KAPITEL 12

Sergeant Cal Olani hatte gerade seinen Dienst begonnen, als er den Anruf bekam, aufgrund dessen er zu der Stelle an der Straße fuhr, wo Alice Santoya die Leiche ihres Sohnes gefunden hatte. Er hatte angenommen, dass der Junge überfahren worden war und der Täter anschließend Fahrerflucht begangen hatte. Bereits fünf Minuten, nachdem er am Tatort eingetroffen war, wusste er jedoch, dass es sich um kein derartiges Delikt handelte. Dass es keine Reifenspuren gab, musste nichts bedeuten, denn vielleicht hatte sie der Regen der letzten Nacht weggespült. Aber der Zustand der Leiche ließ nicht auf einen solchen Unfall schließen.

Außer einer Schnittwunde in der rechten Handfläche wies die Leiche keine äußeren Verletzungen auf. Wenn ihn ein Auto so heftig angefahren hätte, dass er an den Folgen gestorben wäre, hätte man etwas sehen müssen.

Olani hatte neben den Notärzten gearbeitet, die versucht hatten, den Jungen wiederzubeleben, auch wenn es von seiner Körpertemperatur her klar war, dass er bereits vor mehreren Stunden gestorben war. Er blieb am Tatort, bis der Fotograf gekommen und wieder gefahren war, und suchte die Stelle nach irgendwelchen Hinweisen ab.

Er hatte versucht, etwas aus Alice Santoya herauszukriegen, aber der Tod ihres einzigen Sohnes hatte der Frau einen solchen Schock versetzt, dass sie nur schluchzte und stammelte.

Nach einer Stunde hatte er seine Arbeit beendet, ohne irgendwelche Hinweise auf ein Verbrechen gefunden zu haben. Aber während er sich für den Rest des Tages um kleinere Gesetzesübertretungen kümmerte, musste er immer wieder an Kioki Santoya denken. In Paia hatte es einen Ehestreit gegeben, den er beendet hatte, indem er seinen Polizeiwagen vor dem Haus geparkt und ein paarmal gehupt hatte, um Lee und Rosie Chin wissen zu lassen, dass er sie beruhigen würde, wenn sie es nicht selbst taten.

Dann hatte es noch einen kleineren Auffahrunfall gegeben. Olani musste den Besitzer eines rostigen 1974er Chevy Impala davon überzeugen, dass er von der Versicherung des Touristen, der angeblich den Unfall verursacht hatte, wohl keinen Cent sehen würde. Das Problem des Chevy-Fahrers bestand darin, dass drei Zeugen gesehen hatten, dass der Tourist hinter dem Chevy an einer roten Ampel gehalten hatte, als der Chevy urplötzlich zurücksetzte. Hätte der Tourist den Fuß nicht auf dem Bremspedal gehabt, wäre er auch noch in den Wagen hinter ihm gekracht.

Nachdem er diese Sache geregelt hatte, war Olani noch eine Weile die Front Street in Lahaina auf- und abgefahren, um etwaige Störenfriede wissen zu lassen, dass er auf der Hut war.

Die ganze Zeit über war ihm Kioki Santoya nicht aus dem Kopf gegangen. Jetzt, da seine Schicht in einer Stunde endete und es bald wieder nach Hause zu Malia und den Zwillingen ging, erlaubte er sich, auf der Rückfahrt ins Büro des Sheriffs kurz im Maui Memorial vorbeizuschauen. Das Krankenhaus lag ganz in der Nähe der Polizeiwache, und er wusste, dass er über den Teenager, der letzte Nacht umgekommen war, nachdenken würde, bis er endlich wusste, was dessen Tod verursacht hatte.

Er stellte seinen Wagen auf dem fast leeren Parkplatz neben dem Krankenhaus ab und trat durch den Eingang der Notaufnahme ein, der versteckt in einer Ecke des L-förmigen Gebäudes lag. Jo-Nell Sims, die diensthabende Schwester, blickte auf. »Zehn Minuten«, sagte sie, als sie ihn erkannte. »Dann habe ich Dienstschluß.« Sie sah ihn mit einer Mischung aus Erschöpfung und Verärgerung an und deutete mit dem Finger auf ihn. »Sag mir bitte nicht, dass du mir jetzt noch jemanden bringst, Cal. Sag es bitte nicht.«

»Ganz ruhig, Jo«, entgegnete Olani. »Draußen ist alles ruhig. Ich bin nur vorbeigekommen, weil ich wissen will, was mit dem Jungen war, den sie heute morgen gebracht haben. Kioki Santoya.«

Der Glanz in Jo-Nells Augen erlosch. »Ist das nicht schrecklich? Mir tut seine Mutter so leid.«

»Sind sie schon mit der Autopsie fertig?« fragte Olani.

