dann folgte ein metallisches Klicken, als wäre eine Tierfalle gespannt worden.
Auch wenn er nur den Mann vor sich ansah, wie der es befohlen hatte, spürte Ken, dass der andere Mann dicht hinter ihm stand.
Seine Nackenhaare sträubten sich. Er kapierte.
Aber es war zu spät. In dem Augenblick, da Ken Richter die Geräusche identifizierte, drückte der Mann hinter ihm auf den Abzug seiner Schalldämpferpistole.
Es gab ein weiches, fast angenehmes Floppen, als der Hammer das Geschoß traf und die sorgfältig gekerbte Kugel aus dem schallgedämpften Lauf flog.
Ken Richter spürte nicht, wie die Kugel in seinen Schädel eindrang, wo sie auseinanderstob und wie ein Mixer durch sein Hirn fuhr. Dann trat die Kugel wie eine explodierende Bombe aus seiner Stirn aus und riß ihm das halbe Gesicht weg. Aber da war Ken Richter bereits tot.
Katharine wollte das Anwesen nicht verlassen - sie wollte Michael nicht eine Minute allein lassen. Aber sie konnte Rob nur dort von dem nächtlichen Tauchen erzählen, wo mit Sicherheit niemand zuhörte. Takeo Yoshihara durfte auf keinen Fall herausfinden, wieviel sie bereits wusste. Sie setzte eine Maske aus Vertrauen in den Arzt und Sorge um ihren Sohn auf und teilte Stephen Jameson mit, dass sie nach Hause müsse, um einige Sachen für Michael zu besorgen. In einer Stunde, höchstens zwei würde sie zurück sein. Könnte sie die Nacht bei Michael verbringen? Er hatte schon so viele Nächte in Krankenhäusern verbracht, dass er sie regelrecht hasste, und er hatte solche Angst... Die improvisierte Geschichte ging ihr leicht und glaubwürdig von den Lippen, vor allem deshalb, weil der größte Teil davon der Wahrheit entsprach. Doch sobald sie das Anwesen mit Rob verlassen hatte, berichtete sie ihm von den Notizen, die sie mit Michael ausgetauscht hatte. Sofort rief er mit seinem Handy in Kens Taucherladen an.
»Irgendwas stimmt da nicht«, sagte Rob, als er Katharines Explorer in eine Parkbucht direkt neben Ken Richters alten Volvo lenkte. Er schaltete den Motor aus, aber er und Katharine blieben erst einmal im Wagen sitzen und beobachteten den dunklen Laden. Es sah aus, als hätte Ken schon vor Stunden geschlossen.
»Vielleicht ist er irgendwo hin«, sagte Katharine. Sie betete, dass sie Kihei Ken finden würden und er ihnen vielleicht doch noch eine vernünftige Erklärung für das liefern könnte, was Michael beim Tauchen zugestoßen war. »Vielleicht ist er essen gegangen. Oder ins Kino?«
Rob schüttelte den Kopf. »Die Kinos sind unten an der Kukui Mall. Da hätte er sein Auto nicht hier stehen gelassen. Außerdem hätte er im Laden sein müssen, als ich ihn das erstemal angerufen habe. Ich kenne Ken Richter schon jahrelang - wir haben schon Dutzende Male zusammen getaucht -, und er ist der zuverlässigste und pünktlichste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Jeden Abend macht er seinen Laden um Punkt sieben zu, aber er ist mindestens noch bis halb acht da. Dann räumt er auf und bereitet alles für den nächsten Morgen vor. Und wenn er Tauchtermine hat, dann ist er oft bis neun oder zehn hier. Ich werde nachsehen.«
Sie stiegen aus und näherten sich dem Laden. Sie hatte zwar selbst nach vernünftigen Erklärungen dafür gesucht, dass Ken Richter nicht ans Telefon gegangen war, aber auch Katharine hatte das ungute Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Sie stellte sich mit Rob vor das Schaufenster, hielt die Hand über die Augen und spähte hinein. In der Dunkelheit war lediglich ein blaues Neonzeichen zu erkennen.
