Kapitel 40 ROURKES FESTUNG

31. OKTOBER, 19:00 UHR

Ben Rourke legte noch ein paar Lichtnussstücke auf das Feuer und schwenkte dann einen Metallkessel darüber. Der hing am Haken einer im Boden verankerten drehbaren Eisenstange; Metallteile, die sich Rourke in der verlassenen Tantalus-Basis besorgt hatte. Das Wasser, das in ein paar Teelöffel gepasst hätte, begann fast augenblicklich zu kochen. Rourke trug etwas davon in einem Eimer zu einer hölzernen Badewanne hinüber, die in einer Wandnische stand. Aus einem Wassertank, der durch die Schwerkraft immer neu aufgefüllt wurde, holte er dann etwas kaltes Wasser und schüttete es in die Wanne.

Als Erster setzte sich Rick in das heiße Bad. Er fühlte, wie sich seine Muskeln entspannten. Das Gift war immer noch in seinem Körper. Er fühlte sich steif an, seine Gliedmaßen folgten oft seinen Befehlen nicht, und manchmal wurde ihm noch schwindlig. Rourke besaß sogar ein Stück einfache, aber weiche Seife nach quasi mittelalterlichem Rezept. Rourke hatte sie aus Asche und Insektenfett hergestellt. Rick genoss es, seinen Körper endlich säubern zu können, nachdem er drei Tage im Dreck herumgekrochen war. Aber er konnte auch die dunklen Schatten nicht übersehen, die sich über seine Arme und Schenkel ausgebreitet hatten. Er versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, dass es nur Prellungen waren, die er sich bei seiner Begegnung mit dieser Wespe eingehandelt hatte. Er fühlte sich etwas eigenartig, aber das war bestimmt das Gift.

Danny weigerte sich zu baden. Er hatte Angst, das Wasser könnte irgendwie die Larven stimulieren. Er saß auf seinem Stuhl, nippte immer wieder an Rourkes Whiskeyflasche und starrte ins Feuer.

Karen dagegen aalte sich in der Wanne voll heißem Wasser. Es fühlte sich so unglaublich gut an, endlich wieder sauber zu werden. Danach hüllte sie sich in eine Art Bademantel, den ihr Rourke geliehen hatte, wusch ihre Kleider und hängte sie zum Trocknen auf. Schließlich setzte sie sich erfrischt ans Feuer. Rick trug ein Paar von Rourkes Hosen und ein Arbeitshemd. Vielleicht etwas grob genäht, aber bequem und sauber.

In der Zwischenzeit kochte Rourke für seine Gäste das Abendessen. Er brachte einen Topf Wasser zum Kochen und warf geräuchertes Insektenfleisch, geschnitzeltes Wurzelgemüse, etwas Blattgemüse und Salz hinein. Der Eintopf war nach kurzer Zeit fertig und füllte die ganze Halle mit einem appetitanregenden Duft. Rourkes Insekten-Gemüse-Eintopf schmeckte ausgezeichnet und gab ihnen Kraft. Sie machten es sich auf Rourkes seltsamen Stühlen bequem und hörten ihm zu.

Ben Rourke war von Haus aus Physiker und Entwicklungsingenieur, der sich auf die stärksten Magnetfelder spezialisiert hatte. Er hatte irgendwann die Daten des alten Army-Experiments in Huntsville in die Hände bekommen und beschlossen, künftig die Methoden zu erforschen, wie man Materie in einem Tensorfeld schrumpfen konnte. Er hatte einige der scheinbar unmöglichen Turbulenzgleichungen in Tensorfeldern gelöst. Vin Drake hatte dann von Rourkes Arbeit erfahren und ihn als einen der Gründungsingenieure von Nanigen engagiert. Gemeinsam mit anderen Nanigen-Ingenieuren hatte er mit herkömmlichen, wenn auch leicht modifizierten, industriellen Komponenten, die hauptsächlich aus Asien stammten, den Tensorgenerator gebaut. Drake hatte dann vom Davros-Konsortium große Kapitalmengen erhalten. Dafür hatte Drake ein goldenes Händchen. Für alles, was er anpackte, konnte er andere begeistern und sie davon überzeugen, dass sie gut daran verdienen würden.

