Kapitel 10 NANIGEN-TIERLABORE

28. OKTOBER, 22:00 UHR

Vin Drake holte einen durchsichtigen Plastikbeutel hervor. Mit erstaunlicher Behutsamkeit hob er Peter Jansen vom Boden auf und steckte ihn in den Beutel. Peter rutschte die Plastikfolie entlang ganz nach unten. Dort kämpfte er sich wieder auf die Füße und beobachtete, wie Vin im Raum umherging und nacheinander alle Forschungsstudenten aufpickte und in den Beutel gleiten ließ. Als letzten sammelte er den Nanigen-Mann aus dem Kontrollraum auf. Sie hörten, wie der Mann rief: »Mr. Drake! Was machen Sie da, Sir?«

Drake schien ihn nicht zu hören. Offensichtlich schien er ihm auch egal zu sein.

Glücklicherweise verletzte sich niemand, als sie einer nach dem anderen zum Boden des Beutels hinunterrutschten und dort zwangsläufig aufeinanderprallten. Anscheinend besaßen sie jetzt zu wenig Masse, um Schaden anzurichten. »Wir sind beinahe gewichtslos«, erklärte Amar. »Wir können nicht mehr als etwa ein Gramm wiegen. Wie eine winzige Feder.« Amars Stimme war kühl und gefasst. Trotzdem glaubte Peter, in ihr einen Anflug von Furcht wahrzunehmen.

»Also, egal was ihr davon haltet, ich habe Angst«, trompetete Rick Hutter heraus.

»Das haben wir alle«, gab Karen King zu.

»Ich glaube, wir stehen unter Schock«, sagte Jenny Linn. »Schaut euch unsre Gesichter an. Zirkumorale Blässe.« Ein blasser Hautbereich rund um den Mund war tatsächlich ein klassisches physiologisches Angstzeichen.

Der Nanigen-Ingenieur wiederholte immer wieder: »Da muss ein Fehler vorliegen.« Er konnte einfach nicht glauben, was Drake gerade getan hatte.

»Wer sind Sie?«, fragte ihn jemand.

»Ich heiße Jarel Kinsky. Ich bin Ingenieur. Ich bediene den Tensorgenerator. Wenn ich nur noch einmal mit Mr. Drake sprechen könnte, nur ein einziges –«

»Sie haben bereits zu viel mitbekommen«, schnitt ihm Rick Hutter das Wort ab. »Was immer Drake uns antut, wird er auch Ihnen antun.«

»Machen wir kurz Inventur«, meldete sich jetzt Karen King. »Schnell – was für Waffen haben wir?«

Aber es war zu spät. Der Beutel bewegte sich plötzlich, und sie stürzten alle übereinander.

»Oh-oh«, rief Amar und versuchte, sich wieder aufzusetzen. »Was passiert jetzt?«

Alyson Bender hielt ihr Gesicht ganz dicht an den Plastikbeutel. Sie betrachtete sorgfältig die Menschen in dessen Innern, um die sie sich offensichtlich Sorgen machte. Ihre Augenbrauen stießen an das Plastik. Die Poren ihrer Nasenhaut waren erschreckend groß und sahen wie rosafarbene Pockennarben aus.

»Vin – ich – möchte – nicht, – dass – sie – verletzt – werden – Vin.«

Diese Bemerkung quittierte Vin Drake mit einem Lächeln. Ganz langsam sagte er: »Würde – mir – im – Traum – nicht – einfallen, ihnen – was – anzutun.«

»Euch ist doch klar, dass dieser Mann ein Psychopath ist«, sagte Karen King. »Er ist zu allem fähig.«

»Das ist mir klar«, sagte Peter.

»Sie schätzen Mr. Drake vollkommen falsch ein«, widersprach Jarel Kinsky. »Für all das hier muss es einen Grund geben.«

Karen ignorierte ihn und sagte zu Peter: »Wir sollten uns keine Illusionen über Drakes Absichten machen. Wir waren Zeugen seines Geständnisses, dass er deinen Bruder getötet hat. Jetzt wird er uns alle umbringen.«

»Glaubst du das wirklich?«, sagte Danny Minot mit bebender Stimme. »Wir sollten keine voreiligen –«

»Ja, Danny, das glaube ich wirklich. Vielleicht kommst du sogar als Erster dran.«

»Aber das Ganze ist doch irgendwie unvorstellbar.«

»Du brauchst nur Peters Bruder zu fragen –«

In diesem Moment hob Vin den Plastikbeutel auf und ging mit ihm schnell auf den Gang hinaus. Gleichzeitig stritt er sich mit Alyson Bender, aber das Donnergrollen war nur schwer zu verstehen.

Sie gingen an einigen Laboren vorbei, bis Drake eines von ihnen betrat. Selbst in ihrem Plastikbeutel bemerkten sie sofort dessen Besonderheiten.

Ein scharfer, beißender Geruch.

Holzspäne und Fäkalien.

Tiere.

»Das ist das Tierlabor«, sagte Amar. Jetzt konnten sie auch durch die Verzerrungen der Plastikhaut Ratten, Hamster, Eidechsen und andere Reptilien erkennen.

