Kapitel 38 TANTALUS-BASIS

31. OKTOBER, 14:30 UHR

Der Wind fegte heftig über den Rand des Tantalus-Kraters hinweg. Karen King und Danny Minot kamen nur langsam voran. Sie schleppten Rick auf einer Trage, die sie provisorisch aus einer Rettungsdecke hergestellt hatten. Karen hatte den Rucksack geschultert und sich das Blasrohr über den Rücken gehängt. Sie setzten mühevoll einen Fuß vor den anderen. Die Wand aus Bambusbäumen und der Große Felsen wollten einfach nicht näher kommen. Rick atmete heiser und angestrengt.

»Setz ihn ab«, forderte Karen Danny auf. Sie begutachtete Rick. Sein Gesicht war blass und abgehärmt, und seine Lippen färbten sich blau. Er bekam nicht genug Sauerstoff. Am meisten beunruhigte sie jedoch sein Atem. Er war unregelmäßig, stoßweise und viel zu flach. Das Wespengift hatte vielleicht das Atemzentrum in seinem Hirnstamm angegriffen. Sollte sein Atem endgültig aussetzen, war er erledigt.

Sie öffnete sein Hemd und fand einen Bluterguss auf seiner Brust. Was war das? Hatte ihn die Tensor-Krankheit erwischt? Oder hatte er das nur seinem Ausflug mit der Wespe zu verdanken? Sie mussten dieses offene Gelände möglichst bald verlassen, wollten sie nicht als Appetithäppchen für Vögel oder als Futter für das nächste Wespenbaby enden.

»Wie fühlst du dich, Rick?«

Er schüttelte ganz langsam den Kopf.

»Nicht so gut? Schlaf nur nicht ein. Okay? Bitte!«

Karen schaute zum Bambuswald hinüber. »Wir müssen es nur unter diese hohen Pflanzen schaffen. Nicht mehr weit.« Sie hoffte und betete, dass sie dort finden würden, was sie benötigte. Dort im Laub.

Sie hörte ein Seufzen. »Wie geht’s dir, Rick?«

Schweigen. Rick hatte das Bewusstsein verloren. Sie schüttelte ihn. »Rick! Wach auf! Ich bin’s, Karen!« Seine Augen öffneten sich, um sich dann gleich wieder zu schließen. Er wirkte mehr und mehr abwesend und teilnahmslos.

Na gut. Vielleicht könnte sie ihn wütend machen. Das hatte sie ja bisher immer geschafft. Sie schlug ihm ins Gesicht. »Hey, Rick!«

Er riss die Augen auf. Das hatte also gewirkt.

»Ich bin fast umgebracht worden, als ich deinen armseligen Hintern aus diesem Höllenloch geschleppt habe. Wage es nur nicht, mir jetzt wegzusterben.«

»Vielleicht müssen wir ihn hierlassen«, sagte Danny in sanftem Ton.

Sie schaute ihn wütend an. »Sag das nicht noch einmal!«

Schließlich schafften sie es doch noch in ein Pflanzendickicht. Sie legten Rick in den kühlen Schatten. Karen gab ihm ein Wassertröpfchen zu trinken. Dabei hielt sie das Wasser in ihren hohlen Händen und flößte es ihm ganz langsam ein. Sie schaute zu den Blättern empor. Sie wusste nicht, welche Pflanzenart das war. Das spielte auch keine Rolle. Wichtig war nur, ob irgendwelche Spinnen in diesen Blättern lebten.

Dabei wollte sie eine ganz bestimmte Spinne finden.

Sie kniete sich neben Rick und sprach ihn an. »Rick. Du brauchst einen ordentlichen Tritt in den Hintern.«

Er lächelte schwach.

»Was hast du vor?«, fragte Danny.

Sie gab keine Antwort. Sie kramte in ihrem Rucksack herum und holte dann eine saubere leere Plastiklaborflasche heraus. Dann begann sie, die ganze Gegend zu erforschen, besonders die Blätter. Sie griff sich das Blasrohr und den Pfeilköcher und rannte tiefer in das Pflanzendickicht hinein.

»Wo gehst du hin?«, rief ihr Danny nach.

»Du passt auf ihn auf, Danny. Wenn Rick irgendwas passiert, dann gnade dir Gott –«

»Karen!«

Sie war in der grünen Wildnis verschwunden. Sie hatte ganz kurz eine bestimmte Farbe unter einem Blatt erspäht. Eine fluoreszierende Mischung aus Grün, Rot und Gelb. Das war vielleicht, wonach sie suchte.

Tatsächlich, da war es.