Mit einem traurigen Kopfschütteln sah Jo-Nell den Dienstplan durch. »Laura Hatcher hat es gemacht.« Sie telefonierte kurz und deutete dann zu den Türen, die zu den Untersuchungszimmern führten. »Sie kommt gleich. Erste Tür links.«

Fünf Minuten später erschien Laura Hatcher. Sie war nicht viel größer als einen Meter fünfzig, wog bestimmt nicht mehr als sechsundvierzig Kilo und sah wie eine Zwölfjährige aus. Aber Olani hatte oft genug mit ihr zu tun gehabt, um zu wissen, dass sich hinter dieser zierlichen, ja fast kindlichen Fassade eine abgebrühte, ausgezeichnete Pathologin verbarg.

»Und, was ist mit Kioki Santoya?« fragte Olani sofort. »Irgendeine Ahnung, woran er gestorben ist?«

Laura Hatcher schlug ein Clipboard mit Metalldeckel auf und ging ein paar Seiten durch, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. »Nun, ich kann Ihnen sagen, woran er nicht gestorben ist. Äußerliche schwere Verletzungen gab es kaum - nur eine Abschürfung an der linken und eine allerdings ziemlich tiefe Schnittwunde an der rechten Hand.«

»Die habe ich gesehen. Sah aus wie die Art Wunde, die man sich eher durch ein Stück zerbrochenes Glas als durch einen Messerstich zuzieht.«

Laura Hatcher nickte. »Das sehe ich auch so. Und sie war auch nicht so tief, dass er daran verblutet wäre.«

»Was ist mit Alkohol?« fragte der Polizist. »Manche von diesen Kids trinken Mengen ...«

»Daran habe ich auch gleich gedacht. Nichts.«

»Und wie lautet Ihre These? Dass er einfach so gestorben ist? Jungen in seinem Alter kriegen doch keinen Herzanfall, oder?«

»Nun, das kommt auch vor, aber in seinem Fall deutet nichts darauf hin. Das einzige, was nicht ganz normal aussah, war seine Lunge, aber solange ich die Resultate aus dem Labor nicht habe, kann ich auch nicht sagen, ob sein Tod etwas mit seiner Lunge zu tun hatte.« Sie breitete die Arme aus. »Ich wünschte, ich könnte Genaueres sagen, aber bis jetzt weiß ich selbst nicht viel. Ich habe auch an einen Virus gedacht - eines der neuen Biester, die vor kurzem aufgetaucht sind -, aber auch für diese Annahme spricht nichts. Er scheint bis zu seinem Tod völlig gesund gewesen zu sein. Seine Mutter bestätigt das.«

»Also auch in diese Richtung nichts?« Olani seufzte.

Hatcher nickte. »Tut mir leid, mehr weiß ich bis jetzt auch nicht.« Sie warf einen Blick auf ihre Notizen. »Übrigens, sagen Ihnen die Namen Rick Pieper, Josh Malani und Jeff Kina irgendwas?«

»Mit Kina hat es ein- oder zweimal Ärger gegeben. Er ist groß und kräftig und provoziert gerne mal haoles. Und Josh Malani mimt den harten Mann, aber das ist nur Show. Warum?«

»Alice Santoya hat gesagt, dass ihr Sohn gestern abend mit diesen drei Jungs unterwegs war. Er hat auf ihren Anrufbeantworter gesprochen, er ginge mit ihnen ins Kino. Je nach dem, was für Ergebnisse aus dem Labor kommen, wird vielleicht jemand mit ihnen reden wollen.«

Cal Olani schrieb die Namen in sein Notizbuch. Vielleicht würde er einfach mal bei der Schule vorbeischauen und sich mit den drei Jungen unterhalten.

Zehn Minuten, nachdem Olani sein Gespräch mit Laura Hatcher beendet hatte, betrat ein Mann das kleine Zimmer, das dem Krankenhaus als Leichenhalle diente. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass ihn niemand gesehen hatte, verschloß er die Tür und zog das Schubfach mit den sterblichen Überresten Kioki Santoyas heraus. Das war das Schlimmste an seinem Job als Krankenpfleger - mit Toten zu tun zu haben. Der Rest des Jobs hatte Elvis Dinkins nie etwas ausgemacht - ob es nun um das Wechseln der Laken oder das Leeren der Bettpfanne ging.

Auch Kranke machten ihm nichts aus.

Aber Tote ...

Trotz seines Ekels vor der Leiche - oder vielleicht gerade deswegen - konnte Elvis Dinkins seinen Blick nicht von Kioki Santoyas Gesicht abwenden. Die Augen des Jungen waren geöffnet, und seine Züge wirkten aufgedunsen. Der Mund war ebenfalls geöffnet, und Elvis hatte den Eindruck, als sei die Zunge des Jungen angeschwollen. Sein Magen drehte sich fast um, als er sah, dass Dr. Hatcher eine kleine Scheibe abgeschnitten hatte, um sie ins Labor zu schicken.

