»Er wird lediglich sagen, dass ich völlig gesund bin, und dann stehst du wirklich da wie eine Glucke«, brummte Michael. »Warum setzt du mich nicht einfach an der Schule ab?«
»Falls es dir noch nicht aufgefallen ist«, entgegnete Katharine streng, »wir fahren in die entgegengesetzte Richtung. Und was meine Rolle als Glucke betrifft, scheinen wir einfach unterschiedlicher Meinung zu sein. Vor dem Hintergrund deiner Krankengeschichte sind deine Atembeschwerden von gestern abend meiner Meinung nach genügend Anlaß zur Sorge. Und da auch Dr. Jameson dieser Meinung ist, wäre die Sache damit erledigt.«
Der Streit schwelte seit dem Frühstück. Rob Silver hatte den Rest der Nacht auf dem Sofa der Sundquists zugebracht, am Morgen dann Stephen Jameson angerufen und Katharine den Hörer gereicht. Michael hatte schweigend zugehört, als sie einen Termin mit ihm ausgemacht hatte. Vielleicht hatte ihn gestern jemand auf Yoshiharas Gelände gesehen, und vielleicht würde dieser Jemand ihn heute morgen wiedererkennen. Denn schließlich hatten die Wachtposten irgendwie erfahren, dass er letzte Nacht dort gewesen war. Und dann hatten sie ihn gesucht.
Was wäre, wenn sie Fotos von ihm besaßen?
Es gab Kameras, mit denen man im Dunkeln gut fotografieren konnte, selbst bei weitaus schlechteren Lichtverhältnissen als letzte Nacht.
Aber wenn sie Bilder hätten, wären sie dann nicht zur Polizei gegangen?
Obwohl er alles mögliche versucht hatte, um seiner Mutter den Arztbesuch auszureden, und wusste, dass er sich mittlerweile auf ziemlich dünnem Eis bewegte, versuchte er es ein letztes Mal. »Da vorn hält der Schulbus«, sagte er und deutete auf ein gelbes Schild hundert Meter weiter am Straßenrand. »Du läßt mich einfach raus ...«
»Ich lasse dich nicht raus, und ich bin die Diskussion darüber jetzt langsam leid«, schnitt ihm Katharine das Wort ab.
Sie fuhren an der Haltestelle vorbei, und da Michael wusste, dass mit seiner Mutter jetzt nicht mehr zu reden war, gab er auf und schaltete das Autoradio an. Ein Ansager beendete gerade einen Bericht über die wirtschaftliche Situation der Insel, und Michael wollte eben den Sender wechseln, als eine neue Nachricht verlesen wurde: »Zwei Männer starben letzte Nacht beim Abbrennen eines Zuckerrohrfeldes auf Maui. Ihre Leichen wurden am Morgen in einem Feld am Haleakala Highway entdeckt. Da ihre Familien noch nicht benachrichtigt werden konnten, hat die Polizei ihre Namen noch nicht bekanntgegeben.«
Der Ansager machte eine kurze Pause. »In Makawao ist ein Junge von seiner Mutter als vermißt gemeldet worden. Jeff Kina verließ sein Elternhaus gestern abend gegen neun Uhr. Die Polizei hat bestätigt, dass es sich um einen der drei Jugendlichen handelt, die im Zusammenhang mit dem Tod Kioki Santoyas befragt wurden, dessen Leiche gestern morgen gefunden worden war. Obwohl derzeit nichts auf einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden von Jeff Kina und dem Tod von Kioki Santoya hindeutet, schließt die Polizei eventuelle Verbindungen zwischen den beiden Geschehnissen nicht aus. Jeff Kina ist eins fünfundachtzig groß und wiegt fünfundneunzig Kilo. Wer ihn gesehen hat, sollte sich unverzüglich beim Sheriff's Department in Maui melden. Und nun weitere Nachrichten ...«
Michael hörte nicht mehr zu.
Was ging hier vor? Jeff wurde vermißt? Er warf seiner Mutter einen Blick zu. Sollte er ihr erzählen, dass er sowohl Jeff als auch Kioki kannte und mit beiden vorgestern zusammengewesen war?
Aber dann musste er ihr alles erzählen. Und wenn sie erfuhr, dass sie nicht nur tauchen, sondern auch in ein Geschäft eingebrochen waren ...
Na ja, Josh hatte ja schließlich gewusst, wo die Schlüssel lagen. Ein Einbruch war es sicher nicht. Aber so gut wie.