Ben Rourke erklärte sich freiwillig bereit, als erster Mensch den Tensorgenerator zu durchlaufen. Er vermutete, dass das gefährlich werden könnte, und hielt es deshalb für angebracht, als Erster dieses Risiko einzugehen. Lebende Organismen waren komplex und zerbrechlich. Die Tiere, die man im Generator geschrumpft hatte, waren häufig gestorben. Die meisten waren verblutet. »Drake hat die Risiken heruntergespielt«, erzählte Rourke. »Er hat behauptet, es würde keine Probleme geben.«

Rourke war nur ein paar Stunden in diesem geschrumpften Zustand geblieben. Menschen, die nach Rourke für längere Zeit geschrumpft wurden, begannen sich krank zu fühlen, bekamen leicht Prellungen und litten unter eigenartigen Blutungen. Nach genaueren Untersuchungen zeigte sich, dass ihr Blut auf mysteriöse Weise seine Gerinnungsfähigkeit verloren hatte.

In der Zwischenzeit schwamm Nanigen in Investorengeld und entschloss sich, die Erforschung der Mikrowelt zu beschleunigen. Zuerst wollte man sich dabei auf den Tantalus-Krater konzentrieren. Dieser wies eine extrem große Artenvielfalt auf und bot einen reichhaltigen Schatz an chemischen und biologischen Verbindungen. Die Tantalus-Basis wurde in Modulen errichtet. »Wir haben jedes Modul als maßstabgerechtes Modell im Verhältnis eins zu zehn gebaut und die Module dann im Generator auf die richtige Größe für Mikromenschen geschrumpft.« Die Module wurden dann mit Ausrüstung und Vorräten ausgestattet und auf dem Rand des Tantalus-Kraters platziert.

Zuerst durften die Außenteams nicht länger als sechsunddreißig Stunden in der Tantalus-Basis bleiben. Danach wurden sie zu Nanigen zurückgebracht und erhielten ihre Normalgröße zurück. Dann richtete Nanigen unten im Tal die Versorgungsstationen im Waipaka-Arboretum ein und bemannte sie.

Da die Mannschaften oft wechselten, war es schwierig, die Grabungsroboter zu bedienen und Proben zu sammeln. Vin Drake wollte also, dass die Leute trotz der Risiken länger in der Mikrowelt blieben. Drake fragte Rourke, ob er bereit sei, längere Zeit in der Tantalus-Basis zu bleiben, um herauszufinden, ob sich der menschliche Körper mit der Zeit nicht doch an die Mikrowelt anpassen könne. »Ich habe Vin vertraut, und ich hatte Vertrauen in meine Erfindung«, sagte Rourke. »Nanigen hat meinen Entwurf patentieren lassen. Ich würde also eine Menge Geld bekommen, wenn das Ganze ein Erfolg wurde. Deshalb war ich auch bereit, das Risiko eines längeren Aufenthalts auf mich zu nehmen, um Nanigen voranzubringen.«

Ben Rourke sollte ein Freiwilligenteam anführen, das einen einwöchigen Aufenthalt in der Tantalus-Basis versuchen würde. »Ich hatte den Tensorgenerator entwickelt, also dachte ich, ich sollte auch der Erste sein, der dieses Risiko eingeht.« Die anderen beiden Nanigen-Freiwilligen waren ein Ingenieur namens Fabrio Farzetti und eine Ärztin namens Amanda Cowells, die die beiden anderen medizinisch überwachen sollte. Alle drei wurden also im Generator geschrumpft und zur Tantalus-Basis gebracht.

»Zuerst lief alles glatt«, erzählte Rourke. »Wir führten Experimente durch und testeten die Ausrüstung in der Basis. Wir standen mithilfe eines speziellen Kommunikationssystems in regelmäßigem Kontakt mit Nanigen – durch einen Videolink mit einem Audiofrequenzwandler, damit wir mit ›großen‹ Menschen sprechen konnten.« Er deutete auf eine offen stehende hölzerne Tür im Wohnzimmer. Dahinter konnte man elektronische Geräte und einen Bildschirm sehen. »Das ist der Videolink. Ich habe ihn von der Tantalus-Basis hergebracht. Vielleicht wird Vin Drake eines Tages nicht mehr an der Spitze von Nanigen stehen, dann kann ich mich dort melden. Aber solange Vin noch das Heft in der Hand hat, benutze ich das Ding nicht. Drake glaubt, ich sei tot. Es wäre ein großer Fehler, Drake wissen zu lassen, dass es mich noch gibt.«

Nach ein paar Tagen in der Basis begannen alle drei Freiwillige erste Symptome der Tensor-Krankheit zu entwickeln. »Wir bekamen Blutergüsse an den Armen und Beinen. Dann ist Farzetti ernsthaft krank geworden. Dr. Cowells hat herausgefunden, dass er unter inneren Blutungen litt. Sie bat also darum, Farzetti zu evakuieren.« Fabrio Farzetti musste sofort in ein Krankenhaus, oder er würde sterben.