Vin Drake setzte den Beutel auf dem Deckel eines großen Glasbehälters ab. Er fing zu sprechen an, wobei er sich offensichtlich an sie wandte. Sie konnten jedoch nicht verstehen, was er sagte. Sie schauten sich gegenseitig an. »Was sagt er da?« »Ich verstehe nichts.« »Er ist verrückt.« »Ich bekomme überhaupt nichts mit.«

Jenny Linn hatte der Gruppe den Rücken zugekehrt und konzentrierte sich jetzt völlig auf Drake. Sie drehte sich zu Peter um und sagte: »Es geht um dich.«

»Was meinst du damit?«

»Er wird dich als Ersten töten. Warte einen Augenblick.«

»Was …«

Sie machte den Reißverschluss ihrer Gürteltasche auf. Darin befand sich ein Dutzend kleine Glasröhrchen, die an beiden Enden mit einem Gummipuffer versehen waren. »Meine flüchtigen Öle.« Ihrer Stimme war zu entnehmen, wie wichtig die für sie waren. Die Röhrchen waren das Ergebnis jahrelanger Arbeit. Sie zog eines heraus. »Leider kann ich nicht mehr für dich tun.«

Peter schüttelte verständnislos den Kopf. Sie entkorkte das Röhrchen und schüttete ihm in einer einzigen schnellen Bewegung den Inhalt über Kopf und Körper. Kurzzeitig stach allen ein beißender Geruch in die Nase. »Was ist das?«, erkundigte sich Peter.

Bevor sie antworten konnte, griff Vin Drake mit der Hand in den Beutel, packte Peter am Bein und hob ihn kopfüber heraus. Peter schrie und wedelte mit den Armen.

»Das ist Hexanol«, sagte sie. »Von Wespen. Viel Glück.«

»Mein – lieber – Herr – Jansen«, sagte Drake mit donnernder Stimme. »Sie – haben – mir – große – Schwierigkeiten – gemacht.« Er hielt Peter dicht vor sein Gesicht und schaute ihn mit zugekniffenen Augen an. »Angst? Darauf – wette – ich.«

Drake drehte sich um. Die schnelle Bewegung machte Peter schwindelig. Vin schob das Deckglas eines Terrariums ein wenig beiseite und warf Peter durch den Schlitz. Dann schloss er es wieder und legte die Plastiktüte mit den übrigen Studenten auf den großen Glaskasten.

Peters Sturz wurde durch Sägemehl aufgefangen.

Alyson Bender schaute Drake entsetzt an. »Vin, damit bin ich nicht einverstanden. Das war nicht ausgemacht –«

»Die Lage hat sich offensichtlich geändert.«

»Aber das hier ist gewissenlos!«

»Über dein Gewissen reden wir dann später«, sagte Drake verächtlich.

Sie hatte ihm geholfen, Eric auszuschalten, weil dieser gedroht hatte, Nanigen zu vernichten. Sie hatte geglaubt, Vin Drake zu lieben, und vielleicht liebte sie ihn ja immer noch. Vin war unglaublich gut zu ihr gewesen. Er hatte ihre Karriere gefördert, ihr eine Riesenmenge Geld gezahlt, wohingegen Eric Vin so schlecht behandelt hatte … Eric hatte Vin verraten. Aber diese Leute hier waren doch nur Studenten … die Sache geriet immer mehr außer Kontrolle. Trotzdem fühlte sie sich wie gelähmt. Die Situation war zu plötzlich gekommen. Sie wusste nicht, wie sie Drake jetzt noch aufhalten konnte.

»An einem Raubtier ist nichts Grausames«, sagte Drake und stellte sich vor das Schlangenterrarium. »Das Ganze ist sogar ungeheuer human. Dieses schwarz-gelb gestreifte Lebewesen auf der anderen Seite des Glases ist ein Gebänderter Krait aus Malaysia. Man nennt diese Schlange auch Gelber Bungar. Ihr Biss führt bei einem Lebewesen von Peters Größe fast unmittelbar zum Tode. Er wird also kaum etwas spüren. Das Ganze wird nur ein paar Augenblicke dauern: Sprachstörungen, Schluckbeschwerden, Augenlähmung und dann eine vollständige Lähmung des Körpers. Er wird möglicherweise noch leben, wenn ihn die Schlange verschlingt, aber er wird wahrscheinlich überhaupt nichts mehr mitbekommen …«

Drake schnipste mit Daumen und Zeigefinger gegen den Plastikbeutel. Die Mikromenschen wurden durcheinandergewirbelt. Schreiend und fluchend vor Panik und Verwirrung, purzelten sie übereinander, während Drake sie genau beobachtete. »Sie sind noch ganz schön munter und lebendig«, teilte Drake Alyson mit. »Ich nehme an, der Krait wird auf sie anspringen. Wenn nicht, haben wir immer noch die Kobra und die Korallenschlange.«

Sie schaute weg.

»Das geht nicht anders, Alyson«, sagte er. »Sie müssen mit Haut und Haar verschwinden. Es dürfen keine Beweise zurückbleiben.«

»Aber das ist doch nicht alles«, gab sie zu bedenken. »Was ist mit ihrem Auto, ihren Hotelzimmern oder ihren Flugtickets –«

»Für all das habe ich einen Plan.«

»Wirklich?«

»Vertrau mir, den habe ich.« Er starrte sie an. Nach einer ganzen Weile sagte er dann: »Alyson, willst du etwa sagen, dass du mir nicht vertraust?«

»Nein, natürlich nicht«, antwortete sie schnell.

