31. OKTOBER, 10:45 UHR
Karen King hatte sich im Innern des Maina-Kropfs in die Embryonalstellung eingerollt und hielt den Atem an. Die Muskelwände des Kropfs drückten auf sie und klemmten sie so fest ein, dass sie sich nicht mehr rühren konnte. Die Wände waren schleimig und übel riechend. Doch der Kropf produzierte keine Verdauungssäfte. Er war nur ein Beutel, um die Nahrung so lange aufzubewahren, bis sie zur Verdauung weitergeleitet wurde.
Sie wusste, dass der Vogel flog, da sie das regelmäßige Pochen der Brustmuskeln spürte, die seine Flügel in Bewegung setzten. Sie legte die Arme ums Gesicht und drückte sie nach außen. Dadurch konnte sie sich etwas Freiraum um die Nase und den Mund herum verschaffen.
Sie holte Atem.
Die Luft roch schrecklich, vor allem der scharfe Gestank nach verwesenden Insekten war kaum auszuhalten, aber es war wenigstens Luft. Nicht viel Luft allerdings. Nach kurzer Zeit wurde es stickig und heiß, und sie begann zu hecheln. Plötzlich überkam sie eine Welle von Klaustrophobie. Sie wollte schreien. Sie nahm all ihre Willenskraft zusammen, um sich selbst zu beruhigen. Wenn sie jetzt schrie und um sich schlug, würde sie die Luft viel zu schnell verbrauchen und ersticken. Wenn sie am Leben bleiben wollte, musste sie Ruhe bewahren, sich kaum bewegen und mit der Atemluft sparsam umgehen. Sie streckte den Rücken durch und drückte die Beine nach außen. Das dehnte den Kropf und verschaffte ihr etwas mehr Raum. Aber die Luft wurde trotzdem knapp.
Sie versuchte, an ihr Messer zu gelangen, aber sie hatte es so tief in ihre Hüfttasche gesteckt, dass sie es nicht erreichen konnte. Die Muskelwände des Vogelkropfs hielten ihren Arm fest.
Verdammt. Ich muss unbedingt dieses Messer kriegen!
Sie schwor, sich in Zukunft ihr Messer um den Hals zu hängen. Wenn es denn eine Zukunft gab … Sie drückte ihren rechten Arm immer weiter nach unten und kämpfte gegen die gummiartigen Wände an, die sie umgaben. Sie zwang die Fingerspitzen in ihre Tasche hinein und atmete mit einem Schlag ganz tief aus. Die üble Luft drehte ihr fast den Magen um, und sie musste husten. Aber ihre Fingerspitzen schlossen sich jetzt um eine Flasche in ihrer Tasche. Was war denn das? Die Sprühflasche! Die mit dem Käfer-Spray. Die Rick für sie gefüllt hatte.
Eine Waffe.
Sie verzog das Gesicht und hangelte mit viel Mühe die Flasche heraus.
In diesem Augenblick führte der Vogel offensichtlich ein größeres Flugmanöver durch. Der Kropf zog sich zusammen, und seine Muskeln pressten ihr auf einen Schlag die Luft aus den Lungen. Kurz fühlte sie sich schwerelos, dann so, als würde sie fallen. Noch ein Schlingern und ein heftiger Stoß. Der Vogel war gelandet. Sie verlor das Bewusstsein.
Der Maina war zur selben Stelle zurückgekehrt, wo er Karen gefangen hatte, um dort nach weiterer Nahrung zu suchen. Er starrte auf Rick Hutter und legte dabei den Kopf schief, um seine Tiefenwahrnehmung zu verbessern.
Rick erkannte den schwarzen Streifen auf seinem Schnabel. Derselbe Vogel. Er hatte Karen gefressen. Rick wusste nicht, ob sie überhaupt noch lebte. Aber möglich wäre es. Er schwenkte die Harpune und rückte auf den Vogel vor. »Komm doch und hol mich, du feiger Bastard!«
Er erinnerte sich an eine Jagdmethode der Massai. Die musste er hier bei diesem Vogel anwenden. Ein junger Massai-Krieger, ein Junge von dreizehn oder vierzehn, kann bereits einen Löwen mit einem Speer erlegen. Du kannst das, machte er sich selbst Mut. Du musst nur die richtige Technik anwenden.
Der Vogel hüpfte auf ihn zu.
Rick beobachtete ihn, berechnete die Entfernung, ging im Voraus alle seine Bewegungen durch und legte den Winkel seiner Harpune fest. Er musste die Stärke und das Gewicht des Vogels gegen ihn selbst einsetzen, wie es die Massai-Jäger bei den Löwen machten. Der Massai-Jäger provoziert den Löwen zu einem Angriff. Im letzten Moment setzt er dann das Ende seines Speers in den Boden und richtet die Spitze auf den Löwen. Dann kniet er sich hinter den Speer. Der Löwe rennt in die Speerspitze hinein und pfählt sich selbst, während der Jäger hinter dem Speer bleibt und erst flieht, wenn der Todeskampf des Löwen beginnt.