»Drake hat uns dann gesagt, es sei im Moment nicht möglich, Farzetti zu evakuieren. Der Generator sei zusammengebrochen«, erzählte Rourke. »Er hat behauptet, er versuche gerade, den Generator reparieren zu lassen.«

Nun wusste Ben Rourke mehr über den Tensorgenerator als irgendjemand sonst. Er begann, von der Mikrowelt aus mithilfe des Videolinks die Reparaturarbeiten zu leiten, während Ingenieursteams im Nanigen-Hauptquartier seinen Anweisungen folgten. Aber aus irgendeinem Grund konnten sie die Maschine nicht in Ordnung bringen. Sie brach immer wieder zusammen. Und dann starb Farzetti, obwohl Dr. Amanda Cowells alles getan hatte, um ihn zu retten.

»Ich glaube, dass Drake den Generator sabotiert hat«, sagte Rourke.

»Warum?«, fragte Karen.

»Wir waren seine Versuchskaninchen«, erwiderte Rourke. »Drake wollte über uns lückenlose medizinische Daten bis zu unserem Tod gewinnen.«

Als Nächstes wurde Dr. Cowells selbst krank. Ben Rourke kümmerte sich um sie, während er gleichzeitig über Videolink ständig um Hilfe bat. »Mir ist schließlich klar geworden, dass uns niemand helfen würde. Vin Drake war entschlossen, sein niederträchtiges Experiment bis zum bitteren Ende, nämlich unser aller Tod, durchzuziehen. Ein Überlebensexperiment, das den Nazis zur Ehre gereicht hätte. Ich habe versucht, das den anderen Nanigen-Mitarbeitern über Videolink zu erklären, aber keiner wollte mir glauben. Ich glaube auch, dass es Drake gefallen hat, uns beim Sterben zuzusehen. Dem Mann macht es Spaß, andere leiden zu sehen. Anscheinend sind für Drake Mikromenschen keine echten Menschen mehr. Niemand hätte geglaubt, dass Drake so etwas tun könnte. Leute wie Vincent Drake operieren außerhalb der Grenzen der gewöhnlichen Moral. Ihre Bosheit bleibt normalen Menschen verborgen, weil normale Menschen sich eine solche Boshaftigkeit gar nicht vorstellen können. Ein Psychopath kann jahrelang unentdeckt bleiben, solange er ein guter Schauspieler ist«, sagte Rourke.

Karen King fragte ihn, ob Drake allein arbeitete. »Hat er Komplizen?«

»Ein paar Leute gibt es vielleicht bei Nanigen, die die Wahrheit über Drake vermuten«, antwortete Rourke. »Zumindest die Projekt-Omicron-Leute müssen etwas wissen.«

»Was ist das denn?«

»Das Projekt Omicron? Das ist der dunkle Teil von Nanigen.«

»Der dunkle Teil?«

»Nanigen führt geheime Experimente für die US-Regierung durch. Das ist das Project Omicron.«

»Und was macht Omicron?«

»Omicron hat irgendetwas mit Waffen zu tun«, sagte Rourke. »Aber das ist alles, was ich weiß.«

»Wie haben Sie überhaupt davon erfahren?«

»Firmenklatsch. Der ist unvermeidlich.« Er lächelte und strich sich übers Kinn. Dann stand er auf, holte ein großes Lichtnuss-Stück und legte es auf die Feuerstelle. Das Feuer flammte auf.

