KAPITEL 20

Als Josh Malani mit seinem Pick-up vom Schulparkplatz brauste, hatte er keine Ahnung, wohin er fahren sollte. Er wusste nur eins - er musste fort.

Das angenehme Kribbeln, das er im Körper gespürt hatte, als er das Ammoniak eingeatmet hatte, ließ bereits nach, aber damit auch die Wut, die in ihm hochgekocht war, als Michael ihm die Flasche weggenommen hatte.

Was, zum Teufel, war nur in ihn gefahren, Michael so anzubrüllen? Michael war sein bester Freund!

Michael hatte ihm das Leben gerettet.

Michael hatte nur versucht, ihm zu helfen.

Und was hatte er getan? Er war durchgedreht und abgehauen.

Toll!

Und was jetzt?

Nach Hause konnte er nicht - auf keinen Fall vor fünf Uhr. Dann kam seine Mom von der Arbeit, und er musste nicht mit seinem Vater allein sein.

Vielleicht würde er einfach ein paar Stunden am Strand verbringen. Nach dem Schwimmen fühlte er sich immer besser, und dann würde er kurz vor Schulschluß zurückfahren und Mike suchen.

Er würde sich entschuldigen, und dann würden sie gemeinsam überlegen, was sie wegen Jeff unternehmen sollten. Vielleicht hatte Mike recht - vielleicht sollten sie der Polizei wirklich sagen, wo sie in der Nacht von Kiokis Tod gewesen waren.

Als Josh durch die Talsohle zwischen Haleakala und den Bergen von West-Maui fuhr, meldete sich der seltsame Schmerz in seiner Brust wieder, und als er auf der Windseite, wo sich während der Woche kaum jemand aufhielt, einen Parkplatz suchte, schüttelte ihn ein weiterer Hustenanfall. Atemlos und voller Angst trat er auf das Gaspedal. Er musste zum Strand, wo er die Luft des Passatwindes vom Ozean atmen konnte. Husten und Atemnot quälten ihn so sehr, dass er den Wagen, der ihm in gleichmäßigem Abstand folgte, überhaupt nicht bemerkte.

Das Ammoniak, dachte Josh, Michael hatte recht. Seine Brust tat höllisch weh, und wie sehr er sich auch bemühte, er bekam einfach nicht richtig Luft. Als er den Pick-up in einer Parkbucht hinter dem Strand zum Stehen gebracht hatte, hielt er das Lenkrad mit beiden Händen fest umklammert. Ein brennender Schmerz rollte durch seinen Körper. Er versuchte ruhig zu bleiben.

Seine Knöchel waren von der Anstrengung weiß geworden, und als er hinaus auf die See sah, konnte er kaum den Horizont erkennen.

Alles schien vor seinen Augen zu verschwimmen, und der Himmel verdüsterte sich, obwohl eben noch keine Wolke am Himmel zu sehen gewesen war.

Raus.

Er musste raus aus dem Wagen und zum Strand. Wenn er es bis zum Strand schaffte, würde er wieder atmen können. Er würde sich hinlegen und abwarten, bis dieser seltsame Anfall vorüber war. Bald würde es ihm wieder besser gehen. Er tastete nach dem Türgriff, fand ihn und stieg schwankend aus dem Wagen. Doch als er den Boden berührte, gaben seine Beine nach, und er stürzte der Länge nach in den Staub.

Er keuchte und rang um Atem, obwohl es schien, als würde seine Lunge bei jedem Atemholen mit einer Fackel versengt.

Musste er sterben?

Bestimmt.

Die Dunkelheit nahm zu und umschloß ihn, die Schmerzen wurden immer schlimmer, bis er überhaupt nicht mehr atmen konnte.

Er streckte die Arme aus, um sich an irgend etwas - egal, an was - festzuhalten, als könne er so das schreckliche Gefühl ersticken zu müssen besiegen.

Er versuchte zu schreien, um Hilfe zu rufen, brachte jedoch nur ein heiseres Stöhnen hervor.

Und als die Dunkelheit ihn ganz umgeben hatte und die letzten Kräfte ihn verließen, spürte er plötzlich etwas anderes.

Ihm war, als würde er hochgehoben.

Hochgehoben und davongetragen.

Während seine gequälte Lunge immer noch um Atem rang, ergab sich Josh der Dunkelheit.