»Das hoffe ich auch nicht. Denn ohne Vertrauen sind wir nichts. Wir müssen unbedingt zusammenhalten, Alyson.«

»Ich weiß.«

»Ja, ich weiß, dass dir das klar ist.« Er tätschelte ihre Hand. »Ah, ich sehe, der gute Peter hat das ganze Sägemehl abgeschüttelt, und da kommt auch schon der Krait auf der Suche nach einer Mahlzeit.« Halb verborgen im Sägemehl, glitten jetzt schwarze und gelbe Streifen durch das Terrarium, und eine schwarze Zunge schnellte vor und zurück.

»Schau jetzt genau hin«, sagte Drake. »Ab jetzt geht es ganz schnell.«

Alyson hatte sich abgewandt. Sie konnte einfach nicht hinsehen.

Peter kam wieder auf die Beine und klopfte sich ab. Der Sturz hatte ihn nicht verletzt, er spürte jedoch immer noch die Auswirkungen von Drakes Schlägen und Tritten. Das geronnene Blut hatte das Hemd fest an seine Brust geklebt. Er stand in einem riesigen Glaskasten bis zur Taille im Sägemehl. In dem Behälter ragte ein kleiner Ast empor, an dem einige Blätter hingen, sonst war er leer.

Mit Ausnahme der Schlange.

Von seinem Standpunkt aus konnte er nur ein paar dunkelgraue und gelbe Bänder erkennen. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Gebänderten Krait, Bungarus fasciatus oder Gelber Bungar. Seine Heimat war Malaysia oder Vietnam. In der Regel fraßen Kraits andere Schlangen, aber er konnte nicht darauf vertrauen, dass dieser besonders wählerisch sein wür-de. Die schwarzen und gelben Streifen bewegten sich plötz-lich und verschwanden mit einem leise zischenden Geräusch aus seinem Blickfeld. Die Schlange hatte sich auf den Weg gemacht.

Er konnte weder den Kopf noch viel von ihrem Körper sehen. Er war viel zu klein, um wirklich zu überschauen, was in diesem Terrarium vor sich ging, außer er kletterte auf diesen Ast, was wahrscheinlich keine so gute Idee war. Er konnte also nur darauf warten, dass die Schlange zu ihm kommen würde. Er war hilflos und wehrlos. Er klopfte auf seine Taschen, aber sie waren leer. Sein Körper begann unkontrolliert zu zittern. War das noch der Schock von den Schlägen? Oder Furcht? Wahrscheinlich beides. Er zog sich in eine Ecke des Terrariums zurück. Links und rechts von ihm war jetzt also eine Glasscheibe. Vielleicht würde seine Spiegelung in diesem Glas die Schlange erschrecken. Vielleicht würde –

Dann sah er den Kopf. Er tauchte plötzlich schnell züngelnd aus dem Sägemehl auf. Er kam Peter so nah, dass die Zunge beinahe seinen Körper berührte. Er schloss die Augen, weil er sich das alles nicht mehr ansehen konnte. In seiner Panik zitterte er so heftig, dass er glaubte, jeden Augenblick zusammenbrechen zu müssen.

Er atmete tief ein, hielt die Luft an und versuchte, gegen das Zittern anzukämpfen. Ganz vorsichtig öffnete er ein Auge und wagte einen Blick.

Die Schlange war immer noch da, nur ein paar Zentimeter von seinem Rumpf entfernt, ihre schwarze Zunge schnellte immer wieder aus ihrem Maul, aber irgendetwas stimmte nicht. Sie schien verwirrt und zögerlich – und dann hob sie zu seiner absoluten Verblüffung den Kopf und glitt rückwärts, so als wolle sie möglichst schnell Abstand zu Peter gewinnen.

Kurz darauf war sie im Sägemehl verschwunden.

Sie war weg.

In diesem Augenblick brach er zusammen. Er fiel zu Boden und zitterte und bebte vor Furcht und Erschöpfung. Er war unfähig, seinen Körper zu kontrollieren. Nur ein Gedanke ging ihm durch den Kopf: Was zum Teufel war da gerade geschehen?

»Verdammt noch mal«, sagte Vin Drake und schaute durch das Glas ins Terrarium. »Was zum Teufel war denn das? Was ist da gerade passiert?«

»Vielleicht war sie nicht hungrig.«

»Ach was, natürlich ist sie hungrig. Verdammter Mist! Solche Pannen kann ich jetzt überhaupt nicht brauchen. Mein Zeitplan ist sowieso schon knapp bemessen!«

In diesem Moment knackte die Sprechanlage. »Mr. Drake, Sie haben einen Besucher. Mr. Drake, ein Besucher erwartet Sie am Empfang.«

»Herrgott noch mal«, fluchte Drake und warf die Hände in die Höhe. »Ich erwarte heute niemanden.« Er rief den Empfang an. »Was gibt’s, Mirasol?«

»Es tut mir leid, Mr. Drake, aber als ich vorhin nach dem Alarm draußen war, sprach mich jemand von der Polizei von Honolulu an, der Sie sehen wollte. Also habe ich ihn mit hereingebracht.«

»Oh. In Ordnung.« Er hängte auf. »Großartig. Die Polizei.«

»Ich schaue nach, was sie will«, bot Alyson an.

