Kapitel 7 WAIPAKA-ARBORETUM

28. OKTOBER, 15:00 UHR

Das Taxi entfernte sich immer weiter vom Ozean und kletterte bald steil die Berge hinauf. Die Straße war von ausladenden Akazien gesäumt.

»Das hier auf beiden Seiten ist die Universität«, erklärte der Fahrer. Er zeigte auf gesichtslose Gebäude, die wie eine langweilige Wohnanlage aussahen. Peter sah keine Studenten.

»Man sieht überhaupt niemand.«

»Das sind Wohnheime. Die Studenten sind jetzt in ihren Seminaren und Vorlesungen.«

Sie passierten ein Baseballfeld und erreichten eine Wohnsiedlung mit kleinen Bungalows. Dahinter wurden die Häuser immer seltener und die Bäume immer höher. Sie fuhren jetzt direkt auf eine grüne, stark bewaldete Bergkette zu, die bis zu einer Höhe von sechshundert Metern aufstieg.

»Das ist der Ko’olau Pali«, erklärte der Fahrer.

»Gibt’s da oben keine Häuser?«

»Nein, dort kann man nichts bauen, alles nur nacktes, bröckeliges Vulkangestein. Nicht mal klettern kann man da. Wie Sie gesehen haben, beginnt gleich hinter der Stadt die Wildnis. Auf der mauka-Seite gibt es viel zu viel Regen. Liegt an den Bergen. Niemand lebt hier hinten.«

»Und was ist mit diesem Arboretum?«

»Ein knapper Kilometer noch, dann sind wir da«, sagte der Fahrer. Die Fahrbahn war jetzt nur noch einspurig. Unter den hoch aufragenden, dicht stehenden Bäumen hatte man das Gefühl, die Dämmerung sei bereits angebrochen. »Hierher kommt auch kaum jemand. Die Leute gehen zu Foster oder einem der anderen schönen Arboreten. Sind Sie sicher, dass Sie hierher wollen?«

»Ja.«

Die Straße wurde jetzt noch enger und stieg im Zickzack einen steilen, von Regenwald bedeckten Abhang hinauf.

Hinter ihnen tauchte plötzlich ein anderes Auto auf, hupte und preschte an ihnen vorbei. Die Leute in dem Wagen winkten und schrien ihnen etwas zu. Verblüfft wurde Peter gewahr, dass sämtliche Forschungsstudenten aus seinem Labor dicht gedrängt in diesem Fahrzeug saßen. Ein sündteures mitternachtsblaues Bentley-Cabrio. Der Taxifahrer murmelte etwas von verrückten Hummern vor sich hin.

»Hummer?«, fragte Peter erstaunt.

»So nennen wir die Touristen. Wegen dem Sonnenbrand.«

Die Straße endete an einem massiven, neuen, stählernen Sicherheitstor, das jetzt allerdings offen stand. Dahinter begann sofort ein Tunnel. Ein Schild warnte alle nicht autorisierten Personen davor, das Gelände zu betreten.

Der Fahrer hielt sein Taxi direkt vor dem Eingang und dem Tunnel an. »Der Platz hier oben hat sich in letzter Zeit sehr verändert. Warum wollen Sie überhaupt hierher?«

»Ist geschäftlich«, antwortete Peter. Als er den Tunnel betrachtete, überkam ihn ein ungutes Gefühl. Mit dem Stahltor davor wirkte er wie der sprichwörtliche Tunnel ohne Wiederkehr. Peter fragte sich, ob er die Leute draußen oder drinnen halten sollte.