Er grübelte immer noch darüber nach, ob und was er seiner Mutter erzählen sollte, als sich vor ihnen das Tor zu Takeo Yoshiharas Anwesen öffnete. Michael hatte allerdings nicht bemerkt, dass seine Mutter irgendeinen Knopf oder sonst etwas betätigt hatte. »Wo ist denn die Fernbedienung?« fragte er mit einem unguten Gefühl im Magen.
»Es gibt keine«, antwortete Katharine. »Am Wagen ist so ein elektronisches Ding angebracht, das von dem Tor wahrgenommen wird.«
»Echt?« flüsterte Michael. Er suchte die Umgebung nach den Kameras ab. Es musste welche geben. »Weiß es auch, wer da jeweils kommt?« fragte er so beiläufig wie möglich. »Oder haben sie Kameras?«
Katharine sah ihn aus den Augenwinkeln an. »Ich glaube kaum, dass sie hier Kameras brauchen«, sagte sie. Aber als sie die Lobby des Gebäudes betraten, in dem sie gestern mit Rob Silver gewesen war, schaute auch sie - fast gegen ihren Willen - in die Ecken, in denen Überwachungskameras hängen konnten.
Und tatsächlich waren dort welche angebracht.
Nun, warum auch nicht, sagte sie sich, wenn man bedachte, was für eine wertvolle Kunstsammlung das Haus beherbergte. Ein halbes Dutzend Skulpturen waren in der Halle aufgestellt, an den Wänden standen Glasvitrinen mit unbezahlbaren Artefakten, und wenn sie sich nicht irrte, handelte es sich bei dem Gemälde hinter dem Schreibtisch, an dem ein Wachmann saß, um einen Vlaminck. Der Wachmann - derselbe, der auch gestern Dienst gehabt hatte, als sie mit Rob den Computer benutzt hatte - sah auf und lächelte, als er sie erkannte.
»Guten Morgen, Dr. Sundquist. Dr. Jameson ist bereits in seinem Büro.« Er deutete in die entgegengesetzte Richtung von Rob Silvers Büro. »Die dritte Tür rechts.«
In Dr. Jamesons Empfangszimmer saß eine ausgesprochen schöne, etwa dreißigjährige Eurasierin. »Ich bin Jade Quinn«, sagte sie, erhob sich und begrüßte Katharine, als diese das riesige Büro betrat. »Steve Jamesons Sekretärin und Mädchen für alles.« Sie lächelte Michael an. »Du musst Michael sein. Sehr krank siehst du allerdings nicht aus.«
»Da hörst du's«, sagte er zu Katharine. »Ich hab's dir ja gesagt. Können wir jetzt gehen? Wenn wir uns beeilen, komm ich noch rechtzeitig zur zweiten Stunde.«
»Das hast du dir so gedacht«, entgegnete Katharine. »Ist Dr. Jameson schon da?«
»Er ist im Gebäude und müsste jeden Augenblick hier eintreffen«, sagte Jade und lächelte entschuldigend. Sie geleitete sie zu einer Tür, die ins Büro führte. »Machen Sie es sich gemütlich. Dr. Jameson kommt sofort.«
Katharine und Michael betraten einen Raum, der keineswegs aussah wie Arztpraxis, eher wie ein gemütliches Wohnzimmer. Die drei Innenwände waren mit Koa-Akazie getäfelt, während die verglaste Außenwand den Blick auf den eleganten Zen-Garten freigab. Die Kieswege waren perfekt geharkt, und die auf den ersten Blick ganz natürlich wirkenden Steine waren auf subtilste Weise zu abstrakten Mustern arrangiert, die das Auge sowohl fesselten als auch beruhigten. Gerade als sich Katharine und Michael auf ein weich gepolstertes Ledersofa setzen wollten, öffnete sich die Tür zur Rezeption, und Stephen Jameson trat ein.
