Kapitel 47 TANTALUS ROAD

1. NOVEMBER, 0:35 UHR

Eric Jansen bog auf den Parkplatz am Diamond-Head-Leuchtturm ein. Der Ort war verlassen. Von Vin Drakes Wagen war nichts zu sehen. Er war zu spät gekommen. Oder vielleicht zu früh? Vielleicht war Drake noch gar nicht aufgetaucht. Er parkte in einer Ecke des Geländes und überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Auf Drake warten? Aber der war vielleicht schon hier gewesen. Sollte er zur Polizei gehen? Das könnte die Überlebenden wertvolle Zeit kosten. Drake wusste ja jetzt, wo sie waren, und vielleicht war er auf dem Weg zum Tantalus, um sie zu töten.

Eric musste selbst zum Tantalus hinauf.

Er fuhr mit seinem dröhnenden Pick-up, der eine Fehlzündung nach der anderen hatte, die von teuersten Anwesen gesäumten Haarnadelkurven der Tantalus Road empor. Die befestigte Straße endete an einem Tor, hinter dem eine ausgefahrene Holperpiste begann. Glücklicherweise war das Tor nicht verschlossen. Der Fahrweg stieg durch Guavenwälder einen steilen Abhang hinauf, bis er den Kraterrand erreichte. Diesem folgte er dann vorsichtig über ausgewaschene Bodensenken und Erosionsrinnen hinweg. Dieser Weg war eigentlich nur mit Allradantrieb befahrbar. Eric war froh, dass er einen Pick-up mit extradicken Reifen fuhr. Schließlich erreichte er einen Wendeplatz. Auch hier nichts von Drakes Pick-up zu sehen. Der Ort war vollkommen verlassen.

Sein Problem war, dass er keine Taschenlampe dabeihatte. Er ließ seine Scheinwerfer in Richtung des Großen Felsens leuchten, stieg aus und horchte erst einmal. Dann bemerkte er durch die Bäume einen rötlichen Lichtschein. Er stapfte durch das Unterholz darauf zu. Als er den Großen Felsen erreichte, sah er, was geschehen war. Gerade erloschen die letzten Glutherde, die Erde rauchte, und der ganze Boden roch nach Benzin.

Drake hatte es also wirklich getan. Er hatte alle umgebracht.

Eric ärgerte sich erneut, dass er keine Taschenlampe mitgebracht hatte. Er kniete sich hin und fand tatsächlich den Eingang zu dem Rattennest, Rourkes Versteck. »Ist da jemand?«, rief er.

Sinnlos. Trotzdem wartete er noch eine Weile, bohrte einen Finger in die Erde und fragte sich, ob es Überlebende gegeben haben könnte. Es war jedoch viel zu dunkel, um etwas zu sehen. Außerdem würden sie ja nur sehr klein sein. Er sorgte sich sogar, dass er vielleicht einen von ihnen zufällig zertrampeln könnte.

Aber da gab es keine Überlebenden, das war offensichtlich.

Er stolperte durchs Gestrüpp zurück zu seinem Pick-up.

Einige Zeit nachdem Drakes Pick-up verschwunden war, konnten Rick und Karen von ihrem Ast aus beobachten, wie die Scheinwerfer eines anderen Fahrzeugs sich langsam und holpernd um den Kraterrand herumbewegten. Sie wussten nicht, wer das war, nur dass es sich ebenfalls um einen Pick-up handelte.

Rick schaute ihm eine Weile zu, dann teilte er Karen mit: »Ich werde mir das mal genauer ansehen.«

»Mach das nicht!«

Er ignorierte sie, entzurrte sein Flugzeug, stieg ins Cockpit und startete. Sie hörte das leise Wimmern des Motors aufsteigen und in Richtung des Kraterrands und des Großen Felsens verschwinden.

»Verdammter Idiot!«, schrie sie ihm hinterher. Da sie nicht allein auf diesem Baum zurückbleiben wollte, stieg sie in ihr Flugzeug und folgte ihm.

Rick sah einen Mann aus dem Pick-up aussteigen. Er selbst kurvte durch die Äste und horchte nach irgendwelchen Fledermäusen. Als er kein Sonar hörte, flog er etwas näher an den Mann heran. Der ging hinüber zum Großen Felsen und kniete sich dort hin. Sein Gesicht war in der Dunkelheit nicht zu sehen. Der Mann stand wieder auf und stapfte als dunkle Silhouette durch das Unterholz davon. Rick folgte ihm und musste dabei immer wieder Ästen und Baumstämmen ausweichen.

Der Mann kam an seinem geparkten Fahrzeug an. Ein seltsam aussehender Pick-up mit überbreiten Reifen und einer verrückten, bunten Lackierung. Als der Mann einstieg, ging das Innenlicht an und beleuchtete sein Gesicht.

Rick hatte den Mann schon einmal gesehen. Aber wo? Er flog gerade an der Windschutzscheibe vorbei, als der Motor mit Donnergetöse anlief.

