»Mrs. Reynolds?« fragte Katharine, als sich eine Frauenstimme am Telefon meldete. Sie saß in Robs Büro und sah durch die Glastür auf die idyllische Szenerie, die sich ihr bot: ein Blumenmeer, das den milden hawaiianischen Morgen mit einem Regenbogen von Farben erfüllte, der in krassem Gegensatz zu der kalten, grauen Furcht stand, die Katharine umfangen hielt, seit sie die Laboratorien auf der unteren Ebene im Südflügel des Forschungspavillons verlassen hatte.
In Robs Büro zurückgekehrt, hatte sie als erstes den genauen Standort des Dorfes auf den Philippinen herausgesucht, aus dem der Schädel stammte. Wie sie gestern vermutet hatte, war er an den Hängen des Pinatobu gefunden worden. Und wenn es sich tatsächlich um den Schädel eines Kindes handelte, hatte dieses sein Leben lang die vulkanischen Dämpfe - also Smog - eingeatmet.
Dann holte sie aus ihrer Tasche den Identifikationszettel hervor, den sie vom Zeh der Leiche genommen hatte. Der Name des Jungen, sauber auf Pappe getippt, lautete Mark Reynolds. Unter dem Geburts- und Todesdatum stand eine Adresse: North Maple Drive, Beverly Hills, Kalifornien. Mitten in Los Angeles - einer der Städte mit der höchsten Luftverschmutzung des Landes. Aber so verschmutzt, dass Mark daran gestorben war? Sie musste es herausfinden. Zuerst rief sie in dem Krankenhaus an, wo Mark Reynolds verstorben war, aber dort teilte man ihr kurz und bündig mit, dass man am Telefon keine Auskünfte gebe. Wenn sie eine schriftliche Anfrage einreichen würde?
Aber sie wollte auf keinen Fall eine schriftliche Anfrage einreichen. Schließlich hatte Katharine fast widerwillig die Nummer gewählt, die auf der Karte stand. Sie rief Mark Reynolds' Mutter an, die als nächste Angehörige aufgelistet war. Zwar brannte sie darauf, eine Antwort auf ihre Fragen zu finden, aber natürlich hatte sie Angst vor diesem Gespräch. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich Mrs. Reynolds. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
»Elaine Carter Reynolds?« fragte Katharine. Dieser Name stand auf der Karte.
»Ja.« Die Stimme der Frau klang so traurig, dass Katharine am liebsten wieder aufgelegt hätte.
Aber das ging nicht. »Sie hatten einen Sohn namens Mark?« fragte sie.
Nach einer Sekunde des Schweigens sagte die Frau nur ein Wort: »Ja.«
Katharine holte tief Atem. »Mrs. Reynolds, meine Name ist Katharine Sundquist. Ich muss mit Ihnen über Mark sprechen. Ich weiß, dass es sehr schwer für Sie ist, aber ich brauche dringend einige Informationen, die Sie mir, wie ich hoffe, geben können.«
Katharine glaubte ein unterdrücktes Schluchzen zu hören, aber dann sprach Elaine Roberts, und ihre Stimme klang relativ gefasst. «Schwerer als das, was ich schon durchgemacht habe, kann es nicht sein«, sagte sie.
»Es gibt wohl nichts Schlimmeres, als ein Kind zu verlieren«, sagte Katharine.
»Ich habe Mark nicht einfach verloren, Mrs. ...«
»Sundquist«, wiederholte Katharine schnell. »Bitte, nennen Sie mich Katharine.«
»Danke«, murmelte Elaine Reynolds. Wieder schwieg sie eine Weile, und Katharine wartete. Sie spürte, dass die Frau etwas loswerden wollte. Schließlich brachte sie es über sich. »Mein Sohn hat Selbstmord begangen, Katharine«, sagte sie. »Mark hat sich umgebracht.«
Die Worte verblüfften Katharine. Selbstmord? »Ich ... es tut mir leid«, stammelte sie. »Ich dachte ...« Mit einemmal wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte.