Selbst für einen Einsiedler schien der Mann irgendwie einsam zu sein, dachte Karen. Sie schaute in die Flammen und dachte über ihr Leben drüben an der Ostküste nach. Sie hatte dort selbst in einem beengten, schäbigen Apartment in Somerville wie eine Einsiedlerin gelebt und die meiste Zeit im Labor verbracht. Die ganze Nacht durchzuarbeiten war für sie eine normale Sache gewesen. Sie hatte keine engen Freunde, keine Rendezvous und ging auch allein kaum noch ins Kino. Sie hatte ihr früheres Leben geopfert, um schließlich den Doktor zu machen und Wissenschaftlerin zu werden. Seit über einem Jahr hatte sie nicht mehr mit einem Mann geschlafen. Männer schienen sowieso Angst vor ihr zu haben, vor ihren Spinnen, ihrem Temperament, ihrem Elan im Labor. Sie wusste, dass sie ein hitziges Temperament hatte. Vielleicht ist es einfach meine Art. Vielleicht bin ich allein glücklicher, so wie Ben Rourke ja auch glücklich zu sein scheint. Im Moment schien ihr Leben in Cambridge aber eine Million Kilometer entfernt, fast in einem anderen Universum zu sein. »Was wäre, wenn ich in der Mikrowelt bleiben wollte, Ben? Meinen Sie, ich könnte hier überleben?«

Eine Zeit lang sagte keiner ein Wort. Rick Hutter starrte sie nur an.

Rourke stand auf und warf ein weiteres Stück Nuss ins Feuer. Dann sagte er: »Warum würdest du hier bleiben wollen?«

Karen blinzelte ins Feuer. »Es ist gefährlich hier … aber es ist auch … so schön. Ich habe … Dinge gesehen, von denen ich nie geträumt hätte.«

Rourke holte sich etwas mehr von dem Eintopf, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und blies auf sein Essen, um es zu kühlen. Nach einer Weile sagte er: »In einem Zen-Spruch heißt es, dass ein weiser Mann selbst in der Hölle angenehm leben kann. Tatsächlich ist es hier gar nicht so schlecht. Man muss nur ein paar Extrafertigkeiten lernen.«

Karen beobachtete, wie der Rauch durch das Loch in der Decke stieg. Ihr wurde bewusst, dass Rourke den Kamin selbst gegraben haben musste. Was für eine Menge Arbeit, nur um ein Feuer zu haben. Wie wäre es wohl, den Versuch zu unternehmen, in dieser Mikrowelt zu überleben? Ben hatte es geschafft. Könnte sie das auch?

Rick wandte sich Karen zu. »Nur zur Erinnerung. Unsere Zeit läuft ab.«

Rick hatte recht. »Ben«, sagte Karen. »Wir müssen ins Nanigen-Hauptquartier zurück.«

Er lehnte sich zurück und schaute sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich habe mich gefragt, ob ich euch vertrauen kann.«

»Das können Sie, Ben.«

»Das hoffe ich. Kommt mit – wir schauen mal, wie wir euch heimbekommen. Habt ihr irgendwelches Eisen am Körper?« Karen legte ihr Messer ab.

Die Wohnhalle hatte einen Alkoven am Ende eines kurzen Tunnels, der von einer Tür verschlossen war. Rourke öffnete sie. Dahinter lag eine große, glänzende Metallscheibe mit einem Loch in der Mitte flach auf dem Boden. Sie sah aus wie ein Donut. Ein superstarker Magnet, wie er ihnen erklärte. »Das ist ein Neodym-Magnet, zweitausend Gauß. Eine extrem hohe Feldstärke. Nachdem Farzetti und Cowells gestorben waren, bin ich selbst schwer krank geworden. Ich hatte aber die Hypothese, dass ein starkes Magnetfeld die dimensionalen Schwankungen stabilisieren könnte, die dafür sorgten, dass gewisse enzymatische Reaktionen im Körper wie zum Beispiel die Blutgerinnung entgleisten. Also habe ich mich in dieses Magnetfeld begeben und bin dort zwei ganze Wochen lang geblieben. Mir ging es höllisch schlecht. Ich bin fast gestorben. Aber am Ende kam ich völlig kuriert heraus. Jetzt glaube ich, dass ich immun gegen die Tensor-Krankheit bin.«

»Also wenn wir lange genug in diesem Magnet blieben, würden wir vielleicht überleben?«, fragte Rick.

»Vielleicht«, betonte Rourke.

»Ich glaube, ich ziehe den Generator vor«, meinte Rick.