Der Fahrer seufzte, nahm seine Sonnenbrille ab und fuhr in den Tunnel hinein. Es war eine enge, einspurige Röhre, die man durch die Bergschulter gegraben hatte. Am anderen Ende lag ein dicht bewaldetes Sacktal, das von den Hängen und Felsen des Ko’olau Pali eingefasst war. Von den nebelverhüllten Bergen stürzten Wasserfälle herab. Die Straße führte ein Stück nach unten, bis sie eine Lichtung erreichten, die von einem großen kastenförmigen Gebäude mit einem Glasdach dominiert wurde. Vor diesem Bau lag ein kleiner, verschlammter Parkplatz. Vin Drake und Alyson Bender standen neben einem roten BMW-Sportwagen und warteten bereits auf sie. Beide trugen Wanderkleidung und Stiefel. Die Studenten zwängten sich aus dem Bentley. Ihre Ausgelassenheit legte sich, als Peter aus dem Taxi stieg.

»Es tut mir so leid, Peter …«

»Schlimm, das mit deinem Bruder …«

»Ja, wirklich schlimm …«

»Irgendwelche Neuigkeiten?« Erika küsste ihn auf die Wange und fasste ihn am Arm. »Es tut mir so leid.«

»Die Polizei untersucht den Fall immer noch.«

Vin Drake schüttelte ihm mit festem Griff die Hand. »Ich muss Ihnen ja nicht erzählen, dass dies eine schreckliche, schreckliche Tragödie ist. Sollte es sich als wahr herausstellen, und ich bete zu Gott, dass es das nicht tut, wäre das für uns alle ein schrecklicher persönlicher Verlust. Ganz zu schweigen von dem entsetzlichen Rückschlag für unsere Firma, die Eric so viel zu verdanken hat. Es tut mir wirklich von Herzen leid, Peter.«

»Danke«, entgegnete Peter.

»Gut, dass die Polizei die ganze Sache untersucht.«

»Ja«, sagte Peter.

»Sie hat noch nicht aufgegeben und alle Hoffnung verloren …«

»Ganz im Gegenteil«, sagte Peter. »Sie scheint sich wieder für Erics Boot zu interessieren. Und für ein verlorengegangenes Handy, das irgendwie im Motorraum zu Bruch gegangen sein könnte. Ich habe nicht so genau verfolgt, was die da alles erzählt haben.«

»Ein Handy im Motorraum?« Vin runzelte die Stirn. »Ich frage mich, was das –«

»Wie gesagt, ich habe das alles nicht so genau verfolgt«, sagte Peter. »Ich weiß nicht, warum die glauben, dass da irgendwo ein Handy sein könnte. Vielleicht hat mein Bruder seines dort verloren … Ich weiß es nicht. Sie werden auch die Telefonverbindungen überprüfen.«

»Die Telefonverbindungen. Ach so. Gut, gut. Sie lassen nichts unversucht.«

War Vin plötzlich blass geworden? Peter war sich nicht sicher.

Alyson leckte sich nervös die Lippen. »Konntest du etwas schlafen, Peter?«

»Ja, danke. Ich habe eine Tablette genommen.«

»Oh, schön.«

»Also gut.« Vin Drake rieb sich die Hände und wandte sich den anderen zu. »Auf jeden Fall heiße ich Sie alle im Manoa-Tal willkommen. Ich glaube, wir sollten jetzt anfangen. Versammeln Sie sich bitte um mich, und ich gebe Ihnen die ersten Informationen über die Arbeitsweise von Nanigen.«

Drake führte sie vom Parkplatz aus direkt in den Wald. Sie kamen an einem niedrigen Schuppen vorbei, in dem etliche Erdbewegungsmaschinen standen. Drake meinte dazu: »Solche Maschinen haben Sie bestimmt noch nicht gesehen. Sehen Sie nur, wie klein sie sind.« Für Peter sahen sie wie kleine Golfwägelchen aus, die man mit einer Miniaturbaggerschaufel ausgerüstet hatte. Außerdem waren alle mit einer Antenne ausgestattet. »Diese Bagger«, fuhr Drake fort, »wurden eigens für uns von einer Abteilung der deutschen Siemens AG hergestellt. Die Maschinen sind imstande, millimetergenau Erdreich abzutragen. Dieses wird dann in flachen Kisten gelagert, die sie dort im hinteren Bereich des Schuppens sehen. Diese Kisten haben eine Fläche von dreißig Quadratzentimetern und sind entweder drei oder sechs Zentimeter tief.«