»Dr. Sundquist«, sagte er und schüttelte herzlich Ka-tharines Hand. »Schön, Sie kennenzulernen. Verzeihen Sie die Verspätung - ich musste unten im Labor schnell noch etwas erledigen. Und du bist Michael.« Er reichte Michael die Hand. »Stephen Jameson.«
»Hi«, sagte Michael und gab dem Arzt die Hand. »Also, es tut mir echt leid, dass Mom Sie angerufen hat...«
»Das wollen wir doch besser meinem Urteil überlassen, ob sie mich hätte anrufen sollen oder nicht«, unterbrach ihn Jameson. Er nickte mit dem Kopf zu einer Tür hin, die in eine von Bücherregalen bedeckte Wand eingelassen war. »Geh doch schon mal da rein und zieh dein Hemd aus. Dann schaue ich dich mal an.« Als Michael gegangen war, bat er Katharine, in einem der beiden Sessel vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Er ließ eine Plastikkarte in die oberste Schublade eines Schranks gleiten und setzte sich dann an seinen Schreibtisch. »Erzählen Sie mir doch einfach mal, was gestern nacht passiert ist.«
Katharine erzählte die Geschichte so knapp wie möglich, und Dr. Jameson machte sich ein paar Notizen. Dann verschwand er in dem anderen Zimmer. Als er nach einer halben Stunde die Untersuchung beendet hatte, kam er zurück und setzte sich wieder in seinen Sessel. Er wartete, bis Michael, der sich noch das Hemd zuknöpfte, aus dem Untersuchungsraum kam und sich neben seine Mutter setzte. Jameson zwinkerte ihm zu und wandte sich dann an Katharine.
»Also, ich habe so viel geklopft, gehorcht und hineingeschaut, wie ich nur konnte, und ich habe praktisch jeden Zentimeter seiner Lunge abgehört. Jade hat ein paar Röntgenaufnahmen gemacht, die gleich fertig sein müssten. Mit den Blut- und Urinproben dauert es natürlich noch etwas, aber wenn sich nichts Unerwartetes ergibt, sehe ich keinen Grund zur Sorge.«
»Aber gestern ...«
»Gestern nacht hatte er einen Alptraum, und Menschen, die schlecht träumen, machen oft die seltsamsten Geräusche«, fiel Jameson ihr ins Wort. Die Tür des Untersuchungszimmers öffnete sich, und Jade kam mit einem großen Röntgenbild herein, das sie an eine Lichtbox an der Wand heftete. »Warum schauen wir uns das nicht mal gemeinsam an?« schlug der Arzt vor.
Soweit Katharine sehen konnte, unterschieden sich die Aufnahmen von Michaels Lunge nicht von denen, die zuletzt in New York gemacht worden waren. »Wenn man seine Asthmageschichte bedenkt, ist sie in bemerkenswert gutem Zustand«, sagte Jameson. »Und auch sein Lungenvolumen gibt keinerlei Anlaß zur Sorge, auch wenn es noch etwas größer sein könnte. Alles in allem ist sein Gesundheitszustand sehr gut.«
Katharine atmete erleichtert auf.
»Kann ich dann jetzt zur Schule?« fragte Michael.
»Ich habe nichts dagegen.«
»Und meine Mutter kann aufhören, sich jeden zweiten Tag um mich Sorgen zu machen?«
Jameson lächelte. »Ich bin nur der Arzt«, sagte er. »Es gibt Dinge, auf die ich keinen Einfluss habe.«
Katharine erhob sich. »Vielleicht habe ich letzte Nacht einfach überreagiert«, sagte sie und reichte dem Arzt die Hand. »Ich danke Ihnen aber vielmals, Dr. Jameson.«
Jameson breitete die Arme aus. »Freut mich, wenn ich Ihnen helfen konnte. Und rufen Sie mich jederzeit an, wenn irgend etwas ist.« Er brachte sie zur Tür seines Büros, verabschiedete sie freundlich, ging wieder zu seinem Schreibtisch und nahm den Telefonhörer in die Hand.
»Ich habe den Jungen untersucht«, sagte er, als sich jemand am anderen Ende der Leitung meldete. »Wie es aussieht, ist auch er auf irgendeine Weise mit dem Projekt in Berührung gekommen.«
»Wie ist das möglich?« fragte Takeo Yoshihara ungehalten.
»Da ich nicht für die Sicherheit zuständig bin, kann ich diese Frage leider nicht beantworten«, entgegnete Jameson. »Jedenfalls scheint es passiert zu sein.«
Takeo Yoshihara schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Bis auf weiteres unternehmen wir nichts. Wir beobachten ihn wie die anderen. Wir stehen viel zu dicht vor einem Erfolg, um irgendwelche Risiken einzugehen. Aber wenn es nötig wird«, schloß er, »müssen wir ihn uns vom Hals schaffen.«