Während er sich die chirurgischen Handschuhe überstreifte, die er aus dem Waschraum entwendet hatte, fragte sich Elvis, ob er nicht auch ein Stück der Zunge abschneiden sollte. Aber das würde bedeuten, dass er in den Mund des Jungen greifen musste, und er war sich keinesfalls sicher, ob er dazu in der Lage war.

Es würde ihm schon schwer genug fallen, ein Stück Gewebe aus der Wunde zu entnehmen, die Dr. Hatcher geschnitten hatte, als sie den Leichnam des Jungen für die Autopsie öffnete. Elvis schauderte. Ihm wurde oft schlecht, wenn er Blut sah.

So oft, dass er schon daran gedacht hatte, sich nach einem anderen Job umzusehen.

Vielleicht konnte er für Takeo Yoshihara arbeiten. Er hatte gehört, dass niemand auf Maui höhere Löhne zahlte als er.

Das war indirekt auch der Grund, weshalb er jetzt in der Leichenkammer stand.

Ein paar Tage, nachdem er begonnen hatte, im Krankenhaus zu arbeiten, hatte ihn ein Arzt angesprochen, während er gerade ein Zimmer putzte. Elvis Dinkins hatte den Mann bereits gekannt.

Es handelte sich um Stephen Jameson, den Leibarzt von Takeo Yoshihara.

Um jemanden also, dem man zuhörte.

Und deshalb hatte Elvis auch besonders gut zugehört, als ihn Dr. Jameson bat, ihn zu informieren, falls ihm im Krankenhaus etwas Ungewöhnliches auffallen sollte.

Damals hatte Elvis natürlich noch keine Vorstellung davon gehabt, was man in einem Krankenhaus als ungewöhnlich bezeichnen sollte. Er hatte gewartet, Augen und Ohren aufgehalten, aber nichts »Ungewöhnliches« bemerkt. Bis jetzt.

Ein Teenager war gestorben, unter Umständen, die sogar Dr. Hatcher unklar blieben - wenn das nichts Ungewöhnliches war. Er hatte Glück gehabt, dass er sich in der Notaufnahme aufhielt, als Sergeant Olani gekommen war.

Er hatte sich im Flur herumgedrückt, während der Cop mit Hatcher gesprochen hatte, und am Ende der Schicht hinter Jo-Nell seine Karte in die Stempeluhr geschoben. Doch er hatte das Krankenhaus nicht verlassen, sondern gewartet, bis Dr. Hatcher gegangen war, und sich eine Kopie ihres Autopsieberichts ausdrücken lassen. Zuerst hatte er nur daran gedacht, Dr. Jameson den Bericht zukommen zu lassen, aber dann fiel ihm ein, dass Dr. Hatcher erwähnt hatte, die Lunge dieses Kioki habe irgendwie komisch ausgesehen. Daraufhin hatte er sich entschlossen, auch eine Probe von der Lunge zu entnehmen.

Doch jetzt starrte er auf die groben Stiche, mit denen Dr. Hatcher den großen Y-förmigen Schnitt wieder geschlossen hatte, und fragte sich, ob er es wirklich schaffen würde. Seine Hände zitterten schon jetzt, dabei hatte er noch nicht einmal den Faden durchtrennt.

Er umfasste den Griff des Skalpells, das er aus dem OP mitgenommen hatte, wappnete sich, so gut es ging, und beugte sich über die Leiche.

Nacheinander fuhr er durch die Schnitte, bis der Torso der Leiche weit auseinander klaffte.

Nachdenklich betrachtete Elvis Dinkins das Durcheinander der Organe, die nach der Autopsie wieder in den Körper gepackt worden waren. Abermals drehte sich sein Magen um, und er musste sich zusammenreißen, um sich nicht auf der Stelle zu übergeben. Aber als er mit dem Skalpell tief in das Gewebe des linken Lungenflügels schnitt, sagte er sich, dass es auch nichts anderes war, als wenn er die Leber zerschnitt, die seine Mutter mit Zwiebeln in der Pfanne gebraten hatte.

Der Brechreiz ließ etwas nach.

Nach einigen Sekunden hatte er ein Stück Lunge abgeschnitten und gab es in eines der Speziesgläser, die er aus demselben Schrank wie das Skalpell entwendet hatte. Natürlich hatte er keine Ahnung, was Dr. Jameson mit der Probe anfangen würde, aber wichtig war sie bestimmt.

Sehr wichtig.

Und dann ...

Als er sich aus dem Krankenhaus stahl, träumte Elvis Dinkins von der Zukunft. Wenn er einen Job bei Takeo Yoshihara bekam, würde er sich eine neue Wohnung suchen.

Verdammt, wenn er Glück hatte, würde der Inhalt dieses Glases sein ganzes Leben verändern.

Der Gedanke, dass dieser Inhalt ihn auch das Leben kosten könnte, kam Elvis Dinkins nicht.

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