»Was dachten Sie, Katharine?« fragte Elaine Reynolds, offensichtlich neugierig geworden. Als Katharine schließlich ihre Vermutung äußerte, dass Marks Tod irgend etwas mit der verschmutzten Luft in Los Angeles zu tun habe, lachte Elaine Reynolds bitter auf. »Sicherlich kann man das Ableiten von Autoabgasen als Luftverschmutzung bezeichnen«, sagte sie. Mit schleppender Stimme und vielen Unterbrechungen berichtete Elaine Roberts von dem Selbstmord ihres Sohnes. »Aber sie kamen zu spät«, sagte sie. »Sie gaben ihm Sauerstoff, aber zu spät. Er starb auf der Fahrt ins Krankenhaus.«
Katharine dachte an den jungen Hund, der in ihren Armen gestorben war - ein Hund, der Atemnot bekommen hatte, nachdem sie ihn aus seiner Box voll vergifteter Luft geholt hatte. »Ihr Sohn ist gestorben, als man ihm Sauerstoff gab?« fragte sie nach. Sie betete, dass sie Mrs. Reynolds mißverstanden hatte.
Mit brüchiger Stimme erzählte Elaine von Marks Kampf im Krankenwagen. »Er hat sich gewehrt«, sagte sie. »Ich bin sicher, dass er nicht wusste, was er tat. Er wollte die Sauerstoffmaske nicht. Und ich konnte nichts tun. Können Sie sich vorstellen, wie hilflos ich mich gefühlt habe?« Dann fragte sie: »Katharine, was soll das alles? Sie haben mir noch nicht gesagt, warum Sie mich überhaupt anrufen.«
»Ich rufe aus Hawaii an«, antwortete Katharine. »Ich arbeite für einen Mann, der sich sehr für das Problem der Luftverschmutzung interessiert ...«
»Auf Hawaii?« fragte Elaine. »Ich hätte geglaubt, dass es nirgendwo auf der Welt weniger verschmutzte Luft gibt. Obwohl die Luft auch nicht sehr gut war, als ich über Weihnachten mit Mark zwei Tage auf Maui war.«
Katharine erstarrte. »Maui?« wiederholte sie. Was ging hier vor? War es reiner Zufall, dass Mark vor ein paar Monaten auf Maui gewesen war? »Mrs. Reynolds - Elaine -, was haben Sie auf Maui gemacht?«
»Nur Ferien. Warum?«
»Elaine, ich bin auf Maui, nicht auf der Großen Insel von Hawaii. Und ich habe etwas entdeckt...« Sie zögerte, da sie Elaine Reynolds nicht mehr Schmerz als nötig zufügen wollte. »Etwas sehr Seltsames«, fuhr sie schließlich fort. »Es scheint, dass aus irgendeinem Grund die Lunge Ihres Sohnes untersucht wird.«
»Wie soll das möglich sein?« fragte Elaine. »Ich meine, wie wollen Sie ohne Leiche irgend etwas untersuchen?«
Katharine hatte keine Wahl mehr. Sie musste der Frau die Wahrheit sagen. »Seine Leiche befindet sich hier, Elaine«, sagte sie.
»Ich fürchte, es handelt sich um ein Mißverständnis«, sagte Elaine Reynolds nach einer Weile. »Marks Leichnam wurde eingeäschert.«
Eingeäschert? Was sollte das? Irrte sie sich? Sprach sie womöglich doch mit der falschen Frau? »Mrs. Reynolds«, sagte sie, unwillkürlich zu der formelleren Anrede zurückkehrend. »Darf ich Ihnen den Jungen, den ich heute gesehen habe, beschreiben?«
Nach einer längeren Pause murmelte Elaine Reynolds zustimmend. Katharine beschrieb das Gesicht, das sie in der Leichenhalle gesehen hatte, so nüchtern wie möglich. Als sie das Grübchen im Kinn des Jungen erwähnte, stöhnte die Frau am anderen Ende der Leitung auf.
»Warum?« flüsterte sie. »Warum sollten sie ihn dorthin gebracht haben? Und warum sollten sie mir erzählt haben, seine Leiche sei eingeäschert worden?«
»Ich wünschte, ich wüßte es«, sagte Katharine leise. »Aber ich fürchte, dass ich nicht viel mehr weiß als Sie.« Dann fügte sie hinzu: »Wie war das, als Sie auf Maui waren? Ist damals irgend etwas passiert? Irgend etwas Ungewöhnliches?«
»Nein«, seufzte Elaine. »Es war ein wunderbarer Ausflug. Bis auf das Tauchen, allerdings.«
Katharine spürte ein Frösteln. »Das Tauchen?« fragte sie.