Der Vogel schlug mit dem Schnabel nach ihm. Rick hatte diesen Angriff erwartet. Er rammte das Ende der Harpune in einem solchen Winkel in die Erde, dass die Spitze schräg nach oben gegen den Vogel gerichtet war. Danach ließ er die Harpune los und warf sich unter die Brust des Vogels, um nicht verletzt zu werden.
Gerade als der Maina seinen Schnabel auf Rick hinunterstieß, drang die Harpune in den Hals des Vogels ein. Jetzt zahlte es sich aus, dass Rick die Spitze so scharf wie eine chirurgische Nadel geschliffen und mit reichlich Gift bestrichen hatte. Die Waffe durchdrang mit Leichtigkeit das Federkleid und die Haut des Vogels und blieb in dessen Fleisch stecken. Der Maina wich zurück, während die Harpune von seinem Hals herunterbaumelte. Der Vogel schüttelte den Kopf und versuchte die Harpune loszuwerden, während Rick schnell davonkroch. Schließlich setzte er sich auf und zog seine Machete. »Komm her und kämpfe!«, rief er dem Vogel zu.
Karen hörte Ricks Stimme. Sie war kurzzeitig ohnmächtig gewesen. Jetzt kam sie wieder zu sich. Sie begann zu hyperventilieren, versuchte mit aller Macht genug Luft in ihre Lungen zu bekommen, was ihr aber immer weniger gelang. Eigentümliche Lichtblitze vor ihrem Auge warnten sie vor dem Sauerstoffentzug. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie die Sprühflasche immer noch in ihrer Faust hielt. Sie drückte auf den Pumpzerstäuber und fühlte sofort ein schreckliches Brennen, als sich die chemischen Stoffe um sie herum ausbreiteten. Ihre Muskeln verspannten sich noch weiter, und die Blitze im Auge verwandelten sich in Nebel und dann ins Nichts –
Dem Maina ging es überhaupt nicht gut. Erst die Harpune, und jetzt noch dieses unangenehme Gefühl in seinem Kropf. Er übergab sich.
Karen King landete im Moos, und der Vogel machte sich davon.
Sie war bewusstlos. Rick kniete sich neben sie und fühlte ihr am Hals den Puls. Er spürte, dass ihr Herz immer noch schlug. Er presste seinen Mund auf den ihren und blies seinen Atem in ihre Lungen.
Man hörte ein kratzendes, schnarrendes Geräusch, und sie begann wieder selbstständig zu atmen. Sie hustete und öffnete die Augen.
»Ohh.«
»Atme weiter, Karen. Du bist okay.«
Ihre Faust umschloss immer noch krampfhaft die Sprühflasche. Rick brach sie ganz sanft auf und holte die Flasche heraus. Dann schleppte er Karen unter einen Farn. Dort half er ihr, sich aufzusetzen, und nahm sie vorsichtig in den Arm. Ihre Kleidung und ihre Haare waren immer noch glitschig und schleimig von den Flüssigkeiten aus dem Vogelkropf. »Atme tief durch«, sagte er. Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und glättete ihr Haar. Er wusste nicht, wo die Vögel waren, ob sie immer noch in dieser Gegend jagten oder weitergezogen waren. Zumindest drangen ihre Schreie inzwischen aus weiterer Ferne zu ihnen. Er platzierte Karen mit dem Rücken an einen Farnstängel und setzte sich mit angezogenen Knien neben sie, den Arm um ihre Schultern.
»Vielen Dank, Rick.«
»Bist du verletzt?«
»Mir ist nur ein wenig schwindlig.«
»Du hast nicht mehr geatmet. Ich dachte schon, du seist …«
Die Schreie der Vögel wurden immer schwächer. Der Schwarm war weitergezogen.
Als sich Karen einigermaßen erholt hatte, fasste Rick zusammen, was von ihrer Ausrüstung noch übrig war. Ihr Überleben war jetzt aufs Äußerste gefährdet. Der Hexapod war abgestürzt. Erika war tot. Die meisten ihrer Vorräte waren zusammen mit dem Laufroboter in die Tiefe gestürzt. Die Harpune steckte im Hals des Maina, der davongeflogen war. Der Rucksack, den Karen aus dem Generatorraum mitgenommen hatte, lag allerdings noch neben dem Tümpel. Außerdem besaßen sie noch das Blasrohr und das Curare. Eine einzige Machete war ihnen geblieben. Danny Minot war nirgends zu sehen.
Dann war jedoch von weit oben seine Stimme zu hören. In seiner Panik war er an einer Schlingpflanze emporgeklettert und schließlich an der Spitze der Felswand angelangt. Sie sahen ihn dort oben kauern und mit seinem gesunden Arm herunterwinken. »Ich kann den Großen Felsen sehen! Wir sind fast da!«