»Natürlich. Deshalb werde ich euch auch das Geheimnis von Tantalus zeigen«, sagte Rourke. Er führte sie aus dem Magnetraum, dann einen langen Tunnel hinunter, um eine Biegung herum und einen leicht ansteigenden Gang hoch. Sie fragten sich, wo er sie wohl hinbrachte. Ben Rourke schien ein Faible für geheimnisvolle Offenbarungen zu haben. Sie betraten eine ziemlich breite und lange Kammer, in der schattenhaft Umrisse zu sehen waren. Drake betätigte einen Schalter, und die Deckenbeleuchtung ging an. Auf dem Boden standen drei Flugzeuge. Der Raum war ein unterirdischer Hangar. Breite Hangartore aus einem Metallgewebe verschlossen den Eingang zur Höhle.

»Das gibt’s doch nicht!«, rief Karen völlig verblüfft.

Die Flugzeuge hatten ein offenes Cockpit, stummelige, rückwärtsgepfeilte Flügel, ein Doppelleitwerk und einen Heckpropeller. Sie standen auf einziehbaren Rädern. »Sie waren völlig kaputt, deshalb haben sie Drakes Leute einfach dagelassen. Ich habe sie mit Teilen repariert, die ich überall auf der Station zusammengeklaubt habe. Ich bin mit ihnen über die ganzen Berge hier geflogen.« Er klopfte auf das Cockpit eines Flugzeugs. »Ich habe sie auch mit Waffen ausgerüstet.«

»Wo? Ich sehe keine Maschinengewehre«, sagte Rick und inspizierte die Flügel.

Rourke griff in ein Cockpit und holte eine Machete heraus. »Etwas mittelalterlich, zugegeben, aber mehr ging nicht.« Er legte die Machete zurück ins Cockpit.

»Könnten wir damit bis zum Nanigen-Hauptquartier fliegen?«, fragte Karen.

»Das wäre ein ziemlich langer Flug.« Er erklärte ihnen, dass die Höchstgeschwindigkeit eines Mikroflugzeugs elf Stundenkilometer betrug. »Die Passatwinde wehen durchschnittlich mit vierundzwanzig Stundenkilometern über Oahu. Wenn ihr gegen den Wind zu fliegen versucht, bewegt sich das Flugzeug also sogar rückwärts. Mit dem Wind im Rücken könntet ihr es vielleicht über Pearl Harbor hinaus schaffen. Vielleicht aber auch nicht. Das hängt davon ab, ob ich mich entschließen kann, euch meine Flugzeuge zu geben. Das sind Einsitzer, sie befördern jeweils nur eine Person. Und ihr seid zu dritt. Dann bleibt für mich keines mehr übrig, nicht wahr?«

»Dr. Rourke, ich würde Ihnen für eines Ihrer Flugzeuge eine Menge Geld zahlen«, sagte Danny. »Ich habe einen Treuhandfonds geerbt. Er würde Ihnen gehören.«

»Ich brauche kein Geld, Mr. Minot.«

»Was könnte ich Ihnen sonst dafür anbieten?«

»Dass ihr Vincent Drake drankriegt. Wenn ihr das schafft, könnt ihr meine Flugzeuge haben.«

»In Ordnung, wir werden Mr. Drake auffliegen lassen«, versprach Danny.

Karen sagte kein Wort. Rick schaute sie an. Was war mit ihr los? Dann fragte er Rourke, wie er ohne Flugzeuge überleben wollte.

»Ich baue mir einfach ein neues«, sagte Rourke und zuckte die Achseln. »Es gibt noch genug Ersatzteile in der Basis.« Dann gab ihnen Rourke eine kleine Einführung. Er ließ sie in die Cockpits sitzen und erklärte ihnen die Steuerung. »Es ist sehr einfach. Alles ist computergesteuert. Das hier ist der Steuerknüppel. Wenn ihr einen Fehler macht, wird der Computer ihn korrigieren. Hier ist das Funkgerät, und hier ist das Headset.« Sie konnten also unterwegs miteinander sprechen. Es gab allerdings weder Radar noch irgendein anderes Navigationsgerät.

Wie würden sie Nanigen dann finden?

»Das Kalikimaki-Industriegelände dürfte aus der Luft gut zu sehen sein. Eine Gruppe von Lagerhäusern am Farrington Highway.« Dann beschrieb er ihnen kurz den Weg dorthin.