»Nein, das machst du nicht«, sagte er. »Ich befasse mich mit der Polizei. Du gehst in dein Büro und tauchst erst wieder auf, wenn sie weg ist.«

»Gut, wenn du’s so haben w–«

»Will ich.«

»Okay, Vin.«

Jenny Linn sah, dass Vin Drake und Alyson Bender die Tierhaltung verließen. Sie bemerkte, dass Drake nicht vergaß, die Tür von außen zu verschließen. Der Plastikbeutel lag auf dem Schlangenterrarium. Er war oben leicht verdreht, aber offen. Jenny arbeitete sich durch den Hals des Beutels nach oben und schaffte es dann mit viel Mühe und Kraft, die Plastiktüte vollständig zu öffnen. »Auf geht’s!«, rief sie. »Wenigstens können wir hier raus.« Die anderen folgten Jenny und kletterten aus dem Beutel. Schließlich standen sie alle auf dem Glasdeckel des Terrariums.

Jenny schaute nach unten. Peter rappelte sich gerade wieder hoch, schien aber noch ziemlich angeschlagen zu sein. »Kannst du mich verstehen?«, rief sie hinunter.

Er schüttelte den Kopf: Nicht wirklich.

»Warum hat die Schlange nicht zugeschlagen?«, fragte Rick Hutter.

Jenny ging in die Knie, legte ihre Hände trichterförmig um den Mund und rief: »Peter, kannst du mich jetzt hören?«

Er schüttelte den Kopf.

»Versuch’s mal mit Knochenleitung«, riet Amar.

Jenny legte sich flach auf den Terrariumdeckel und hielt ihre Wange ans Glas. Dann fragte sie ganz laut: »Peter? Und jetzt?«

»Ja«, bestätigte er. »Was ist passiert?«

»Ich habe dich mit dem flüchtigen Öl einer Wespe übergossen«, sagte sie. »Der Hauptbestandteil ist Hexenol. Es gibt wohl nicht sehr viele Sachen, die eine Giftschlange abschrecken können, aber ich dachte mir, dass ein Wespenstich dazugehören könnte.«

»Verdammt clever«, sagte Amar. »Schlangen verlassen sich sowieso mehr auf ihren Geruchssinn als auf ihre Augen. Außerdem ist der Krait nachtaktiv …«

»Es hat funktioniert. Er hielt mich wohl für eine Wespe.«

»Ja, aber diese Substanz ist sehr flüchtig, Peter.«

»Du meinst, sie verdampft schnell.«

»Das tut sie gerade, während wir uns hier unterhalten.«

»Großartig. Ich bin also keine Wespe mehr.«

»Nicht mehr sehr lange.«

»Wie viel Zeit habe ich noch, deiner Meinung nach?«

»Ich weiß es nicht. Minuten.«

»Und was können wir jetzt tun?«

»Wie sind deine Reflexe?«, fragte ihn jetzt Karen King.

»Ziemlich schlecht.« Er streckte seine Hand aus. Sie zitterte heftig.

»Hast du eine Idee?«, fragte Amar.

»Hast du etwas von der Spinnenseide dabei, an der wir in der letzten Zeit gearbeitet haben?« Amar und Karen synthetisierten seit etwa sechs Monaten Spinnenseiden mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften. Manche waren klebrig, andere reißfest oder elastisch wie ein Bungee-Seil. Einige der glatten Sorte wurden klebrig, wenn man an einem Ende einen chemischen Stoff hinzufügte.

»Ich habe einige Sorten dabei, ja«, sagte Amar.

»Okay, siehst du dieses Kunststoffrohr neben dem Terrarium, das an einem Ende geschlossen ist?«

»Sieht aus, als sei es Teil eines kleinen Wasserspenders.«

»Richtig. Genau das meine ich. Kannst du dieses Rohr mit klebriger Seide einfangen und dann hochziehen?«

»Ich weiß nicht«, sagte Amar skeptisch. »Es wiegt wahrscheinlich mehr als dreißig Gramm. Wir werden alle zusammenarbeiten müssen, um es hochzuziehen –«

»Das geht schon in Ordnung. Wir werden uns sowieso alle gegenseitig unterstützen müssen, wenn wir das Terrarium öffnen.«

»Das Terrarium öffnen!« Der Deckel bestand immerhin aus einer Doppelglasscheibe. »Ich weiß nicht, Karen, das bedeutet ja, dass wir diese schwere Scheibe irgendwie verschieben müssen.«

»Nur etwa zwei bis drei Zentimeter. Nur so viel –«

»– dass das Plastikrohr hindurchpasst.«

»Richtig.«

»Peter, hast du das alles mitbekommen?«, fragte Amar.

»Ja, und es klingt ziemlich unmöglich.«

»Ich sehe keine Alternative«, sagte Karen. »Wir haben nur einen Versuch, und den dürfen wir nicht verpatzen.«

Amar holte einen kleinen Plastikbehälter aus der Tasche, öffnete ihn und begann, seine klebrige Seide von einer Spule abzurollen, die sich in dem Behälter befand. Er ging zum Rand des Terrariums und ließ den Seidenfaden hinunter. Er fischte und probierte so lange, bis sich dieser irgendwie in dem Plastikrohr verhakte, das erstaunlich leicht war. Amar und Rick Hutter zogen es ohne große Mühe empor.

