Kapitel 46 TANTALUS-KRATER

1. NOVEMBER, 1:40 UHR

Plötzlich ließ ein Donnern die Tunnel erzittern. Danach erschien ein helles, gleißendes Licht in dem Rauchloch über der Feuerstelle. Rick und Karen sprangen auf und warfen die Decken ab, als Ben in den Raum stürmte. »Zum Hangar!«, rief er.

Sie liefen gerade in den Tunnel, als sie eine heiße, rauchgeschwängerte Druckwelle traf und Karen zu Boden riss. Rick hob sie auf und wollte sie hinter sich herziehen, aber sie wehrte ihn ab. Dann fiel sie auf die Knie und brach zusammen. Sie schien in Ohnmacht gefallen zu sein. Die Tunnel füllten sich mit schwarzem Rauch, sodass Rick nichts mehr sehen konnte. Er lud sich Karen auf die Schulter und lief hinter Ben her. Ihm wurde schwindlig, und er bekam Atemprobleme. Er spürte, dass der Sauerstoff aus den Tunneln herausgesaugt wurde. Ben rief, er solle sich beeilen, aber Rick stürzte zu Boden und ließ Karen fallen.

Jetzt war es an Karen, sie zu retten. Sie stand auf, packte Rick und zog ihn mit sich. »Auf geht’s, Rick! Mach mir jetzt bloß nicht schlapp!«

Stolpernd, keuchend und hustend liefen sie durch den Rauch, der inzwischen zur Decke aufgestiegen war.

»Kriecht unter dem Rauch durch!«, rief Ben.

Sie krochen auf allen vieren weiter und hielten ihre Köpfe unterhalb des wabernden schwarzen Rauchs, während ein schreckliches tiefes Grollen den Boden erzittern ließ. Sie schafften es bis zum Hangar. Rick und Karen sprangen in die Flugzeuge, während Rourke gerade das Hangartor öffnen wollte. Genau in diesem Moment brach das ganze Tor zusammen. Dahinter loderte eine Flammenwand, die den Höhlenausgang blockierte.

Rourke hustete und kam ins Wanken.

»Ben!«, schrie Karen. Sie sah, wie er auf die Knie fiel, dann wieder aufstand und ihnen das Zeichen gab, abzufliegen. »Los!«

»Ben! Und was ist mit Ihnen?«, rief Karen.

»Raus hier!« Er wankte zurück in Richtung Tunnel, aus dem jetzt dunkler Rauch herausströmte.

Karen wurde schwindlig, und sie hatte das Gefühl, gleich zu ersticken. Sie ließ ihr Flugzeug an und winkte zu Rick hinüber. »Wir starten!«, rief sie ihm zu. Sie starteten zur selben Zeit und flogen nebeneinander durch die Höhle. Karen drehte sich noch einmal um und sah, wie Rourke auf die Knie fiel und in die Festung zurückkroch. Dort gab es nicht mehr genug Atemluft, er würde es niemals schaffen.

Aber jetzt kamen die Flammen immer näher. Sie duckte sich und kauerte sich ins Cockpit, während das Mikroflugzeug die Feuerwand durchbrach und in die kühle Nachtluft hinaussegelte. Sie schaute sich um und sah, dass Rick neben ihr herflog. Er schien in Ordnung zu sein.

Sie probierte den Steuerknüppel aus, flog einen leichten Bogen und blickte zurück. Rourkes Festung war zu einem einzigen Feuermeer geworden. Die Flammen schlugen inzwischen bis zum Großen Felsen empor und tauchten ihn in ein unheimliches Licht, während sich die Umrisse eines riesigen Mannes von den Flammen abhoben. Der Mann hielt einen roten Plastikkanister in der Hand und goss Benzin um die gesamte Tantalus-Basis herum aus. Dann trat er einen Schritt zurück, zündete ein Streichholz an und warf es in das ausgegossene Benzin. Die auflodernden Flammen erhellten sein Gesicht. Es war Vin Drake. Inmitten dieser Feuersbrunst blieb seine Miene absolut ruhig. Er hätte genauso gut in ein Lagerfeuer schauen und friedvolle Gedanken haben können. Er kippte ruckartig seinen Kopf hin und her, als wolle er Wasser aus seinen Ohren schütteln.

Rick verlor die Kontrolle über sein Flugzeug. Es drehte sich einmal um seine Längsachse und knallte auf den Großen Felsen. Einen Moment lang dachte er, er sei tot, aber das Mikroflugzeug prallte von dem Felsen ab, geriet ins Trudeln, stabilisierte sich jedoch wieder und flog geradeaus weiter. Diese Mikroflugzeuge waren wirklich zäh. Inzwischen hatte er Karen aus den Augen verloren. Vor ihm türmte sich eine Mauer aus miteinander verwobenen Bäumen auf. Er suchte mit den Augen die Bäume ab, konnte aber keinerlei Lichter erkennen, nichts, was ihm hätte sagen können, wohin Karen geflogen war. Gerade wollte er versuchen, sie über Funk zu erreichen, als er direkt vor sich ein Paar grün und rot blinkende Lichter erblickte: Karens Positionslampen.

Er schaltete seine eigenen Lichter ein und wackelte mit seinen Tragflächen. Sie wackelte zurück. Gut. Sie konnten einander also sehen. Sie flog zur Krone eines Baumes hinauf, und Rick folgte ihren Lichtern. Die Äste und Zweige um ihn herum konnte er kaum erkennen. Er flog durch ein dunkles Labyrinth und ließ sich dabei von Karen King leiten.

