Kapitel 52 MOLOKAI

18. NOVEMBER, 9:00 UHR

Der Regen war über Westmolokai hinweggezogen, und der Passatwind wurde immer stärker, rüttelte an den Palmen am Strand und wehte Brandungsspritzer aufs Ufer. Ein Stück vom Wasser entfernt flatterte eine Gruppe von aus Leinwand und Bambus errichteten Zelten heftig im Wind. Der Dixie-Maru-Campingplatz hatte schon bessere Zeiten erlebt.

Aber er war für ein karges Studentenbudget erschwinglich.

Karen King saß auf einem Feldbett und streckte sich. Der Wind hob einen Musselinvorhang im Zeltfenster empor und offenbarte einen herrlichen Ausblick auf den Strand, die Palmen und eine riesige blaue Wasserfläche. Ganz nah am Ufer brach eine weiße Explosion aus dem Meer hervor.

Karen packte Rick an der Schulter und schüttelte ihn. »Ein Wal, Rick!«

Rick rollte sich herum und öffnete die Augen. »Wo?«, fragte er verschlafen.

»Du bist nicht interessiert.«

»Doch, bin ich. Ich bin nur noch schläfrig.« Er setzte sich auf und schaute aus dem Fenster.

Karen bewunderte die Muskeln auf seinem Rücken und seinen Schultern. Im Labor in Cambridge wäre sie nie auf die Idee gekommen, dass unter diesen miesen Flanellhemden, die Rick so gerne trug, ein ansehnlicher Körper stecken könnte.

»Ich sehe nichts«, sagte er.

»Dann warte eben. Vielleicht kommt er noch mal.«

Sie beobachteten schweigend das Meer. In der Ferne waren jenseits des Molokai Channel am Horizont die diesigen Umrisse des Ko’olau Pali von Oahu zu sehen, dessen Bergspitzen von wolkigen Wattebäuschen umhüllt waren. Es regnete auf dem Pali. Rick legte die Hand um Karens Taille. Sie legte ihre Hand auf die seine und drückte sie.

Ohne Vorwarnung passierte es dann wieder. Zuerst der Kopf und dann der restliche Körper eines Buckelwals brachen plötzlich aus dem Ozean hervor, der Wal schoss hoch, drehte sich in der Luft und klatschte mit einer unglaublichen, bombengleichen Wucht auf das Wasser.

Danach schauten sie noch eine Weile auf das Meer hinaus, aber es blieb ruhig. Vielleicht war der Wal abgetaucht oder weitergeschwommen.

Rick brach das Schweigen. »Ich habe einen Anruf von diesem Polizisten bekommen. Lieutenant Watanabe.«

»Was? Das hast du mir gar nicht erzählt.«

»Er sagt, wir dürften Hawaii jetzt wieder verlassen.«

Karen schnaubte. »Sie vertuschen alles.«

»Ja. Und wir müssen in das langweilige, alte Cambridge zurück –«

»Schließ nicht von dir auf andere«, sagte Karen und drehte sich ihm zu. »Ich gehe nicht nach Cambridge zurück. Nicht jetzt.«

»Warum?«

»Weil ich einen Weg zurück … dorthin finden werde.«

»Du meinst die Mikrowelt?«

Sie lächelte nur.

»Aber Karen, das ist unmöglich. Da gibt es keinen Weg – und selbst wenn, wärst du verrückt, wenn du es versuchst.« Er schaute auf seine Arme. Die Blutergüsse waren immer noch nicht vollständig verschwunden. »Die Mikrowelt tötet Menschen wie die Fliegen.«

»Klar – jede neue Welt ist gefährlich. Aber denke doch an all die Entdeckungen …« Sie seufzte. »Rick, ich bin Wissenschaftlerin. Ich muss dorthin gehen. Tatsächlich kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, nicht mehr in diese Mikrowelt zu kommen. Die Technik existiert – und du weißt so gut wie ich, wie das mit der Technik ist. Wenn eine Sache einmal erfunden ist, wird sie nie mehr zurückerfunden.«

»Das gilt aber auch für die üblen Sachen«, warf Rick ein.

»Genau. Die Killerroboter und die Mikrodrohnen werden nicht mehr verschwinden. Menschen werden auf schreckliche neue Arten sterben. Entsetzliche Kriege werden mit dieser Technik geführt werden. Die Welt wird nie mehr die gleiche sein.«

Ein Windstoß schüttelte das Zelt, und das Zelttuch schlug gegen ihre Campingtaschen in der Ecke.

»Und was ist mit uns?«, fragte Rick, nachdem der Wind wieder abgeflaut war.

»Uns?«

»Ja. Dich und mich. Ich meine …« Er versuchte, sie zurück aufs Bett zu ziehen.

Aber Karen war in Gedanken versunken. Vor ihrem geistigen Auge tauchte die Aussicht von ihrem Biwakplatz in den Tantalus-Felsen auf: ein nebelverhülltes, grünes Tal, silberhelle Wasserfälle … ein verlorenes Tal, noch völlig unerforscht und von einem menschlichen Auge noch nie wahrhaft gesehen. »Es muss einen –«, begann sie.

Etwas hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt. Ein Stück funkelndes Metall flog aus einer ihrer Campingtaschen heraus. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, die Erinnerung an Roboter, die durch die Luft wirbelten wie Insekten …

Was immer es war, es flog aus dem Fenster hinaus. Es war so klein, dass es durch die Löcher des Fliegengitters hindurchpasste. Da war nichts, dachte sie.

Sie wandte sich Rick zu. »Es muss einen Weg zurück geben.«


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