Das Wegrücken des Glasdeckels erwies sich als weit schwierigere Aufgabe. »Wir müssen uns koordinieren und alle zur selben Zeit ziehen«, sagte Karen. »Also, alle zusammen auf drei, eins … zwei … drei!« Das Glas bewegte sich, wenn auch nur ein paar Millimeter, aber es bewegte sich. »Okay, noch mal! Schnell!«

Unterdessen wurde die Schlange immer aktiver. Ob deshalb, weil sie alle diese kleinen Menschlein über sich herumwuseln sah oder weil die Wirkung des flüchtigen Öls nachließ, war nicht klar. Auf jeden Fall begann der Krait sich ganz langsam in Richtung Peter zu schlängeln. Offensichtlich bereitete er einen zweiten Angriff vor.

»Bringt endlich dieses Ding da runter«, rief Peter mit zitternder Stimme.

»Wir lassen es jetzt zu dir runter«, sagte Amar.

Der Faden schrammte dabei an der Glaskante entlang und gab ein beunruhigendes, seltsames Quietschgeräusch von sich.

»Wird das klappen?«, fragte Karen besorgt. »Wird die Spinnenseide halten?«

»Sie ist ziemlich stark«, sagte Amar.

»Tiefer, noch etwas tiefer«, dirigierte Peter. »Okay … jetzt anhalten!«

Das Rohr war jetzt auf Brusthöhe. Er stellte sich hinter das verschlossene Ende und brachte es mit beiden Händen in Position. Da seine Hände vor Aufregung schwitzten, war sein Griff jedoch unsicher.

Die Schlange glitt zischend durch die Blätter und das Sägemehl.

»Was ist, wenn sie von der Seite angreift?«, fragte Peter ängstlich.

»Dann musst du dich halt anpassen«, sagte Karen. »Vorsicht, es sieht so aus –«

»Ja, da ist sie!«

»Da kommt sie, verdammt –«

»Oh Scheiße!«, rief Peter. Die Schlange schlug mit wahnsinniger, unvorstellbarer Geschwindigkeit zu. Ohne nachzudenken, schwang er das Rohr so, dass es sie auffing. Der Kopf des Kraits donnerte mit aller Macht in dessen Öffnung. Die Wucht des Aufpralls ließ den Seidenfaden reißen, Peter fiel auf den Rücken, der Krait lag jetzt auf ihm, drehte und wand sich wütend und drückte Peter zu Boden. Allerdings steckte der Kopf des Kraits so fest und tief in dem Plastikrohr, dass es ihm schwerfallen würde, sich daraus zu befreien.

»Wie hast du denn das geschafft?«, sagte Karen voller Bewunderung. »Die Schlange war doch so unheimlich schnell.«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Peter. »Ich habe nur … reagiert.« Es war alles schneller abgelaufen als gedacht. Jetzt versuchte Peter verzweifelt, sich von der Schlange zu befreien. Aus dieser Nähe erregte der Geruch des Tieres Übelkeit. Schließlich konnte er sich freistrampeln und kam mit Mühe wieder auf die Beine.

Die Schlange starrte ihn mit ihren kalten Augen an. Sie schlug das Rohr hin und her, das wiederholt gegen das Glas prallte. Es gelang ihr jedoch nicht, es abzuschütteln. Ihr wütendes Zischen wurde in dem Hohlraum des Plastikrohrs auf unheimliche Weise verstärkt.

»Das hat großartig geklappt«, sagte Rick. »Aber jetzt sollten wir dich besser da rausholen.«

Vin Drake biss die Zähne zusammen. Mirasol, die Empfangsdame, war wunderschön, aber eine Idiotin. Der muskulöse Mann in blauer Uniform war kein Polizist, sondern ein Leutnant der Küstenwache. Er wollte wissen, wem Erics Boston Whaler jetzt gehörte, da die Bootswerkstatt ihn an einen anderen Ort verlagern wollte, dazu aber die Erlaubnis des Besitzers benötigte.

»Ich dachte eigentlich, dass die Polizei dieses Boot immer noch untersucht«, sagte Vin gereizt. Wenn er schon da war, wollte er diesem Hohlkopf noch ein paar Informationen entlocken.

»Davon weiß ich nichts«, sagte der Leutnant. Die Polizei habe ihn bisher nicht kontaktiert. Er sei einzig auf Betreiben des Besitzers der Bootswerkstatt da.

»Ich habe gehört, dass sie nach einem Handy suchen.«

»Nicht dass ich wüsste«, entgegnete der Leutnant. »Ich glaube, die Polizei hat ihre Ermittlungen schon abgeschlossen.«

Drake schloss die Augen und seufzte tief auf. »Lieber Gott!«

»Zumindest sobald sie sein Büro untersucht hat.«

Drakes Augen schnappten auf. »Wessen Büro?«

»Das von Jansen. Sein Büro hier in diesem Gebäude. Er war doch Technischer Leiter dieses Unternehmens, oder nicht? Ich weiß, dass sie heute in Jansens Wohnung war und dass sie« – der Leutnant schaute auf die Uhr – »eigentlich jede Sekunde hier sein müsste, um sich sein Büro anzuschauen. Eigentlich bin ich sogar überrascht, dass sie noch nicht aufgetaucht ist.«

»Lieber Gott!«, murmelte Vin Drake.