»Karen!«, rief er über Funk. »Wer ist dieser Typ?«

Sie sauste an Rick vorbei und stieß in einer steilen Wende auf den Pick-up hinunter. Inzwischen hatte sie den Bogen raus. »Das ist Peters Bruder!«

»Ich dachte, der sei tot. Steckt er mit Drake unter einer Decke?«

»Woher soll ich das wissen?«, antwortete Karen gereizt.

Der Pick-up rumpelte los und fuhr langsam wieder den unbefestigten Weg zurück.

Karen jagte ihren Motor bis zum NOTFALL-MAXIMUM hoch. Selbst mit Höchstgeschwindigkeit konnten ihre Flugzeuge kaum mit dem Truck mithalten, obwohl der auf dieser Holperpiste nur langsam vorankam. Sobald der Pick-up die befestigte Straße erreichte, würde er so sehr beschleunigen, dass sie ihm auf keinen Fall folgen könnten. Sie mussten also jetzt gleich Erics Aufmerksamkeit erregen.

Er fuhr mit geschlossenen Seitenfenstern. Karen flog ganz nah an seinem Gesicht neben dem Fenster her und wackelte mit den Flügeln. Keine Reaktion. Dann beschleunigte der Pick-up und ließ sie im aufgewirbelten Staub zurück.

»Ich versuche, in seinen Windschatten zu kommen«, funkte Rick. Er tauchte fast bis auf die Ladefläche hinunter und flog direkt hinter der Fahrerkabine. Dabei konnte er durch das Glas den Hinterkopf des Mannes sehen. Die Luft direkt hinter dem Truck war jedoch so turbulent und chaotisch, dass sie Ricks Flugzeug ins Trudeln brachte. Fast wäre er auf die Ladefläche gestürzt.

Der Truck kam jetzt zu einer besonders schlechten Wegstelle, wo der Regen eine Rinne quer über die Fahrbahn ausgewaschen hatte. Der Mann bremste ab, ließ das Seitenfenster herunter und lehnte sich hinaus, um einen besseren Überblick zu bekommen.

Karen flog durch das Fenster in das Führerhaus und drehte eine Runde. Der Mann zog seinen Kopf wieder ein. In diesem Moment flog sie ganz nahe vor seinen Augen vorbei und wackelte mit den Flügeln, an deren Enden die Positionslichter blinkten.

Das sah er. Er trat mit voller Wucht auf die Bremse. »Hey –!« Er folgte ihr mit den Augen, als sie das Flugzeug in die Kurve legte, umdrehte und ganz niedrig über das Armaturenbrett flog. Er streckte seinen Arm aus, und sie landete in seinem Handteller. Sie kletterte aus dem Cockpit und stellte sich auf seine Hand, während er sie aufmerksam betrachtete.

Jetzt flog Rick auch in das Führerhaus und landete auf dem Armaturenbrett.

»Wer – seid – ihr?«, fragte Eric sie mit donnernder Stimme. Er versuchte, beim Sprechen nicht zu heftig zu atmen. Er wollte Karen nicht aus seiner Hand blasen.

Karen hielt ihr Headset hoch und deutete darauf. Sie erinnerte sich, dass Jarel Kinsky ihnen erzählt hatte, dass man mit diesen Geräten mit normal großen Menschen kommunizieren konnte.

»Geht – klar.« Er setzte sie samt ihrem Flugzeug auf dem Armaturenbrett ab, öffnete das Handschuhfach, holte ein Headset heraus und schloss es an eine kompliziert aussehende elektronische Apparatur auf seinem Beifahrersitz an. »Geht – auf – einundsiebzig – Komma – zwei – fünf – Gigahertz«, sagte er.

Rick und Karen setzten ihr Headset auf und stellten ihr Flugzeugfunkgerät auf die entsprechende Frequenz ein.

Der Mann öffnete den Mund und donnerte: »Könnt – ihr – mich – jetzt – verstehen?« Einen Augenblick später erklangen in ihren Headsets dieselben Worte in Erics normaler Sprechstimme. »Könnt ihr mich jetzt verstehen? Das ist ein spezieller Sender, der meine Stimme aufnimmt, sie beschleunigt und sie euch dann überspielt. Und er verlangsamt Stimmen, damit ich euch verstehen kann.«

Sie erklärte Eric in groben Zügen, was passiert war. »Wir müssen so bald wie möglich in den Generator«, sagte Karen.

»Zuerst mal … was war mit meinem Bruder?«

Sie erzählten es ihm. Als Karen beschrieb, wie Peter gestorben war, schlug Eric mit der flachen Hand gegen das Lenkrad, sodass die Mikromenschen und ihre Flugzeuge ein Stück in die Luft geschleudert wurden. Sie landeten inmitten von Staubkörnchen und warteten. Sie gaben ihm die Zeit, das Ganze zu verarbeiten. Als er die Augen wieder öffnete, war sein Gesicht ruhig und gefasst. »Ich bringe euch ins Nanigen-Hauptquartier. Und dann werde ich mir Vincent Drake vorknöpfen.«

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