»Mein Jeff ist ein guter Junge«, wiederholte Uilani Kina. »Mein Jeff würde nicht einfach so weglaufen. Ihm muss irgend etwas zugestoßen sein.«

Cal Olani nickte verständnisvoll, aber die Geste war nicht ganz aufrichtig. In seinen fünfzehn Dienstjahren als Polizist hatte er gelernt, dass es nicht eine Mutter gab, deren Sohn kein »guter Junge« war, egal, was er getan hatte oder wie schwer die Beweise wogen.

»Mein Sohn ist ein guter Junge«, sagte Mrs. Kina noch einmal.

Er musste allerdings zugeben, dass in dem ordentlichen Haushalt, den Uilani Kina führte, nichts darauf hindeutete, dass ihr Sohn auf die schiefe Bahn geraten war. Das Haus lag in einer Seitenstraße oberhalb von Makawao, umgeben von einem gepflegten Garten. Der Rasen war gemäht, und in einer Abzäunung neben dem Haus pickten ein paar Hühner in der Erde herum. Mr. Kina besaß in Makawao einen kleinen Laden für Gartengeräte, in dem Jeff nach der Schule arbeitete, wenn er nicht für das Laufteam trainierte. Abgesehen von ein, zwei Zwischenfällen, bei denen er ein paar haoles Prügel angedroht hatte - ohne seine Drohungen je wahrgemacht zu haben -, hatte es nie Ärger mit Jeff gegeben. Aber er war in dem Alter, in dem Jungen gerne zeigen, dass sie keine Kinder mehr sind, und Cal hätte Uilani Kina recht überzeugend versichert, dass ihr Sohn sicher bald auftauchen würde, wenn man gestern nicht Kioki Santoyas Leiche gefunden hätte. Er konnte das Verschwinden des Jungen also keinesfalls auf die leichte Schulter nehmen. »Ich werde heute nachmittag eine offizielle Suchanzeige aufgeben«, versprach er, wobei er wusste, dass sich die Nachricht von Jeffs Verschwinden schon längst über die ganze Insel verbreitet hatte. Er klappte sein Notizbuch zu und steckte es in die Innentasche seiner Uniformjacke. »Versuchen Sie ganz ruhig zu bleiben, Mrs. Kina«, sagte er freundlich.

»Wenn das mit Kioki nicht passiert wäre ...« Uilani konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Sie war zierlich, und ihre weichen Züge wurden von glattem schwarzem Haar umrahmt. Traurig schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß nicht, wie Alice es verkraftet. Er war ihr ein und alles, und jetzt ...« Sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten. »Was haben die Jungen in jener Nacht getan?« Sie schaute Cal Olani fragend an. »Ist irgend etwas geschehen? Sind sie in eine Prügelei geraten? Hatte jemand etwas gegen sie?« Erneut schüttelte sie den Kopf. »Aber wer könnte etwas gegen so nette Jungen haben?« Ihr Tonfall veränderte sich, und Cal Olani merkte, dass sie mehr mit sich selbst als mit ihm sprach. »Auch Josh Malani. Was kann man bei solchen Eltern schon erwarten. Er tut mir so leid...« Ihre Stimme erstarb, aber ihre dunkelbraunen Augen sahen den Polizisten noch immer an. »Finden Sie ihn«, bat sie. »Bitte finden Sie ihn für mich.«

Als Olani ein paar Minuten später in seinem Wagen saß, musste er an die Frage denken, die ihm die von Sorge um ihren Sohn gequälte Frau gestellt hatte: Ist irgend etwas geschehen?

Ihm fielen die Gesichter der Jungen ein, mit denen er gestern nachmittag in der Schule gesprochen hatte, ihre Blicke, die vor jeder Antwort zu Josh gewandert waren, als suchten sie seine Hilfe oder seine Erlaubnis, bevor sie etwas sagten.

Und der Neue - Cal hatte ihn gestern zum erstenmal gesehen - hatte seine Frage eigentlich gar nicht beantwortet, sondern nur gleichgültig mit den Schultern gezuckt. Er sah auf seine Uhr. Kurz vor Schulschluß. Vielleicht sollte er sich die drei noch einmal vorknöpfen. Aber kaum hatte er den Entschluß gefasst, als sich die Zentrale über Funk meldete.