Er wandte sich an Mirasol. »Die Polizei wird bald hier sein, und jemand muss sie herumführen.«

»Soll ich Ms. Bender ausrufen?«

»Nein«, sagte Vin. »Ms. Bender wird – sie muss mir noch bei einer dringenden Arbeit helfen. Wir müssen noch ein paar wichtige Laborproben versandfertig machen. Das kann nicht warten.«

»Wen soll ich dann rufen?«

»Lassen Sie Don Makele, den Sicherheitschef, kommen«, sagte er. »Er kann die Beamten herumführen. Sie werden Mr. Jansens Büro sehen wollen.«

»Und wo immer er sonst gearbeitet hat«, fügte der Leutnant hinzu. Er schaute die Empfangsdame eindringlich an.

»Und wo immer er sonst gearbeitet hat«, wiederholte Drake. Draußen auf der Straße fuhren einige Autos vor. Er widerstand dem Drang, davonzulaufen, und schüttelte stattdessen dem Leutnant ruhig und gelassen die Hand. »Sie dürfen gerne die Polizisten begleiten«, bot er ihm an. »Und Mirasol, warum gehen Sie nicht auch mit den Beamten mit und sorgen dafür, dass sie einen Kaffee, oder was sie sonst vielleicht wollen, bekommen?«

»Geht in Ordnung, Mr. Drake.«

»Ich glaube, ich werde bleiben«, sagte der Leutnant.

»Dann müssen Sie mich für den Moment entschuldigen«, sagte Drake. Er drehte sich um und ging den Gang hinunter. Sobald er außer Sicht war, begann er zu rennen.

Alyson Bender saß in ihrem Büro und biss sich auf die Lippe. Der Bildschirm auf ihrem Schreibtisch zeigte den Empfangsbereich. Sie konnte sehen, wie Drake mit dem uniformierten Besucher sprach und wie Mirasol mit diesem zu flirten versuchte und dabei mit der Blume in ihrem Haar herumspielte.

Wie gewöhnlich war Drake ungeduldig, schnell und aggressiv in seinen Bewegungen. Er wirkte fast feindselig. Natürlich stand er unter Druck, aber als sie beobachtete, wie er sich bewegte – keine Worte, nur die Körpersprache –, wurde ihr klar, wie wütend er war. Ein Mann, der vor Wut brannte.

Und er würde alle diese jungen Menschen umbringen.

Es war nur zu klar, was er vorhatte. Peter Jansen hatte ihm eine Falle gestellt, und Vin würde ihr auf die einzig mögliche Weise entkommen, indem er nämlich keine Zeugen übrig lassen würde. Sieben junge Menschen, hochbegabte Studenten, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten – all das schien ihn nicht zu kümmern. Es schien ihm völlig egal zu sein.

Sie standen ihm einfach nur im Weg.

Das Ganze machte ihr Angst. Ihre Hand zitterte, selbst wenn sie sie flach auf den Schreibtisch presste. Sie fürchtete sich vor ihm, und sie war entsetzt über die Lage, in der sie sich befand. Natürlich konnte sie ihm nicht direkt entgegentreten. Er würde sie töten, wenn sie das tat.

Aber sie musste ihn unbedingt davon abhalten, diese jungen Leute umzubringen. Irgendwie musste sie das schaffen. Sie wusste, was sie getan hatte. Sie wusste um ihre Rolle bei Eric Jansens Tod, sie kannte sie viel zu gut. Immerhin hatte sie dieses Handy angerufen, das die Havarie ausgelöst hatte. Aber jetzt in den Mord an sieben weiteren Personen – nein, acht, wenn man den Nanigen-Angestellten mitrechnete, der das Pech hatte, im Kontrollraum zu sitzen, als Drake hereinkam – verwickelt zu werden war mehr, als sie ertragen konnte. Das wäre ja Massenmord. Aber sie würde es vielleicht tun müssen … um sich selbst zu retten.

Auf dem Bildschirm wies Drake gerade die Empfangsdame an, was sie zu tun hatte. Der Leutnant grinste. Drake würde den Empfangsbereich bald verlassen.

Alyson stand auf und eilte aus ihrem Büro. Sie hatte nicht viel Zeit. Er konnte jeden Moment ins Labor zurückkehren, um nach den Studenten zu schauen.

Im Labor waren die Studenten jetzt alle aus der Plastiktüte geklettert und standen auf dem Glasdeckel des Krait-Terrariums, von wo sie auf Peter Jansen hinunterblickten. Plötzlich stürmte Alyson Bender in den Raum. Sie beugte sich über sie und schaute sie an. Ihr Gesicht rückte ihnen bedrohlich nahe. »Ich – werde – euch – nichts – tun«, sagte sie. Ihre Augen waren groß und ängstlich. Sie streckte eine Hand aus, pickte mit der anderen Jenny Linn ganz vorsichtig auf und setzte sie in ihre Handfläche. Sie gestikulierte heftig, um die anderen zur Eile anzutreiben. »Schnell! Ich – weiß – nicht – wo – er – ist.«

»Ms. Bender! Lassen Sie mich mit Mr. Drake sprechen!«, rief ihr Jarel Kinsky zu und wedelte mit den Armen.

Sie schien ihn nicht zu hören oder zu verstehen.