Sie war auf der Suche nach einer nicht allzu giftigen Spinne. Alle Spinnen benutzten Gift, um ihre Beute, hauptsächlich Insekten, zu töten. Die Auswirkungen der einzelnen Spinnengifte auf Menschen im Speziellen und Säugetiere im Allgemeinen waren jedoch ganz unterschiedlich. Das Gift der Schwarzen Witwe gehörte zu den schlimmsten. Deren Biss konnte sogar ein Pferd töten. Andere Spinnen wirkten dagegen auf Menschen weit weniger toxisch.

Karen stand jetzt unter der Spinne und schaute zu ihr hinauf. Sie war klein, und ihre Beine waren so durchsichtig wie Glas. Ihr Körper zeigte ein Farbmuster, das wie ein menschliches Gesicht wirkte, das laut lachte. Wie ein Clownsgesicht.

Im Englischen hieß sie deshalb »Happy Face Spider«. Ihr wissenschaftlicher Name war Theridion grallator. Eine der häufigsten Spinnen auf Hawaii, die von der Wissenschaft schon ausführlich untersucht wurde. Es war bekannt, dass ihr Biss für Menschen nicht weiter gefährlich war.

Dieses Exemplar saß gerade in seinem Netz, einem relativ ungeordneten Fädengewirr, das es sich unter einem Blatt gesponnen hatte.

Diese Spinnen waren sehr scheu. Sie flohen normalerweise beim ersten Anzeichen einer möglichen Gefahr. »Renn jetzt nur nicht weg«, flüsterte Karen.

Sie kletterte ein Stück den Stängel der Pflanze hinauf und setzte sich auf ein Blatt, das etwas von der Spinne entfernt war. Sie holte einen Pfeil aus dem Köcher und öffnete ihre Feldflasche, die fast bis zum Rand mit dem Wespengift gefüllt war. Sie tauchte einen Pfeil in das Gift, legte ihn in das Blasrohr und zielte.

Die Spinne wich ein Stück zurück und schien sie anzustarren. Anscheinend fürchtete sie sich. Tatsächlich hatte sie Angst. Sie versuchte, sich in ihrem winzigen Netz ganz klein zu machen.

Karen wusste, dass die Spinne sie hören konnte und sich gerade mit den vielen »Ohren« in ihren Beinen ein akustisches Bild von ihr machte. Sie war wahrscheinlich noch nie einem Menschen begegnet und hatte keine Ahnung, was genau Karen war.

Sie blies mit aller Macht in das Blasrohr.

Der Pfeil drang in den gemusterten Hinterleib der Spinne ein.

Die Spinne zuckte zurück, ihre Beine fuchtelten wild. Dann versuchte sie wegzulaufen, kam aber nicht weit. Das Wespengift wirkte schnell, und nach kurzer Zeit rührte sie sich nicht mehr. Karen hörte, wie die Luft leise pfeifend durch die Lunge der Spinne strömte, und sah, wie sich ihr Rücken hob und senkte. Gut. Sie atmete, und auch ihr Herz schlug noch. Das war wichtig. Das Tier benötigte einen gewissen Blutdruck, um sein Gift absondern zu können.

Sie kletterte zum Netz hinauf. Sie ergriff einen Faden und schüttelte ihn. »Heee.«

Die Spinne bewegte sich nicht. Karen schwang sich auf das Netz und kroch über die Fäden direkt auf die Spinne zu. Sie zog an einem Sinneshärchen auf einem ihrer Beine. Nichts geschah.

Auf dem Netz liegend, schraubte sie jetzt die leere Laborflasche auf und hielt sie unter die Giftklauen. Sie holte mit zwei Fingern eine Endklaue aus der Furche des massiven Grundglieds heraus und schaute dabei die ganze Zeit der Spinne in die Augen.

Aber wie würde sie jetzt das Gift zum Fließen bringen? Die Giftdrüsen befanden sich im vorderen Teil des Spinnenkopfes genau hinter den Augen. Karen ballte die Faust und schlug sie der Spinne an die Stirn. Tatsächlich bewegte sich die Spinne ganz leicht, und etwas Flüssigkeit tropfte aus der Spitze der Klaue. Karen fing sie mit ihrer Flasche auf und schraubte diese dann zu. Sie hoffte, die Spinne würde dieses kleine Abenteuer unbeschadet überstehen und später ohne Probleme aufwachen. Karen schnitt das Netz unter ihr durch und fiel auf den Boden hinunter.

Sie beugte sich über Rick. »Dieses Spinnengift« – sie hielt ihm die Flasche vor die Augen – »könnte deine Nerven wieder auf Trab bringen. Darin befinden sich Exzitotoxine. Verstehst du?«

Er schaute sie an. Ein Blinzeln. Ja, ich verstehe.