»Okay«, sagte Rick. »Wir kommen also im Nanigen-Hauptquartier an. Was dann?«

»Dann wären da noch die Sicherheitsroboter, die den Tensor-Kern bewachen.«

»Sicherheitsroboter?«

»Fliegende Mikroroboter. Andererseits glaube ich nicht, dass ihr mit denen ein Problem bekommt. Ihr seid zu klein, um von deren Sensoren erfasst zu werden. Ihr könnt an ihnen vorbeifliegen, ohne sie aufzuwecken. Es gibt auch eine Möglichkeit, den Generator in eurer gegenwärtigen Mikrogröße zu bedienen. Ich habe diese Steuerungskontrolle selbst entworfen. Sie befindet sich im Boden des Raums unter einer kleinen Klappe – im Zentrum von Sechseck 3. Sie ist mit einem weißen Kreis markiert. Ihr solltet den Kreis auch aus der Luft erkennen können.«

»Ist die Steuerungskontrolle kompliziert?«

»Nein. Man muss nur die Klappe hochheben und auf den roten Notfallknopf drücken. Dann wird man sofort vergrößert –« Er hörte zu reden auf und schaute Rick an. Vielmehr dessen Arm.

Rick lehnte mit aufgerollten Hemdsärmeln an einem Flugzeug. Rourke studierte die Blutergüsse und zog dann Ricks Arm lang. »Du stehst kurz vor einem Totalabsturz«, sagte er.

»Totalabsturz?« Rick glaubte, er meine das Flugzeug.

»Totalabsturz nennen wir die Phase, wenn schlagartig die Blutungen anfangen. Dann ist man erledigt.«

Die Nachwirkungen des Wespen- und des Spinnengifts hatten offensichtlich den Ausbruch der Tensor-Krankheit beschleunigt.

»Du solltest sofort in den Magneten«, bedeutete ihm Rourke in scharfem Ton. »Du hast nur noch ein paar Stunden.«

Karen schaute jetzt ihre eigenen Arme an. Auch die sahen ziemlich schlecht aus. Jetzt begann der Wettlauf gegen die Zeit. Sie mussten auf die Morgendämmerung warten und hoffen, dass bis dahin niemand zu bluten anfing.

Ben Rourke riet ihnen, im Innern des Magneten zu schlafen. Er konnte zwar für nichts garantieren, aber das Magnetfeld würde vielleicht den Ausbruch der Symptome verlangsamen. Auch im Magnetraum gab es eine Feuerstelle. Rourke holte ein paar Lichtnussstücke und zündete ein Feuer an. Karen und Rick kletterten in das Loch im Donut hinein, schlangen ein paar Tücher um sich und versuchten, etwas Nachtruhe zu finden. Aber keiner von beiden konnte sich richtig entspannen. Rick tat es am ganzen Körper weh, und die Blutergüsse machten ihm ziemlich zu schaffen. Auch Karen hatte solche Blutergüsse auf ihren Armen bemerkt. Andererseits war sie unglaublich müde. Die Zeit lief einfach schneller in der Mikrowelt, und insofern war auch das Ruhebedürfnis stärker.

Danny Minot weigerte sich, in der Nähe des Magneten zu schlafen. Er meinte, er ziehe es vor, in der Haupthalle die Nacht zu verbringen. Er ließ sich auf einem von Rourkes Stühlen nieder und wickelte sich in eine Decke.

Rourke warf ein weiteres Stück Nuss auf das Feuer und stand auf. »Ich gehe in den Hangar, um die Flugzeuge startklar zu machen. Ihr werdet beim ersten Tageslicht starten müssen. Inzwischen solltet ihr euch etwas ausruhen.« Rourke machte sich auf den Weg durch die Tunnel in den Hangar. Er würde die Mikroflugzeuge noch einmal warten, alle Instrumente überprüfen und die Akkus voll aufladen, damit sie gleich bei Tagesanbruch losfliegen könnten.

Danny Minot war jetzt allein in der Halle. Er rollte sich in seinem Stuhl zusammen, konnte jedoch nicht einschlafen. Er kippte den restlichen Jack Daniel’s hinunter und schleuderte die Flasche in die Ecke. Sein Arm bewegte sich und machte sich wieder einmal selbstständig. Die Haut beulte sich aus und gab knisternde Laute von sich. Er hob die Decke empor und konnte beobachten, wie die Larven zuckten. Er konnte es nicht länger ertragen. Er begann zu weinen. Vielleicht war es der Alkohol, vielleicht der schreckliche Zustand seines Arms oder vielleicht auch seine allgemeine Lage – was immer es war, es führte dazu, dass er jetzt vollkommen die Fassung verlor. Er wimmerte und heulte und schaute in die Richtung, in die Rourke verschwunden war. Wie lange würde der wohl weg sein?