»Mark ist mit ein paar anderen Jungen tauchen gegangen, und sie hatten Probleme mit ihren Sauerstoffflaschen. Einige Jungen mussten ganz schnell auftauchen, und es war wohl ziemlich knapp. Jedenfalls habe ich Mark danach nicht mehr mitgehen lassen. Und ich frage mich noch immer, ob das nicht der Anfang seiner Atemprobleme war.«
Bei dem letzten Satz zog sich der Knoten in Katharines Brust noch heftiger zusammen. An dem Abend, nachdem er tauchen gegangen war, hatte auch Michael Probleme mit der Atmung bekommen, und selbst gestern abend ...
Und dann fiel ihr Kioki ein. Was war mit ihm gewesen? Woran war er gestorben? Und Jeff Kina? War er wieder zu Hause? Oder war ihm das gleiche wie Kioki Santoya zugestoßen? Aber noch während sie darüber nachgrübelte, hörte sie die Stimme ihres Sohnes: Ach, komm schon, Mom. Sie wissen ja noch gar nicht, was mit Kioki passiert ist.
»Elaine?« sagte sie mit zitternder Stimme. »Was ist mit den anderen Jungen, die mit Ihrem Sohn tauchen waren? Kennen Sie die Namen? Oder wissen Sie, woher sie kamen?«
»Ich glaube nicht«, sagte Elaine. »Doch, warten Sie, da war ein Junge aus New Jersey, Shane, mit dem war Mark noch nach dem Tauchen zusammen. Einen Moment.« Es schien Katharine endlos zu dauern, bis Elaine sich wieder meldete. »Mark hatte es auf ein Stück Papier geschrieben und in seine Brieftasche gesteckt. Er heißt Shane Shelby und wohnt in Trenton, New Jersey.« Elaine las ihr Straße und Telefonnummer vor, und Katharine kritzelte sie auf die Rückseite der Karte, die sie von Mark Reynolds' Leiche entfernt hatte. »Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie etwas herausfinden?« fragte Elaine.
»Das werde ich tun«, versprach Katharine. »Bestimmt.«
Kaum hatte sie aufgelegt, wählte sie die Nummer, die Elaine Reynolds ihr gegeben hatte. Nach dem vierten Klingen hörte sie die Stimme eines Mannes.
»Keith Shelby.«
Katharine bemühte sich, ganz ruhig zu bleiben. »Mr. Shelby, mein Name ist Dr. Katharine Sundquist. Sind Sie der Vater eines Jungen namens Shane?«
Mehrere Augenblicke lang schlug ihr Stille aus dem Hörer entgegen, und Katharine befürchtete schon, dass der Mann aufgelegt hatte. Doch dann meldete er sich wieder. »Wer, sagten Sie, spricht dort?« fragte er mißtrauisch.
Katharine stellte sich noch einmal vor. »Ich weiß, es klingt seltsam, Mr. Shelby, aber ich muss wissen, ob es Ihrem Sohn gutgeht.«
Erneut ein langes Schweigen - noch länger als beim erstenmal -, und Katharine ahnte, was Mr. Shelby gleich sagen würde. Schließlich sagte sie es selbst: »Ihm ist etwas zugestoßen, nicht wahr, Mr. Shelby?«
»Er ist tot, Dr. Sundquist«, sagte Keith Shelby tief bedrückt. »Es war seine Lunge. Sie haben nie herausgefunden, was genau es war. Sie tippten auf einen neuen Virus oder so etwas. Ich verstehe nichts von solchen Sachen, aber sie haben mir gesagt, dass diese Viren andauernd mutieren. Wir glauben, dass er sich vielleicht auf dem Rückflug von Maui angesteckt hat. Danach ging es ihm nie mehr richtig gut.«
Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, starrte Katharine wie betäubt aus dem Fenster.
Was um alles in der Welt ging hier vor?
Versteckten sie Shane Shelbys Leiche vielleicht auch irgendwo auf dem Anwesen?
Minutenlang starrte sie ins Leere. Ihre Gedanken verschwammen, zum Teil, weil sie in den letzten beiden Nächten so wenig geschlafen hatte, aber zum Teil auch, weil ihr die seltsamen und erschreckenden Informationen aus den Händen zu gleiten schienen, Teile eines Puzzles, das sie nicht zusammensetzen konnte.