»Und wozu die Antenne?«

»Wie Sie sehen, hängt diese direkt über der Schaufel. Die Antenne ermöglicht es uns, präzise festzulegen, wo gegraben werden soll, und in unseren Datenbanken zu speichern, woher genau die jeweilige Bodenprobe stammt. Das wird Ihnen im weiteren Verlauf dieses Tages noch klarer werden. In der Zwischenzeit lassen Sie uns die Gegend hier näher anschauen.«

Sie betraten den eigentlichen Wald. Die Erde unter ihren Füßen wurde uneben. Der schmale Pfad schlängelte sich zwischen riesigen Bäumen hindurch. Deren massive Stämme waren von breitblättrigen Schlingpflanzen überzogen. Der Boden war mit bis zu kniehohen Pflanzen und Sträuchern bedeckt. Die Tausende von Grünabstufungen machten einen überwältigenden Eindruck. Das durch die Kronen der Bäume hindurchsickernde Licht war in einem fahlen Gelbgrün gefärbt.

»Das sieht vielleicht wie ein natürlicher Regenwald aus …«, begann Drake.

»Tut es nicht«, unterbrach ihn Hutter, »und ist es auch nicht.«

»Das stimmt. Das ist kein unberührter Wald. Das Gebiet wurde seit den 1920er-Jahren kultiviert, als es eine Versuchsanlage der Oahu-Farmer war. Später nutzte es die Universität für ökologische Studien. In den letzten Jahren hat sich jedoch niemand mehr um dieses Land gekümmert, und es ist zu einem natürlicheren Status zurückgekehrt. Wir nennen dieses Gebiet hier die ›Farnschlucht‹.« Er drehte sich um und ging weiter den Pfad entlang. Die Studenten folgten ihm, hielten aber immer wieder an, um einzelne Dinge zu betrachten oder eine Pflanze oder Blume genau zu untersuchen.

»Von jetzt an werden Sie eine wahre Fülle von Farnen bemerken«, erklärte Drake mit begeisterter Stimme. »Im Moment sehen Sie hier in der Umgebung vor allem die großen Baumfarne Cibotium und Sadleria, weiter unten die kleineren Blechnum, Lycopodium, und dort oben« – er deutete mit einer weit ausladenden Handbewegung auf die Berge – »natürlich die Uluhe-Farne, die in fast ganz Hawaii die Berghänge überziehen.«

»Sie haben den Uluhe-Farn direkt vor Ihren Füßen ausgelassen«, unterbrach ihn Rick Hutter. »Er heißt Dicranopteris linearis, auch bekannt als Falscher Geweihfarn.«

»So heißt er wohl«, sagte Vin Drake etwas gereizt. Es fiel ihm offensichtlich schwer, seinen Ärger zu verbergen. Er machte eine kurze Pause und ließ sich dann auf ein Knie nieder. »Hier direkt neben dem Pfad, das sind Pi’kia-Farne. Die größeren sind die Maka’oa-Farne, auf denen gerne Spinnen leben. Ihnen werden die vielen Spinnen hier bestimmt noch auffallen. Insgesamt gibt es allein in diesem kleinen Gebiet etwa dreiundzwanzig Arten.« Er machte kurz auf einer Lichtung halt, von der aus man die Berge sehen konnte, die das Tal umgaben. Er deutete auf einen Gipfel, der aus der Bergkette herausragte. »Das ist der Tantalus, ein erloschener Vulkan, der auf dieses Tal hinabschaut. Auch im Tantalus-Krater haben wir bereits Forschungen durchgeführt.«

Alyson Bender gesellte sich zu Peter Jansen. »Hat die Polizei sich heute schon bei dir gemeldet?«, fragte sie ihn.