»Wagen fünf«, sagte er ins Mikrofon.

»Ich habe hier eine Meldung über einen führerlosen Wagen«, sagte sein Kollege. »Am Strand bei Sprecklesville. Bist du in der Nähe?«

»Oberhalb von Makawao«, antwortete Olani und teilte mit, dass er gerade zur Schule fahren wollte.

»Dann wird dich diese Meldung um so mehr interessieren«, sagte der Polizist in der Zentrale. »Wir haben das Nummernschild überprüft. Es handelt sich um einen '82er Chevy-Pick-up, registriert auf den Namen Josh Malani.«

Olani spürte ein dumpfes Unbehagen. »Wie lange steht er schon da?« fragte er.

»Nicht sehr lange. Die Frau, die uns informiert hat, sagt, dass er am Morgen noch nicht dort gestanden habe.«

»Warum wird der Wagen dann als führerlos gemeldet?« fragte Olani. Warum sollte man die Polizei benachrichtigen, wenn ein Wagen irgendwo ein paar Stunden auf einem Parkplatz stand? Nach ein, zwei Tagen vielleicht ... Die Stimme des Kollegen unterbrach seine Gedanken.

»Der Schlüssel steckt im Zündschloß, und seine Brieftasche liegt auf dem Vordersitz.«

Das Unbehagen, das Olani verspürt hatte, verdichtete sich zu einer dunklen Vorahnung. »Zehn-vier«, sagte er. »Ich bin schon unterwegs.«

»Sie haben ja ganz schön lange gebraucht.« Die dicke Frau mit dem Sonnenbrand trug einen wild gemusterten Muumuu in einem besonders hässlichen Lavendelton. Sie machte keinerlei Anstalten, ihr Mißfallen zu verbergen, als Olani eine halbe Stunde nach der Meldung der Zentrale aus seinem Wagen stieg.

»Myrtle, bitte«, versuchte ihr Gatte sie zu besänftigen. Er trug ein zum Muumuu seiner Frau passendes Hemd und hatte einen noch stärkeren Sonnenbrand. »Vergiß nicht, das hier ist Maui, nicht Cleveland.« Er streckte seine Hand aus. »Ich bin Fred Hooper, und das ist meine Frau Myrtle. Wir wohnen in einem Ferienapartment einen Kilometer von hier.« Er deutete vage in die Richtung von Sprecklesville. »Ich habe gesagt, Myrtle, belästige die Polizei nicht mit so etwas, aber ...«

»Kein Mensch steigt aus seinem Wagen und läßt den Schlüssel im Zündschloß stecken und die Brieftasche auf dem Vordersitz liegen, wo jeder vorbeikommen und es stehlen könnte«, schnitt Myrtle ihm das Wort ab und brachte ihn mit einer schnellen Handbewegung zum Verstummen. »Zumindest nicht in Cleveland, und ich glaube, so anders ist es hier auch nicht.« Cal Olani ging zu Joshs Truck, die beiden Hoopers im Schlepptau. Myrtle redete immer noch. »Irgendwas stimmt hier nicht. Ich weiß, Fred hält mich für überkandidelt, aber eine Mutter weiß solche Dinge.« Sie standen vor dem Pick-up. Olani sah Myrtle stirnrunzelnd an, und sie schürzte verlegen die Lippen. »Natürlich haben wir einen Blick in die Brieftasche geworfen. Wir dachten, wir würden vielleicht eine Telefonnummer oder so etwas finden.« Sie seufzte. »Gerade mal siebzehn. Es ist zu traurig.«

»Bitte, Myrtle, wir wissen doch gar nicht, was passiert ist«, begann Fred, aber erneut schnitt ihm Myrtle mit einer Geste das Wort ab.

»Natürlich wissen wir, was passiert ist«, sagte sie. »Es kommt immer häufiger unter Teenagern vor. Selbstmord. Ich habe im Time Magazine einen Artikel darüber gelesen.« Sie sah Olani an. »Seine Kleider liegen am Strand«, sagte sie. »Zumindest nehme ich an, dass es seine Kleider sind. Sonst ist niemand in der Nähe. Und die Brieftasche haben wir genau so wieder auf den Vordersitz gelegt, wie wir sie gefunden haben«, fügte sie hinzu, als der Polizist durch das offene Fenster in den Truck sah.