Denk nach! befahl sie sich. Die Antworten sind hier, du musst sie nur finden.
Katharine schob Angst und Müdigkeit beiseite und machte sich an die Arbeit.
Das Handy in Takeo Yoshihara Jackentasche summte leise. Er verließ den Konferenzraum im Hotel Hana Maui, ging auf den Flur und hielt das Telefon ans Ohr. »Ja?« Er hörte eine Weile zu. »Und mit wem hat Dr. Sundquist telefoniert?« fragte er schließlich den Anrufer, der die Besprechung mit seinen Partnern beim Serinus-Projekt unterbrochen hatte.
Wenige Sekunden später in den Konferenzraum zurückgekehrt, dachte Takeo Yoshihara bereits darüber nach, wie er sich auf effizienteste Weise Katharine Sundquists entledigen konnte. Und ihres Sohnes.
Michael fühlte sich schon schlecht, als er am Morgen erwachte. Seine Brust war wie zugeschnürt, und sein ganzer Körper schmerzte. Er sagte seiner Mutter nichts, denn die hätte ihn nur wieder zu Dr. Jameson geschleppt. Ohne ein Wort ging er zum Schulbus, in der Hoffnung, dort Josh Malani zu treffen.
Doch er traf ihn nicht. Schließlich rief er bei ihm zu Hause an. Joshs Vater - er klang, als hätte er den Rausch vom vorigen Abend noch nicht ausgeschlafen - knurrte, dass Josh nicht zu Hause sei. Als Michael ihn fragte, ob er letzte Nacht überhaupt zu Hause gewesen sei, murmelte Sam Malani nur, ihm sei es völlig egal, wo Josh sich herumtreibe, und hängte auf. Während der Tag voranschritt, wuchsen Michaels Sorgen um Josh. Die Schmerzen in seiner Brust nahmen ebenfalls zu.
In der dritten Stunde wurde es so schlimm, dass er sich fragte, ob er nicht doch wieder einen Asthmaanfall bekommen würde. Er konnte kaum noch atmen. Der Versuch, die Beklemmung in der Brust durch Übungen in der Sporthalle zu lösen, half auch nicht.
Mittags versuchte ihn Rick Pieper davon zu überzeugen, dass er zur Krankenschwester gehen solle, aber Michael wusste, was dann passieren würde. Die Krankenschwester würde seine Mutter anrufen, und die würde ihn abholen und zu Dr. Jameson schleppen, der ihn mit Nadeln stechen und ihm in den Hals schauen würde.
Dann würde er sich noch schlechter fühlen als jetzt.
Nach dem Mittagessen schaffte er es kaum noch, die letzten beiden Stunden durchzustehen. Zum Glück waren die Fenster weit geöffnet, und Michael suchte sich einen Platz in der Nähe, um so viel frische Luft wie möglich in seine schmerzende Lunge zu atmen.
Als die Glocke läutete, tat seine Brust immer noch weh, und er fühlte sich schwach und benommen.
Vielleicht sollte er das Lauftraining lieber ausfallen lassen und nach Hause gehen.
Er verwarf den Gedanken jedoch sofort, als er sich an die alten Zeiten erinnerte. Vor zwei Jahren in New York war sein Asthma so schlimm gewesen, dass er sich manchmal ein Taxi genommen hatte, um die fünf Blocks von der Schule zur Wohnung nicht zu Fuß gehen zu müssen. Er hatte hart gearbeitet, um all das zu überwinden, und keine Lust, sich noch einmal von der Krankheit das Leben vermiesen zu lassen. Er wollte die Zähne zusammenbeißen, den Schmerz und die Schwäche ignorieren und sich auf der Bahn freilaufen. Er würde so lange laufen, bis der Schmerz verschwand oder er ihn zumindest nicht mehr spürte.
Während der Klang der Schulglocke verhallte, packte Michael zusammen mit den anderen Schülern seine Bücher ein und schob sich mit ihnen zur Tür hinaus. Als er auf den Gehweg vor dem Gebäude trat, musste er stehenbleiben und Atem holen, bevor er sich überhaupt zutraute, bis zu den Umkleideräumen zu kommen.