»Nein«, antwortete er. »Warum?«

»Ich habe mich nur gefragt, woher du weißt, dass sie das Boot untersuchen wollen … und die Telefonaufzeichnungen.«

»Oh.« In Wahrheit hatte er das frei erfunden. »Also, das kam in den Nachrichten.«

»Tatsächlich? Davon habe ich nichts mitbekommen. Auf welchem Sender?«

»Ich kann mich nicht erinnern. Ich glaube, Kanal Fünf.«

Jetzt kam Rick Hutter auf ihn zu und sagte: »Das tut mir echt, echt leid, Peter.«

Jenny Linn schloss zu Vin Drake auf und sagte: »Ich verstehe Ihr Forschungsprogramm nicht, was Sie zum Beispiel in diesem Wald eigentlich tun.«

Drake lächelte sie an und sagte: »Das kommt daher, dass ich es Ihnen bisher nicht erklärt habe. Einfach ausgedrückt, planen wir, Muster aus einem Querschnitt des hawaiianischen Ökosystems zu sammeln, vom Tantalus-Krater bis hinunter ins Manoa-Tal, wo wir gerade stehen.«

»Welche Art von Proben wollen Sie denn sammeln?«, sagte Rick Hutter und stemmte die Hände in die Hüften. Er trug das übliche Rick-Outfit, Jeans und ein Outdoor-Shirt mit hochgerollten Ärmeln, das inzwischen bereits schweißgetränkt war. Er sah aus, als befinde er sich auf einer Dschungelexpedition. Dazu zeigte er jetzt seine gewohnte kampflustige Miene mit hervorgerecktem Kinn und eng zusammengezogenen Augen.

Drake lächelte und antwortete: »Im Wesentlichen werden wir Proben von jeder Art von Lebewesen in diesem Ökosystem sammeln.«

»Und wozu?«, hakte Rick nach. Er schaute Vin Drake herausfordernd an.

Der erwiderte den Blick. Er war eiskalt. Dann lächelte Drake. »Ein Regenwald ist der größte natürliche Vorratsspeicher aktiver chemischer Verbindungen. Wir stehen gerade inmitten einer Goldmine voller potenzieller neuer Arzneimittel. Heilmittel, die unzählige menschliche Leben retten könnten. Medikamente, die unzählige Milliarden Dollar wert sind. Dieser Wald, Mr., äh –«

»Hutter«, ergänzte Rick.

»Dieser üppige Wald, Mr. Hutter, enthält den Schlüssel zu Gesundheit und Wohlbefinden jedes Menschen auf diesem Planeten. Und trotzdem ist dieser Wald noch beinahe unerforscht. Wir haben keine Ahnung, welche chemischen Verbindungen es hier tatsächlich gibt, in den Pflanzen, den Tieren und den mikroskopisch kleinen Lebensformen. Dieser Wald ist eine Terra incognita, ein völlig unbekanntes Terrain. Er ist so riesig, so voller Reichtümer und so unerforscht, wie es die Neue Welt für Christoph Kolumbus war. Unser Ziel, Mr. Hutter, ist ganz einfach. Unser Ziel ist die Entdeckung von Medikamenten. Wir suchen nach neuen Arzneimitteln in einem Maßstab, wie er so bisher unvorstellbar war. Wir haben damit begonnen, diesen ganzen Wald vom Tantalus bis zum Grund dieses Tals nach bioaktiven Verbindungen abzusuchen. Der Ertrag dieser Forschungsarbeit wird gewaltig sein.«

»›Der Ertrag‹«, wiederholte Rick. »›Goldmine‹, ›Neue Welt‹. Sie reden also über einen Goldrausch, nicht wahr, Mr. Drake? Hier geht’s nur ums Geld.«

»So einfach sollten Sie es sich nicht machen«, entgegnete Drake. »Zuallererst geht es in der Medizin um die Rettung von Leben. Es geht darum, Leiden zu beenden und jedem Menschen zur Verwirklichung seines ganz persönlichen Potenzials zu verhelfen.« Er wandte jetzt seine Aufmerksamkeit wieder den anderen zu. Beim Weitergehen versuchte er, sich möglichst weit von Rick Hutter entfernt zu halten, der ihm offensichtlich schrecklich auf die Nerven ging.