Es schien jedoch alles wie immer zu sein, bis sie um das Gebäude herum gegangen waren. Rob deutete auf die Theke. Im bläulichen Licht des Neonzeichens lagen gut sichtbar einige Papiere verstreut.
»Ken läßt nie etwas herumliegen«, sagte Rob. »Deshalb ist er so ein großartiger Taucher. Er hasst es, wenn nicht alles seine Ordnung hat.« Sie schlichen zur Hintertür, wo Rob in die Knie ging und seine Hand unter ein großes Metallfass schob, das auf vier kleinen Holzblöcken ruhte.
»Was suchst du?« fragte Katharine.
»Dasselbe, was Michael und seine Freunde an dem Abend gesucht haben, als sie tauchen gingen: den Schlüssel.« Eine Sekunde später hatte er ihn gefunden, in derselben magnetisierten Metalldose, in der auch Josh ihn vor ein paar Tagen entdeckt hatte. Rob schob den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn herum und öffnete die Tür. Er griff nach innen, suchte nach dem Lichtschalter, fand ihn und schaltete die Beleuchtung ein.
Es dauerte eine Sekunde, bis Rob erkannte, was geschehen war, so sehr hatte ihn das grelle Licht geblendet. Aber dann sah er die Blutlache, in der Ken Richters Kopf lag, und es drehte ihm fast der Magen um. »O Gott«, flüsterte er mit erstickter Stimme.
»Was ist?« fragte Katharine hinter ihm. »Was ist ...« Sie beendete die Frage nicht, als sie einen kurzen Blick auf Ken erhaschte. Einen Augenblick lang schien die Zeit zu gefrieren, während sie die scheußlich zugerichtete Leiche anstarrten. Katharine ergriff Robs Arm. »Das ist Ken, nicht wahr? Ken Richter.«
Rob konnte nichts sagen. Er machte einen Schritt auf seinen toten Freund zu.
Katharine hielt ihn fest. »Nein«, sagte sie. »Fass ihn nicht an. Fass hier gar nichts an, Rob. Wir müssen die Polizei rufen.« Rob bewegte sich nicht, aber er antwortete ihr auch nicht. Katharine fragte sich, ob er sie überhaupt gehört hatte. Als sie ihn erneut ansprechen wollte, fand er seine Stimme wieder.
»Geh zum Wagen und ruf sie über das Handy an. Dann komm zurück.«
»Sollten wir nicht draußen auf die Polizei warten?«
Rob schüttelte den Kopf. »Wenn die Polizei erst einmal hier ist, haben wir keine Möglichkeit mehr, uns umzusehen. Sie werden alles absperren, und ihre erste Frage wird lauten, was wir hier zu suchen hatten.«
»Und wenn wir ihnen einfach die Wahrheit sagen?«
Rob wandte seinen Blick von der grausigen Szene ab, die sich ihm auf dem Boden des Hinterzimmers bot. Er legte Katharine die Hand auf die Schulter und sah ihr in die Augen. »Was sollen wir ihnen denn erzählen, Kath? Die Wahrheit? Glaubst du etwa, die lassen uns so einfach gehen, wenn wir behaupten, dass Takeo Yoshihara in diese Sache verwickelt ist? Glaub mir, sie wären nicht allzu froh, wenn wir einen der reichsten Männer von Maui des Mordes bezichtigten. Genausogut könnten wir einen von den Baldwins oder den Alexanders beschuldigen. Außerdem würde Yoshihara sofort davon erfahren, wenn wir irgendeinen Verdacht gegen ihn äußerten. Wenn er nicht davor zurückgeschreckt ist, Ken Richter umbringen zu lassen, um sein Projekt zu schützen, glaubst du, er hätte dann irgendwelche Skrupel in bezug auf dich, mich oder Michael? Michael wäre innerhalb einer Stunde tot, und ich würde wetten, dass wir noch vor dem Morgen einen tödlichen Unfall hätten. Wir können uns nur dumm stellen und so viel herausfinden wie möglich. Und wir können auf keinen Fall riskieren, von der Polizei verhört zu werden. Ein Fehler, und alles wäre vorbei. Michael hätte dann keine Chance mehr.«
Die warme hawaiianische Abendluft schien mit einemmal kühler geworden zu sein. Katharine wurde klar, dass Rob recht hatte.