Die anderen wussten, dass ihnen keine andere Option offenstand, und kletterten deshalb alle auf Alysons Handfläche. Dann wurden sie in die Luft gehoben. Plötzlich wirbelte der Raum um sie herum, und ein starker Wind riss sie von den Beinen. Alyson trug sie schnell zu einem Schreibtisch hinüber und setzte sie dort ab. Dann ging sie zurück zum Terrarium und öffnete den Deckel. Sie holte Peter heraus und brachte ihn zu den anderen. Sie schaute sie lange an. Anscheinend wusste sie nicht, was sie jetzt mit ihnen anfangen sollte. Ihr unruhiger Atem war so laut, dass ihre Ohren schmerzten.

»Wir sollten versuchen, mit ihr zu sprechen«, schlug Karen King vor.

»Ich weiß nicht, ob das etwas nützt«, sagte Peter.

Sie sahen, wie Alyson quer durch den Raum ging. Sie riss einen Wandschrank auf, schaute hinein, holte eine kleine braune Papiertüte heraus und eilte zurück zum Schreibtisch. »Versteckt – euch – da – drin«, sagte sie ganz langsam und deutlich. »Ihr – könnt – darin – noch – atmen.« Sie öffnete die Tüte und legte sie so auf den Tisch, dass die Öffnung in ihre Richtung zeigte. Dann gab sie ihnen das Zeichen, hineinzusteigen, was sie dann auch taten. Der Letzte war der Nanigen-Mann, der seine verzweifelte Lage offensichtlich immer noch nicht akzeptieren wollte. Er rief ihr immer wieder zu: »Ms. Bender! Ms. Bender, bitte!«

Alyson faltete die Öffnung der Tüte fest zusammen und eilte aus dem Labor. Sie trug sie in ihr Büro und deponierte sie dort vorsichtig in ihrer Tasche, die auf dem Boden neben dem Schreibtisch stand. Sie ließ die Tasche zuschnappen und schob sie mit dem Fuß unter den Tisch. Danach rannte sie ins Tierlabor zurück. Gerade als sie dort eintraf, kam ihr Vin Drake entgegen.

»Was zum Teufel machst du da?«, fragte er.

»Ich habe nach dir gesucht.«

»Ich habe dir doch gesagt, du sollst in deinem Büro bleiben.« Drake ging zum Terrarium hinüber und entdeckte den leeren Plastikbeutel. »Sie sind weg«, rief er. Er schaute sich im ganzen Labor um und fluchte. Dann stürzte er zu einem Regal voller Chemikalien. Mit einer einzigen Bewegung fegte er alles auf den Boden. Die Glasgefäße zerbrachen, und ihr flüssiger Inhalt spritzte durch den Raum. »Wo sind sie?«

»Vin, bitte, ich weiß es nicht –«

»Von wegen, das glaubst du doch selber nicht«, fauchte er und schaute ins Terrarium hinein, wo er die Schlange bemerkte, deren Kopf immer noch in dem Plastikrohr steckte. Kein Zeichen von Peter. »Was zum – Na ja, dieser Jansen ist auf jeden Fall tot. Die Schlange hat ihn gefressen.« Er warf Alyson einen wütenden Blick zu. »Wir werden den Rest schon finden. Und ich schwöre bei Gott, Alyson, wenn du mich linkst, wird das das Letzte sein, was du je bereuen wirst.«

Sie zuckte zusammen. »Ich verstehe.«

»Das ist auch besser für dich.« In diesem Moment sah er durch das verglaste Laborfenster in Begleitung von Don Makele zwei Polizisten den Gang herunterkommen. Sie waren beide noch jung und trugen keine Uniform, was bedeutete, dass es sich um Kriminalbeamte handelte. Scheiße.

Drake richtete sich auf, drückte den Rücken durch und hatte sich sofort wieder gefasst. Der Wandel geschah so schnell, dass er beinahe unheimlich wirkte. »Hallo, Don«, sagte Drake und ging mit einem herzlichen Lächeln auf den Gang hinaus. »Stellen Sie mich doch unseren Gästen vor. Wir hier bei Nanigen haben nicht oft Besuch. Meine Herren? Ich bin Vin Drake, ich bin der Präsident des Unternehmens. Was kann ich für Sie tun?«

Die Papiertüte steckte immer noch in Alysons Tasche. In ihrem Innern war es stockfinster. Die Studenten und der Nanigen-Mann hatten sich eng aneinandergekauert.

»Ich weiß nicht, ob sie uns nun helfen will oder nicht«, sagte Karen King.

»Sie hat offensichtlich entsetzliche Angst vor Drake«, sagte Peter.

»Wer hätte das nicht?«, meinte Amar.

Rick Hutter seufzte. »Ich habe euch ja gesagt, dass Drake ein Kapitalistendrecksack ist. Nur hat mir keiner zugehört.«

»Halt den Mund, verdammt noch mal!«, schrie ihn Karen an.

»Hey, ich bitte euch«, sagte Amar mit begütigender Stimme. »Nicht jetzt!«

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Karen, um dann fortzufahren: »Wir haben es hier nicht mit einem gewöhnlichen Drecksack zu tun. Das ist ein wirklich kranker Mann.« Sie fingerte an ihrem Messer herum. Als Verteidigungswaffe war es jetzt nutzlos, es würde wahrscheinlich nicht einmal Drakes Haut durchdringen.

Plötzlich hörte man ein donnerndes Geräusch, die Tüte bewegte sich und es schimmerte etwas Licht durch das Papier. Jemand hatte die Tasche geöffnet. Dann gab es einen lauten Knall und alles wurde wieder dunkel. Sie warteten und fragten sich, was als Nächstes geschehen würde.