Rick, der noch einen Moment mit verschränkten Armen stehen blieb, flüsterte Karen King zu: »Der Typ ist ein moderner spanischer Konquistador. Er plündert dieses Ökosystem aus und macht es zu Gold.«

Karen warf ihm einen zwischen Verachtung und Hohn schwankenden Blick zu. »Und was machst du mit deinen natürlichen Extrakten, Rick? Du kochst doch auch Baumrinden aus, um neue Arzneimittel zu finden. Wo ist da der Unterschied?«

»Der Unterschied sind die riesigen Geldsummen, um die es hier geht. Und du weißt ja, wo das Geld in alldem steckt, oder? In den Patenten. Nanigen wird sich Tausende von Verbindungen, die sie hier finden, patentieren lassen. Danach werden riesige Pharmafirmen diese Patente ausbeuten und damit Milliarden verdienen –«

»Du bist nur neidisch, weil du keine Patente besitzt.« Karen wandte sich von Rick ab, der sie bitterböse anschaute.

Dann rief er ihr nach: »Ich betreibe keine Wissenschaft, um reich zu werden. Offenbar im Gegensatz zu dir …« Er merkte, dass sie ihn demonstrativ ignorierte.

Danny Minot hatte Mühe, mit der Gruppe Schritt zu halten. Aus unerfindlichen Gründen hatte er sein Tweedjackett nach Hawaii mitgenommen und es sogar für diese Tour angezogen. Wahre Schweißbäche rannen ihm jetzt den Rücken hinunter und tränkten sein Button-down-Hemd. Außerdem hatte er sich ausgerechnet dafür entschieden, teure Herrenslipper anzuziehen, auf denen er jetzt über den feuchten Urwaldpfad rutschte. Er wischte sein Gesicht ständig mit seinem Einstecktuch ab und tat so, als ob ihn sein Unglück überhaupt nicht berührte. »Mr. Drake«, sagte er jetzt, »wenn Sie sich etwas in den poststrukturalistischen Theorien auskennen sollten – äh – werden Sie wohl wissen – uff! – iii! – dass wir tatsächlich über diesen Wald überhaupt nichts wissen können … Denn, sehen Sie, wir selbst schaffen ja erst die Bedeutungen, Mr. Drake, wo es doch tatsächlich in der Natur weder Sinn noch Bedeutung gibt …«

Drake schien dieses Argument nicht sehr zu beeindrucken. »Nach meinem Naturverständnis, Mr. Minot, müssen wir die Bedeutung der Natur überhaupt nicht kennen, um sie ausbeuten zu können.«

»Ja, aber …«, gab Danny von sich.

In der Zwischenzeit ließ sich Alyson Bender etwas zurückfallen, sodass Peter schließlich neben Rick herging. Rick nickte in Richtung Vin Drake. »Fasst man diesen Typen? Er ist offensichtlich Mr. Biopiraterie persönlich.«