Er öffnete die Tür und betrat den Raum. Die Luft war feucht. Hier vermischte sich der Geruch von Schweiß, Seife, Desinfektionsmitteln und einem halben Dutzend anderer Chemikalien. Michael ging zu seinem Schließfach, öffnete es, zog sich aus und streifte seine Sportsachen über, die von seinen Übungen in der vierten Stunde noch feucht waren. Er suchte nach frischen Socken, da er die alten von heute morgen nicht wieder anziehen wollte. Sie rochen ziemlich muffig.
Sofort fühlte er sich etwas besser und lobte sich selbst, dass er der Versuchung widerstanden hatte, das Lauftraining zu schwänzen. Nachdem er sich umgezogen hatte, ging er zur Toilette.
Als er vor dem Urinbecken stand, stieg ihm ein anderer Geruch in die Nase. Instinktiv weitete Michael die Brust und sog ihn tief in seine Lunge. Die Schärfe des Geruchs machte ihn beinahe schwindelig, aber das beklemmende Gefühl in seiner Brust ließ nach, und er fühlte sich etwas weniger erschöpft.
Michael sah sich um und suchte die Quelle dieses Geruchs, aber er sah nur den Wandschrank, in dem Josh gestern die Ammoniakflasche gefunden hatte. Die Tür stand ein wenig auf. Als er fertig war, rückte er seine Hose zurecht und drückte auf den Wasserhebel. Dann ging er zu den Waschbecken neben dem Schrank. Der Geruch wurde stärker. Er trat zum Schrank und machte die Tür weit auf.
Die Putzmittel standen in ihren Regalen, so wie gestern. Es gab fast ein Dutzend Behälter, die alles mögliche enthielten, vom Fensterreiniger bis zum Scheuerpulver, vom Kloreiniger bis hin zu kräftigen Lösungsmitteln, mit denen man praktisch alles von den Schulwänden herunterbekam, ob Tapete, Fliesen oder Beton. Aber noch hatte er nicht herausgefunden, aus welcher Flasche der besondere Geruch strömte, den er in den letzten Minuten eingeatmet hatte.
Schließlich fiel sein Blick auf die Ammoniakflasche, die sich Josh an die Nase gehalten hatte. Ohne nachzudenken, nahm er sie in die Hand, schraubte sie auf und roch daran.
Der Geruch wurde stärker, und eine Hitzewelle lief durch seinen Körper.
Verwundert las Michael die Informationen auf dem Etikett. Der typische ätzende Ammoniakgeruch war nicht wahrzunehmen.
Auf dem Etikett standen nur die üblichen Warnungen vor dem Einatmen der Dämpfe.
Er wollte die Flasche schon wieder zuschrauben und zurückstellen, als er es sich noch einmal überlegte. Erneut hielt er sie an die Nase und roch daran, diesmal kräftiger. Die Wärme strömte durch seinen Körper und verursachte ein angenehmes Kitzeln.
Hatte Josh gestern das gleiche gespürt? Michael sah sich so verstohlen um, als wolle er sich einen Schuß Heroin in die Vene spritzen. Dann atmete er die Dämpfe ein, wieder und wieder. Mit jedem Atemzug spürte er, wie sein Körper an Stärke zurückgewann. Schmerzen und Erschöpfung verflogen. Er nahm ein paar weitere Züge und hielt die Flasche noch in der Hand, als die Tür zur Toilette zuschlug.
»Puh, was stinkt hier so?«
Michael schraubte die Flasche zu und kam aus dem Wandschrank heraus. Der Hausmeister stand vor ihm. »Jemand hat die Ammoniakflasche aufgelassen«, sagte er.
»Muss Joe gewesen sein«, sagte der Hausmeister so bestimmt, dass Michael den Eindruck hatte, als würde dieser Joe - wer immer er war - stets für alles verantwortlich gemacht, was im Bereich des Hausmeisters schiefging. »Junge, wie hältst du es hier nur aus?« Kopfschüttelnd riß der Mann die Türen auf, um den Raum zu lüften. Dann nahm er einige Reiniger aus den Regalen.
»Bis dann«, sagte Michael und ging in den Umkleideraum zurück. Der Hausmeister brummte etwas vor sich hin.
Zehn Minuten später erfüllten die Ammoniakdämpfe Michaels Körper noch immer mit einer Kraft, wie er sie nie zuvor gespürt hatte. Er lief seinen ersten Hundert-Meter-Sprint und überbot seine Bestzeit um fast drei Fünftel und den Schulrekord um achtunddreißig Hundertstel Sekunden.