Eine abgewetzte Brieftasche lag auf dem Fahrersitz, und der Schlüssel steckte, wie die Frau gesagt hatte. Olani nahm die Brieftasche und sah sich den Führerschein an.

Josh Malani.

Ansonsten enthielt die Brieftasche ein paar Dollarnoten, einen Schülerausweis, ein paar zerknitterte Fotos und ein paar Zettel mit den Namen von Mädchen und Telefonnummern.

Cal Olani ging an den Strand und gelangte zu dem Kleiderhaufen, den Myrtle beschrieben hatte. Verwaschene Jeans, ein T-Shirt, Jockey-Shorts, Socken und Schuhe.

Die Jeans lagen unten, darüber das T-Shirt und die Unterwäsche und zuoberst die Schuhe und die umgedrehten Socken.

Sehr ordentlich!

Fast penibel.

Und das sah Josh Malani nach dem, was der Polizist von ihm wusste, keineswegs ähnlich.

Es sei denn, er hätte etwas damit sagen wollen.

Schweigend ging Olani zum Pick-up zurück. Hinter dem Fahrersitz lag ein nicht ganz trockenes Handtuch, das um eine ebenfalls noch nicht ganz trockene Badehose gewickelt war.

Hätte er die Sachen nicht mitgenommen, wenn er vorgehabt hätte, schwimmen zu gehen?

Aber wenn er, wie Myrtle Hooper angedeutet hatte, ins Wasser gehen und nicht mehr herauskommen wollte, dann hätte er in der Tat auch das Handtuch nicht gebraucht.

Er durchsuchte den Pick-up, um vielleicht so etwas wie einen Abschiedsbrief zu finden, auch wenn er nicht daran glaubte. Josh war immer ein bißchen zu spontan, zu wild gewesen, um nun einen Abschiedsbrief zu hinterlassen. Und eigentlich war er auch nicht der Junge, der Selbstmord beging, selbst wenn alles danach aussah.

Er ging zum Strand zurück, wo Myrtle Hooper mit selbstzufriedener Miene auf ihn wartete. Cal Olani fand es abstoßend, dass sie offensichtlich mehr daran interessiert war, ihre Vermutung bestätigt zu finden, als daran, was tatsächlich mit dem Siebzehnjährigen geschehen war.

»Da sind Fußspuren«, sagte Fred. »Wir haben darauf geachtet, sie nicht zu zertreten.«

Olani betrachtete den Boden. Von dem Kleiderhaufen führte eine einzelne Fußspur bis zum Wasser, wo sie von der heute sanften Brandung weggewaschen worden war. Er hielt sich die Hand über die Augen und schaute auf den in der Sonne glitzernden Ozean hinaus, auf der Suche nach irgendeinem Zeichen. Aber er sah nichts, keinen Schwimmer, keinen Josh. Nicht, dass er damit gerechnet hätte. Wie es aussah, war Josh tot.

»Es ist heute hart für die Kids«, sagte Fred Hooper, der mit Olani auf das Meer hinaussah. »Anders als damals, als wir jung waren. Wir brauchten uns um nichts Sorgen zu machen. Wir wuchsen heran, gründeten eine Familie, gingen in den Ruhestand und machen Ferien an schönen Orten wie diesem hier. Aber was haben die Kids von heute denn? Drogen, Gangs, und sie schießen auf einen, wenn man nur einfach die Straße entlang geht.« Er schwieg einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Ich wünschte, wir wären ein bißchen früher hierher gekommen. Vielleicht hätte es schon geholfen, wenn er jemanden zum Reden gehabt hätte.«

Cal Olani legte dem Mann eine Hand auf die Schulter. »Vielleicht«, sagte er. Aber während er die Stelle am Strand absperrte, damit die Neugierigen, die sein Polizeiwagen bereits angelockt hatte, die Spuren nicht zertrampelten, bevor seine Kollegen kamen, fragte er sich, ob Reden wirklich geholfen hätte.

Noch gestern hatten Josh Malani und seine Freunde so getan, als gäbe es nicht das Geringste zu reden.

Heute war Kioki Santoya tot, Jeff Kina wurde vermißt, und Josh Malani hatte sich allem Anschein nach ertränkt.

Was, zum Teufel, ging hier vor?

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