»Ich habe Ihre Bemerkung gehört, Mr. Hutter«, sagte Drake und drehte urplötzlich den Kopf herum. »Und ich muss Ihnen sagen, dass Sie völlig falschliegen. Biopiraterie bedeutet ja, dass man sich einheimische Pflanzen aneignet, ohne deren Ursprungsland dafür zu entschädigen, wie es sich gehören würde. Dieses Konzept ist zwar für die schlecht informierten Gutmenschen ausgesprochen attraktiv, weist jedoch eine Reihe von praktischen Problemen auf. Nehmen wir das Beispiel Curare, ein wertvolles Heilmittel, das heute in der modernen Medizin verwendet wird. Sicher sollte man jemanden dafür entschädigen, oder nicht? Es gibt jedoch Dutzende von Rezepten für Curare, die von vielen Stammesgruppen in ganz Mittel- und Südamerika, einem riesigen Gebiet, entwickelt wurden. Diese Curare-Sorten unterscheiden sich, was die Inhaltsstoffe und die Kochzeit angeht. Es kommt darauf an, was man damit töten möchte, und es gibt lokale Präferenzen. Wie wollen Sie also diese eingeborenen Medizinmänner entschädigen? War die Arbeit der brasilianischen Schamanen wertvoller als die der Schamanen in Panama oder Kolumbien? Spielt es eine Rolle, dass die Bäume, die man in Kolumbien zur Herstellung benutzt, aus ihrer Heimat Panama eingewandert sind – oder bewusst dorthin verpflanzt wurden? Und was ist mit der eigentlichen Formel? Ist die Hinzufügung von Brechnuss wichtig oder nicht? Wie steht es mit der Hinzufügung von rostigen Nägeln? Gibt es irgendwelche Überlegungen, was die Gemeinfreiheit dieses Stoffes angeht? Nach unserem Recht dürfen Pharmaunternehmen ein Arzneimittel zwanzig Jahre lang ausbeuten, dann erlischt ihre Lizenz, und es wird gemeinfrei. Einige behaupten, bereits Sir Walter Raleigh habe im Jahr 1596 Curare nach Europa gebracht. Ganz gewiss war es im 18. Jahrhundert weithin bekannt. Burroughs Wellcome verkaufte in den 1880er-Jahren Curare-Tabletten für medizinische Zwecke. Also sollte Curare auf jeden Fall inzwischen gemeinfrei sein. Schließlich benutzen moderne Anästhesisten das Curare aus natürlichen Pflanzen überhaupt nicht mehr. Sie ziehen inzwischen synthetisches Curare vor. Sie sehen also, wie vertrackt dieses Problem tatsächlich ist.«

»Typische Ausflüchte der Großindustrie«, sagte Rick.

»Mr. Hutter scheint seine Rolle als Advocatus Diaboli zu genießen«, sagte Drake. »Das macht mir nichts aus. Es hilft mir sogar, an meinen Argumenten zu feilen. In Wahrheit ist die Verwendung natürlicher Verbindungen für medizinische Zwecke eine seit Urzeiten gebräuchliche Sache. Die Entdeckungen jeder Kultur sind wertvoll, und alle Kulturen kupfern voneinander ab. Manchmal, aber bei Weitem nicht immer, wird mit diesen Entdeckungen Handel getrieben. Sollten wir etwa für den Steigbügel den Mongolen eine Lizenzgebühr bezahlen, da sie diesen ja erfunden haben? Sollten wir die Chinesen für die Entwicklung der Seidenproduktion entlohnen? Und was ist mit dem Opium? Sollten wir die Nachfahren der jungsteinzeitlichen Bauern aufspüren, die vor zehntausend Jahren im fruchtbaren Halbmond als Erste Feldfrüchte angebaut haben, um ihnen dann etwas zu bezahlen? Und wie ist es mit den mittelalterlichen Briten, die lernten, wie man Eisen verhüttet?«

»Gehen wir weiter!«, sagte Erika Moll. »Wir haben verstanden, worauf Sie hinauswollen, auch wenn das bei Rick nicht der Fall zu sein scheint.«

»Eigentlich will ich darauf hinaus, dass der Vorwurf irgendeiner Biopiraterie von Pflanzen für Hawaii ganz bestimmt nicht zutrifft, da es hier streng genommen gar keine einheimischen Pflanzen gibt. Dies sind ja Vulkaninseln mitten im Pazifik, die als öde, heiße Lavaflächen aus dem Meer aufgestiegen sind. Alles, was heute darauf wächst, kam von irgendwo anders her und wurde von Vögeln, dem Wind, Meeresströmungen oder den Kanus polynesischer Krieger hierhergebracht. Nichts, was hier wächst, ist hier entstanden, wenngleich einige Arten inzwischen endemisch sind. Tastsächlich war diese Rechtslage ein Grund, warum wir unser Unternehmen in Hawaii angesiedelt haben.«

»Also um die Gesetze zu umgehen«, murmelte Rick.