»Exzitotoxine. Sie werden deine Nerven reizen. Aber das ist gefährlich. Ich weiß überhaupt nichts über dieses spezielle Gift hier. Ich weiß nicht, wie es konkret wirkt. Ich kann die Dosis nicht kontrollieren. Dieses Zeug könnte Zellen in deinem Körper töten. Es könnte dich sogar zu verdauen beginnen.« Vor ihrem inneren Auge sah sie die schrecklichen letzten Momente dieses Heckenschützen.

Sie nahm seine Hand und drückte sie. »Ich habe Angst, Rick.«

Er drückte zurück.

»Willst du es?«, fragte sie.

Er blinzelte. Ja.

Sie holte einen Pfeil aus dem Köcher. Einen sauberen, an dem noch kein Curare klebte. Sie tauchte dessen Spitze in das Spinnengift. Die Spitze war jetzt mit einer winzigen Menge dieser Flüssigkeit bedeckt. Sie hielt ihm den Pfeil direkt vor die Augen, wo er ihn gut sehen konnte. »Bist du sicher?«

Ja.

Sie stach ihn mit der Pfeilspitze ganz leicht in die Haut auf seinem Handrücken. Nicht zu tief. Dann ergriff sie seine Hand und beugte sich über ihn. »Rick …«

Einige Momente lang geschah gar nichts. Sie fragte sich schon, ob sie ihm genug injiziert hatte – aber dann rang er plötzlich nach Luft. Seine Atmung beschleunigte sich. Sie berührte seinen Hals und spürte, wie sein Puls raste. Das Gift hatte ihn voll im Griff. Er begann zu zittern.

Dann gab es ein explosionsartiges Geräusch: Rick röchelte und sog dann schlagartig Luft in seine Lunge. Dann bekam er einen Krampfanfall. Seine Blicke irrten wild umher, und er bäumte sich mit weit aufgerissenen Augen und zitterndem Körper unter ihr auf. Sie legte sich auf ihn und hielt seine Arme fest, hatte jedoch Angst, ihn zu stark zu drücken. Er rang immer wieder nach Luft und atmete dann ganze Lungenladungen ein. Er hyperventilierte, während sich sein Rückgrat krümmte. Jetzt warf sie ihr ganzes Gewicht auf ihn und versuchte, ihn niederzuhalten. Sie fürchtete, er könne sich ernsthaft verletzen.

Er stöhnte. Dann fuhr er seine Hand aus und legte sie ihr um den Hals. Seine Finger drückten immer fester zu, und er begann, ihr die Luft abzuschnüren.

Er versuchte, sie zu erwürgen. So sehr hasste er sie.

Aber dann entspannten sich seine Finger, und sein Griff lockerte sich. Er ließ ihre Kehle los. Er fuhr mit der Hand über ihre Schulter. Aus der Berührung wurde ein Streicheln. Seine Hand wanderte den Hals empor bis unter ihr Ohr, wobei er ihr ganz leicht über die Haut strich. Dann öffneten sich seine Finger, und er fuhr ihr durchs Haar. Jetzt küsste sie ihn, und das Großartige war, dass er sie zurückküsste.

Schließlich brach sie ab und richtete sich wieder auf. »Tut es weh, Rick?«

»Tut … höllisch … weh …«, krächzte er. »Könnte … mich … daran gewöhnen.«

Sie half ihm, sich aufzusetzen. Ihm war immer noch schwindlig und er fiel fast vornüber. Sie hielt ihn fest, umschlang ihn mit den Armen, sprach ganz sanft auf ihn ein und erklärte ihm, dass alles wieder gut werden würde. »Du hast mir das Leben gerettet, Rick. Du hast mir das Leben gerettet.«

Danny saß da und beobachtete, wie Rick und Karen sich immer näher kamen. Dabei fühlte er sich äußerst unbehaglich. Seiner Meinung nach beförderte so etwas nicht die gemeinsame Aufgabe, irgendwie zurück ins Nanigen-Hauptquartier zu gelangen. Er brauchte so bald wie möglich einen Arzt. Als er auf seinen Arm schaute, musste er sich fast übergeben. Die Larven schienen immer fetter zu werden.

Kurze Zeit später konnte Rick wieder aufrecht stehen. Sie setzten langsam ihren Weg fort. Schließlich erreichten sie den Bambuswald, in dem Bambushalme wie Mammutbäume in den Himmel ragten. Als sie den Wald durchquert hatten, bot sich ihnen eine grandiose Aussicht. Vor ihnen lag der Große Felsen auf dem Kraterrand des Tantalus, während man gleich daneben in den Krater hinunterschauen konnte.

Der Krater lag tief unter ihnen, ein breites Bassin voller Regenwald, während auf seinem Rand außer Gruppen von verkrüppelten, windzerzausten Bäumen nur nackte Erde zu finden war. Um den Krater herum stiegen die Bergspitzen des Ko’olau Pali bis in die wallenden Wolken empor. Am Fuße des Großen Felsens lag die Tantalus-Basis.