Sie ging zum Wagen, nahm Robs Handy und wählte die Nummer der Polizei. Sie gab ihre Nachricht durch und zögerte kurz, als man sie nach ihrem Namen fragte. Als sie die Verbindung unterbrach, zitterte sie am ganzen Körper.
Sie dachte nur noch an Michael - sie musste zurück zu Yoshiharas Anwesen und ihn dort rausholen.
Aber Yoshiharas Sicherheitsbeamte würden nicht zulassen, dass sie Michael einfach aus seinem Gefängnis holte und mitnahm. Und selbst wenn, was hatte sie damit erreicht? Er würde sterben, sobald sie ihn an die frische, saubere Luft brachte.
Einen Augenblick lang verzweifelte sie fast, weil alles so unmöglich schien, aber dann dachte sie an Michael in seinem Plexiglaskäfig, und ihre Frustration und Angst verwandelten sich in kalte Wut.
Noch lebte Michael. Bis jetzt hatte Takeo Yoshihara keine Ahnung, wieviel sie wusste.
Und die Nacht war noch nicht vorbei.
Sie hörte auf zu zittern, und die Kälte wich aus ihrem Körper. Mit dem Telefon in der Hand ging sie in den Laden zurück. Als sie Kens Leiche sah, spürte sie noch den gleichen Schrecken wie eben. Aber ein anderes Gefühl mischte sich in ihre Trauer.
Zorn.
»Was hast du gefunden?« fragte sie Rob.
»Nicht sehr viel«, antwortete er. Er hatte sich im Hinterzimmer des Ladens umgesehen, jedoch nichts berührt und auch den vorderen Teil nicht betreten. »Hier ist eigentlich nur die Tauchausrüstung, die ausgeliehen werden kann.«
»Was ist das?« fragte Katharine und deutete auf eine große weiße Tafel an der Wand, auf der Daten, Uhrzeiten und Namen standen.
»Das sind die Tauchtermine«, sagte Rob und warf zum erstenmal einen genaueren Blick auf die Tafel. »Er hat sie immer ...« Überrascht sah er auf die Termine und hätte fast mit dem Finger auf eines der Felder getippt, zog ihn jedoch rasch zurück. »Du meine Güte! Sieh dir das an!«
Katharine trat neben ihn. »Was denn?«
»Hier!« Er deutete noch einmal auf die Stelle. »Er hatte ein VIP-Tauchen an dem Morgen, nachdem Michael und seine Freunde zum Nachttauchen gefahren waren.«
Katharine sah ihn an. »VIP-Tauchen? Was soll das sein? Mit Filmstars?«
Rob schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das war nur sein persönlicher Code. Ab und zu rief Yoshiharas Büro an und verabredete Tauchtermine für die Kinder von Geschäftspartnern.«
»Ich verstehe noch immer nicht.«
»Yoshihara hat nicht nur die Termine arrangiert«, sagte Rob. »Er hat auch seine eigene Ausrüstung schicken lassen, Flossen, Masken, Mundstücke, alles.«
»Inklusive Sauerstoffflaschen«, flüsterte Katharine. Sie begann zu verstehen.
Rob nickte. »Wenn die Jungen die Flaschen genommen haben, die für die Gruppe vom nächsten Morgen schon hier stand ...«, setzte er an, aber Katharine hatte bereits ihr Notizbuch herausgeholt und schrieb die Namen der Jungen vom Brett ab, die für den Tauchgang eingetragen worden waren, den Ken Richter mit dem Kürzel VIP bezeichnet hatte.
Wenn Michael und seine Freunde nicht gewesen wären, dann wären vier dieser Jungen dem Schicksal, das Takeo Yoshihara für sie geplant hatte, nicht entgangen.
Der fünfte war vielleicht schon tot.
Sie hatte das Notizbuch kaum wieder in ihre Tasche gesteckt, als draußen im Dunkeln die erste Polizeisirene heulte.