»Um die Gesetze zu beachten!«, widersprach Drake. »Das ist ja gerade der Punkt.«

Sie kamen jetzt in ein Gebiet voller brusthoher grüner Blätter. Drake erklärte: »Wir nennen diesen Teil den ›Ingwer-Weg‹. Es gibt hier Weißen, Gelben und Kahili-Ingwer. Letzterer ist der mit den dreißig Zentimeter langen roten Stängeln. Dazwischen stehen hauptsächlich Sandelholzbäume mit ihren typischen tiefroten Blüten. Es gibt hier allerdings auch Waschnussbäume und einige Portiabäume mit ihren großen dunkelgrünen Blättern.«

Die Studenten drehten sich langsam um die eigene Achse, um in alle Richtungen sehen zu können.

»Ich nehme an, dass Sie alle damit vertraut sind, aber im Falle, dass dies nicht so sein sollte, möchte ich Sie auf diese Pflanze hier aufmerksam machen. Diese spitzigen, gestreiften Blätter sind Oleander. Sie sind giftig und können einen Menschen töten. Ein hiesiger Mann starb, als er Fleischstücke an einem Oleanderstock über einem Feuer grillte. Kinder essen manchmal die Früchte und sterben. Dieser sehr große Baum dort links ist ein Strychninbaum, der ursprünglich aus Indien stammt. Alle Teile sind tödlich, vor allem die Samen.

Dieser hohe Strauch mit den sternartigen Blättern ist ein Ricinus communis oder Wunderbaum. Seine Samen, die sogenannten Castorbohnen, sind ebenfalls tödlich giftig. In sehr geringen Dosen könnte der darin enthaltene Stoff, das Rizin, vielleicht sogar gewisse medizinische Eigenschaften haben. Ich nehme an, Sie wissen das, Mr. Hutter?«

»Natürlich«, sagte Rick. »Castorbohnenextrakte können die Gedächtnisleistung verbessern. Außerdem haben sie antibiotische Eigenschaften.«

An einer Gabelung wählte Drake den leicht abschüssigen rechten Pfad. »Das hier ist unsere ›Bromelien-Allee‹«, erklärte er. »Zu dieser Pflanzenfamilie gehören etwa achtzig Gattungen und etwa dreitausend Arten, wozu unter anderem die Ananas gehört, wie Sie sicher wissen. In den Bromeliengewächsen findet sich immer ein reichhaltiges Insektenleben. Die Bäume in der Umgebung sind hauptsächlich Eukalyptus und Akazien. Weiter unter wachsen dann die typischeren Regenwaldbäume wie der Ohia-Baum und die Koa-Akazie, wie Sie an den gebogenen Blättern sehen können, die dort überall herumliegen.«

»Und warum zeigen Sie uns das alles?«, fragte Jenny Linn.

Amar Singh schloss sich dem an. »Genau. Ich interessiere mich für Ihre Technik, Mr. Drake. Wie können Sie von so vielen Lebewesen Proben sammeln? Vor allem wenn man bedenkt, dass fast alle Lebewesen sehr klein sind, wie etwa Bakterien, Würmer, Insekten und so weiter. Ich meine, wie viele Bioproben sammeln und bearbeiten Sie pro Stunde? Pro Tag?«

»Unser Labor schickt jeden Tag einen Lastwagen in diesen Regenwald«, erklärte Drake. »Der holt hier die normierten flachen Kisten mit den Bodenproben, eine Auswahl an Pflanzen oder was auch immer unsere Wissenschaftler angefordert haben ab. Sie können also damit rechnen, dass man Ihnen jeden Tag frisches Forschungsmaterial bringt und Sie auch sonst sofort mit allem versorgt werden, was Sie benötigen.«

»Sie kommen jeden Tag hierher?«, fragte Rick noch einmal nach.