In diesem Moment platzte sein Arm.

Es gab ein lautes Geräusch, das sich anhörte, als ob jemand ein Stück Papier durchreißen würde. Er spürte nichts, trotzdem schaute er zum Ort dieses Geräuschs hinunter. Und da konnte er beobachten, wie sich der glitzernde Kopf einer Larve durch einen sich mehr und mehr weitenden Riss in seiner Haut hindurchzwängte. Die Larve war riesig, sie wand sich hin und her, wedelte mit dem Kopf und wurde länger, während sie sich aus dem Arm hinauskämpfte.

»Oh Gott! Sie schlüpft!«, wisperte er.

Dann machte die Larve etwas Seltsames und Schreckliches. Sie spuckte eine Flüssigkeit aus ihrem Mund – ein klebriges Gesabber – halt, nein – es war ein Faden, es war Seide. Die Larve, die immer noch fast bis zur Hälfte in seinem Arm steckte, begann, Seidenfäden um sich herumzuspinnen. Mit schnellen Kopfbewegungen wickelte sie Fäden um ihren Körper und baute sich selbst eine Art Seidenpanzer, während ihr hinteres Ende immer noch fest in Dannys Arm steckte.

Was machte sie da? Das war kein Schlüpfen! Sie ging nur zum nächsten Entwicklungsstadium über. Sie verwandelte sich in eine Puppe. Aber sie weigerte sich standhaft, seinen Arm zu verlassen!

In seinem Entsetzen packte er die Larve und versuchte, sie aus seinem Arm herauszuziehen. Das machte sie jedoch äußerst wütend. Sie schlug mit dem Kopf, spuckte Seide und drohte, ihn mit ihren kleinen Fresszangen zu beißen. Sie wollte einfach nicht aus seinem Arm herauskommen. Sie wollte sich in seinem Arm verankern, während sie sich selbst einen Seidenkokon bastelte.

»Karen? Rick?«, sagte er leise. Die Tür zum Alkoven war geschlossen. Sie hörten ihn nicht. Sie konnten ihm sowieso nicht helfen. »Ohhh …«

Er stand auf. Er warf die Decke ab und zwang sich, nicht mehr seinen Arm zu betrachten. Er wollte nicht wissen, was sich dort gerade abspielte. Er fragte sich, wo und wie er Hilfe bekommen könnte. Er konnte gerade noch ein panisches Stöhnen unterdrücken. Dann fiel ihm der Bildschirm im nächsten Raum ein. Rourke hatte gesagt, das sei ein Kommunikationssystem, das mit Nanigen verbunden war. Er schaute sich vorsichtig um. Rick und Karen schliefen etwas entfernt im Magnetraum. Rourke war im Hangar. Danny ging in den Kommunikationsraum hinüber und inspizierte den Bildschirm. Er fand eine kleine Linse. Es war eine Minicam, die den Benutzer des Kommunikationssystems aufnehmen sollte. Unter dem Bildschirm bemerkte er auf einer Konsole einen Deckel. Er klappte ihn auf und entdeckte einen Netzschalter und einen roten Knopf mit der Aufschrift LINK. Einfacher ging es nicht. Er betätigte den Netzschalter. Nach einem kurzen Moment zeigte der Bildschirm nur dunkles Blau an. Dann drückte er auf den roten Knopf, LINK.

Unmittelbar darauf meldete sich eine weibliche Stimme, während der Bildschirm leer blieb. »Nanigen-Sicherheitsdienst. Von wo rufen Sie an?«

»Tantalus. Jemand soll mir helfen –«

»Sir, wer sind Sie? Was ist los?«

»Ich bin Daniel Minot –«

Plötzlich war auf dem Bildschirm das Gesicht einer Frau zu sehen. Sie hatte eine verbindliche, professionelle Ausstrahlung.

»Verbinden Sie mich bitte mit Vin Drake«, sagte er.

»Aber es ist ziemlich spät, Sir.«

»Das ist ein Notfall. Sagen Sie ihm, dass ich in der Tantalus-Basis bin und Hilfe brauche.«

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