Rick drückte den Gashebel nach vorn und schloss zu ihr auf, während sie den Baum umkreiste. Dann schaltete er sein Funkgerät ein. Das war jetzt auch schon egal. Drake konnte sie nicht erreichen, selbst wenn er sie hören konnte.

»Alles in Ordnung mit dir, Karen?«

»Ich bin noch auf dem Damm. Und wie geht’s dir?«

»Ich bin okay«, antwortete er. Ihm wurde bewusst, dass ihr jetzt nichts anderes übrig blieb, als zum Nanigen-Hauptquartier zurückzukehren. Auf dem Tantalus konnte sie nicht bleiben, hier gab es nichts mehr. Er hielt es für besser, sie jetzt nicht an diese Tatsache zu erinnern.

Während sie weiter um den Baum kreisten, konnten sie Drake durch die Äste beobachten. Er ging langsam den Abhang hinunter, während immer mehr Flammen aufloderten. Er war gerade dabei, irgendetwas anderes zu verbrennen. Was immer es auch war, er schien entschlossen, alle Spuren der Basis und von Rourkes Festung auszulöschen. Die Feuer brannten in einem feuchten Wald und würden wahrscheinlich nach einiger Zeit von selbst ausgehen und nur die verkohlten Ruinen von Rourkes Festung und der Tantalus-Basis hinterlassen.

Seine Taschenlampe bewegte sich auf und ab und zeigte, dass Drake schließlich ein Stück in den Wald hineinging. Sie hörten das Geräusch eines Automotors und sahen einen Pick-up die unbefestigte Piste auf dem Kraterrand entlangholpern. Schließlich verschwanden die Scheinwerfer des Fahrzeugs auf der anderen Seite des Kraters. Allerdings war die Dunkelheit nicht vollkommen, denn die Lichter Honolulus funkelten durch die Äste. Karen verließ die Baumkrone und flog ins Freie hinaus.

»Fledermäuse! Wir müssen irgendwo landen«, funkte ihr Rick zu.

»Aber wo, Rick? Wir können nicht auf dem Boden landen.« Dort wären sie anderen Raubtieren ausgesetzt.

»Flieg mir einfach nach«, sagte er. Er überholte sie und übernahm die Führung. Er konnte Äste, Zweige und andere Hindernisse sehen, die er umfliegen musste. Er kurvte nach links und dann wieder nach rechts, blieb jedoch in der Nähe der Baumkronen, wo die Fledermäuse nicht jagen würden. Gelegentlich drehte er sich um und konnte hinter sich Karens Positionslichter sehen. Sie blieb immer dicht an seinem Heck. Das Licht der Feuer hinter ihnen wurde immer schwächer. Schließlich konnten sie es überhaupt nicht mehr sehen, als sie ein Stück in die Tiefen des Kraters hinabtauchten, in eine Zone, in der die Kraterwände den Wind abschirmten. Dann stiegen sie wieder zum Kraterrand auf.

»Ich suche jetzt nach einem Landeplatz«, funkte Rick Karen zu. Er flog an einem Ast entlang, um ihn genau zu untersuchen. Er war breit und sauber, ohne jedes Moos und mit ausreichend Manövrierraum für die Flugzeuge. Er entschloss sich, auf diesem Ast zu landen. Nachdem er ausgerollt war, landete auch Karen und ließ ihr Flugzeug neben das seine rollen. Diese Maschinen konnten wirklich auf einer Briefmarke landen, wie man so sagte.

Jetzt kam doch etwas Wind auf, der den Ast heftig durchschüttelte und die Flugzeuge abzuwerfen drohte.

»Wir müssen sie festbinden«, sagte Rick und kletterte aus dem Cockpit. Er entdeckte, dass in ihren Nasen und Hecks Verzurrseile steckten, mit denen er jetzt beide Flugzeuge sichern konnte. Das war bestimmt eine von Ben Rourkes Erfindungen gewesen.

Karen saß zusammengesunken in ihrem Cockpit. Sie begann, leise zu weinen.

»Was ist los?«

»Ben. Er steckt in der Falle. Das kann er unmöglich überlebt haben.«

Rick meinte, dass Ben vielleicht doch eine Chance gehabt haben könnte. »Ich würde den Mann nicht vorschnell abschreiben.« Man konnte jedoch unmöglich sagen, ob Ben nun entkommen oder in den Flammen gestorben war.

Jetzt begann das große Warten. Die Uhren auf ihren Instrumententafeln zeigten 1:44 Uhr an. Es würde erst in ein paar Stunden hell werden. Und bei Dunkelheit konnten sie nicht fliegen.

Der Passatwind frischte immer mehr auf, und der Ast tanzte auf und ab wie das Deck eines Schiffes im Sturm. Karen konnte im Mondschein die Blutergüsse auf ihren Armen als dunkle Flecken erkennen. Sie wurden immer größer. Sie fragte sich, wie wohl der Rest ihres Körpers aussehen mochte.

Die ständigen Bewegungen des Asts machten Rick seekrank. Er fragte sich, ob das ein Vorzeichen der Tensor-Krankheit war. Oder vielleicht die Nachwirkung des Spinnen- und Wespengifts. Er dachte über die Strecke nach, die sie bei Tagesanbruch zurücklegen mussten. Insgesamt waren das fünfundzwanzig Kilometer, einschließlich einer längeren Passage über Pearl Harbor, wo sie nichts als Wasser unter sich haben würden. Er dachte: Das ist unmöglich. Wir werden das niemals schaffen.

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