»Genau, etwa um vierzehn Uhr, wir haben sie gerade verpasst.«

Jenny Linn ging in die Hocke. »Was ist denn das?« Sie deutete auf den Boden. Es schien ein kleines Zelt zu sein, etwa von der Größe ihrer Handfläche, das einen kleinen Betonkasten überspannte. »Ich habe ein Stück weiter oben schon einmal so eins gesehen.«

»Stimmt«, bestätigte Drake. »Ausgezeichnete Beobachtung, Ms. Linn. Diese Zelte sind auf unserem Gelände überall im Regenwald verstreut. Es handelt sich um Versorgungsstationen. Ich erkläre Ihnen das später genauer. Also, wenn Sie so weit sind, sollten Sie allmählich erfahren, was genau es mit Nanigen auf sich hat.«

Sie machten sich auf den Rückweg zum Parkplatz. Dabei kamen sie an einem kleinen bräunlichen Teich vorbei, über den sich Palmwedel neigten und dessen Ufer kleine Bromelien säumten. »Das ist der Pau-Hana-Teich«, erklärte Drake. »Pau Hana bedeutet ›Die Arbeit ist getan‹.«

»Seltsamer Name für einen Ententeich«, sagte Danny. »Darum handelt es sich nämlich. Ich habe vorhin hier drei oder vier Entenfamilien gesehen.«

»Und sehen Sie auch, was sich hier gerade abspielt?«

Danny schüttelte den Kopf. »Wird mich das aufregen?«

»Das kommt darauf an. Schauen Sie zu diesem Palmwedel dort hinüber, der da, etwa einen Meter über der Wasseroberfläche.«

Die ganze Gruppe hielt an und blickte angestrengt über den Teich. Karen King bemerkte ihn als Erste. »Ein Graureiher«, wisperte sie. Sie nickte in Richtung eines aschgrauen, etwa einen Meter großen Vogels mit einem spitz zulaufenden Kopf und schwarzen Augenstreifen. Er sah zerzaust aus und machte einen trägen Eindruck. Er war völlig regungslos. In den Schatten, die die Palmwedel warfen, war er kaum zu erkennen.

»Er kann stundenlang so dastehen, ohne sich zu rühren«, sagte Karen.

Sie schauten ihm einige Minuten lang zu und wollten bereits wieder gehen, als plötzlich eine Entenfamilie auftauchte. Vor allem die Küken hielten sich dicht am Ufer und versuchten, möglichst unterhalb der überhängenden Wassergräser zu bleiben. Das sollte jedoch nichts nützen.

In einer einzigen schnellen Bewegung verließ der Reiher seinen Hochsitz, stürzte auf die Entchen hinunter und kehrte sofort danach auf seinen Ausguck zurück, wobei ihm winzige Entenfüße aus dem Schnabel hingen.

»Iii!«, rief Danny.

»Jach.« Das war Jenny.

Der Reiher warf den Kopf zurück, schaute genau nach oben und würgte auf einen Schlag den Rest des Entleins hinunter. Dann senkte er den Kopf und saß wieder regungslos im Schatten da. Das Ganze hatte nur ein paar Sekunden gedauert. Es fiel schwer zu glauben, dass es überhaupt passiert war.

»Das war richtig ekelhaft«, sagte Danny.

»Das ist der Lauf der Welt«, sagte Drake. »Sie haben bestimmt gemerkt, dass es in unserem Arboretum keinen Überschuss an Enten gibt, und jetzt wissen Sie, warum. Ah! Wenn ich mich nicht irre, stehen da unsere Autos und warten darauf, uns in die Zivilisation zurückzubringen.«

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