Sie wäre für einen normal großen Menschen kaum wahrnehmbar gewesen. Davor lag eine Flugzeuglandebahn von etwa einem Meter Länge. Wenigstens war sich Karen ziemlich sicher, dass es sich um eine Landebahn handelte. Sie konnte eine gestrichelte Linie und Rollbahnmarkierungen erkennen. Neben der Landebahn stand eine Gruppe von Miniaturgebäuden aus Beton. Das größte Gebäude schien ein Flugzeughangar zu sein. Die anderen Bauten waren kleiner und sahen wie Luftschutzbunker aus. Sie waren teilweise in die Erde eingelassen und mit totem Laub und Pflanzen bedeckt, damit sie sich möglichst gut in die Mikrolandschaft einpassten.

Karen hielt an. »Wow, Rick!«, rief sie. »Wir haben’s geschafft!«

Er drehte sich zu ihr um und lächelte sie an. Sie rieb seine Hände und Arme, um den Kreislauf in Gang zu bringen.

»Deine Hände fühlen sich schon viel wärmer an. Ich glaube, du erholst dich langsam.«

Sie wollten keine Aufmerksamkeit auf sich lenken, da sie nicht wussten, was sie von den Bewohnern der Basis zu erwarten hatten. Immerhin waren das Nanigen-Angestellte, die vielleicht den Befehlen Vin Drakes folgten. Sie entschlossen sich, die Basis eine Zeit lang zu beobachten und nach irgendwelchen Aktivitäten Ausschau zu halten. Sie legten sich unter eine Mamaki-Pflanze, von der aus man die gesamte Basis überblicken konnte. Der Große Felsen türmte sich dahinter auf wie ein Berg.

Auf der Landebahn rührte sich nichts. Der ganze Platz schien verlassen.

Die Rollbahn war mit Steinen und Pflanzenabfällen übersät und mit getrocknetem Schlamm verschmutzt. Neben ihr erhob sich ein kleiner Erdhügel, ein Ameisennest. Ein Ameisenpfad führte quer über die Landebahn und dann den Hang hinunter in das Kraterinnere.

»Das sieht nicht gut aus«, flüsterte Danny Minot.

Karen sank der Mut. Wenn hier keine Mikromenschen lebten, dann gäbe es auch keinen Shuttle-Lkw ins Nanigen-Hauptquartier und keine Chance auf Hilfe. Um diesen Ort hatte sich schon lange niemand mehr gekümmert. Und Ameisen hatten ihn übernommen.

Aber was, wenn diese Flugzeuge wirklich existierten?

Sie stiegen die Anhöhe hinunter und betraten den Hangar. Sie sahen Verzurrungen für Flugzeuge – aber keine Flugzeuge. Während Rick und Danny sich hinsetzten und etwas ausruhten, erkundete Karen die Basis. Sie fand einen Raum, in dem früher vielleicht einmal Maschinenteile und mechanische Komponenten gelagert worden waren. Jetzt war er völlig leer. Nur noch verbogene Metallstifte und -nieten ragten aus dem Boden und den Wänden heraus. Sie betrat einen anderen Raum. Leer. Der nächste Bau enthielt Wohnquartiere. Sie waren vom Regen überflutet worden, der sie zur Hälfte mit Schlamm gefüllt hatte.

Nirgendwo gab es Anzeichen menschlichen Lebens. Die Tantalus-Basis war aufgegeben worden. Offensichtlich gab es auch keine Straße hinunter nach Honolulu. Keinen Shuttle-Lkw. Keine Flugzeuge. Nur die Passatwinde pfiffen durch die leeren Hallen von Tantalus.

Sie verließen die Anlage und setzten sich in der Nähe der Landebahn an den Kraterrand. Durch eine Lücke in der Wand des Kraters konnten sie die City von Honolulu und dahinter das unendliche Blau des Pazifiks sehen. Nanigen war meilenweit vom Krater entfernt, und kein Weg führte zurück.

Danny Minot lag mitten im Geröll und hielt sich den Arm. Er begann zu weinen. Sein lautes Schluchzen hallte vom Hangar wider und verlor sich im windigen Himmel mit seinen grauen Wolken.

Karen beobachtete eine Ameise, die gerade ein großes Samenkorn quer über die Landebahn schleppte. Dann schaute sie zum Großen Felsen hinüber und an ihm vorbei zu den Wolken am Horizont. Etwas hob sich in dieser Richtung von den Wolken ab und bewegte sich. Plötzlich begriff sie, dass sie die Umrisse eines Menschen sah.

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