Alyson Bender wusste, dass man die Studenten möglichst schnell in den Generator zurückbringen musste, damit sie ihre richtige Größe wiedererlangten. Allerdings konnte sie selbst den Generator nicht bedienen. Es war schon längst Feierabend, und die meisten Mitarbeiter waren inzwischen gegangen. Nanigen war fast menschenleer.

Sie fand Drake in der Tierhaltung. Das Gespräch mit den Polizeibeamten war zu Ende, und er suchte gerade sorgfältig das gesamte Labor ab. Er schaute in jede Ecke und jeden Schrank und lugte in jedes Terrarium und jeden Käfig.

Er starrte sie mit eiskalten Augen an. »Hast du sie rausgelassen?«

»Nein, das schwöre ich, Vic.«

»Ich werde morgen eine Generalreinigung dieses Labors veranlassen. Sie werden alle Tiere töten, den gesamten Raum mit Gas sterilisieren und dann mit Bleichmittel auswaschen.«

»Das ist … das ist gut, Vin.«

»Wir haben keine andere Wahl.« Er fasste sie am Arm. »Geh heim und ruh dich etwas aus. Ich bleibe noch eine Weile hier. Wir müssen sie unbedingt finden.«

Sie schaute ihn dankbar an. Dann eilte sie in ihr Büro, schnappte sich ihre Tasche und eilte nach draußen. Mirasol war bereits heimgegangen, der Empfangsbereich leer. Am wolkenlosen Himmel überstrahlte die volle Mondscheibe die Sterne. Sie hätte diese Nacht wohl wunderbar gefunden, wenn ihr Kopf nicht ganz mit dem Chaos beschäftigt gewesen wäre, in das sie da geraten war. Sie stieg in den BMW, der ihr als Firmenwagen zur Verfügung stand. Sie legte die Tasche auf den Beifahrersitz und brauste davon.

Vin ging in die verlassene Lobby zurück, wobei er sich vorsichtig im Schatten hielt. Als er hörte, wie Alyson ihren Wagen anließ und losfuhr, rannte er nach draußen zu seinem Bentley und fuhr ihr hinterher. Wo waren ihre Rücklichter? Er kam zum Farrington Highway. Links oder rechts? Er bog nach links ab. Dort ging es nach Honolulu. Sie würde wahrscheinlich diesen Weg wählen. Als er den Wagen stark beschleunigte, wurde er regelrecht in seinen Sitz hineingepresst, und ein Gefühl von Macht und Stärke stieg in ihm auf.

Da war er ja, der rote BMW, der ebenfalls ziemlich schnell fuhr. Er ließ sich etwas zurückfallen, behielt jedoch dessen Rücklichter im Auge. Kurz darauf bog Alyson auf den H-1 Freeway ein. Der mitternachtsblaue Bentley verschmolz mit der Dunkelheit. Für sie war er jetzt nur noch eines der Scheinwerferpaare hinter ihr in diesem scheinbar unendlichen Verkehrsstrom.

Er hatte die Studenten nicht gefunden. Dafür konnte es nur einen einzigen Grund geben: Alyson hatte sie mitgenommen. Er war sich zwar nicht ganz sicher, aber sein Instinkt sagte ihm, dass es so war.

Er musste sie jetzt vielleicht ausschalten. Er konnte ihr auf keinen Fall mehr vertrauen. Die Frau hatte anscheinend die Nerven verloren. Allerdings wurde es immer komplizierter, alle diese Menschen verschwinden zu lassen. Immerhin war Alyson Bender Nanigens Finanzchefin. Wenn sie jetzt verschwände, würde das zu extrem gründlichen Ermittlungen führen.

Das wollte er auf keinen Fall. Eine Untersuchung der Firma Nanigen würde früher oder später etwas von dem aufdecken, was er getan hatte. Das war unvermeidlich. Gab man ihnen nur genug Zeit, würden sie ihm auf die Schliche kommen.

Nein, solche Ermittlungen konnte er nicht brauchen.

Er begann zu begreifen, dass er einen schrecklichen Fehler gemacht hatte. Er konnte es sich nicht leisten, sie zu töten – wenigstens nicht im Moment. Er musste sie noch einige Zeit auf seiner Seite halten.

Aber wie konnte er das jetzt noch bewerkstelligen?

Alyson umfuhr auf der Autobahn Pearl Harbor. Die ganze Zeit versuchte sie, nicht auf die Tüte auf dem Beifahrersitz zu schauen. Vielleicht hatte Vin recht. Vielleicht hatten sie wirklich keine andere Wahl. Sie nahm die Ausfahrt in Richtung der Innenstadt von Honolulu. Sie war sich nicht sicher, wohin sie sich wenden sollte. Sie fuhr nach Waikiki. Dort fuhr sie langsam in dichtem Verkehr die Kalakaua Avenue hinunter. Überall sah man riesige Touristenscharen, die sich in dieser Gegend einen schönen Abend machen wollten. Sie bog auf die Diamond Head Road ein und fuhr am Diamond-Head-Leuchtturm vorbei. Sie würde die Papiertüte mit zu einem Strand auf der windzugewandten Seite von Oahu oder vielleicht auch zum North Shore nehmen. Dort würde sie die Tüte irgendwo in die Brandung werfen … keine Spuren … keine Überlebenden …

Drake beobachtete immer noch ihren Wagen, ohne zu dicht aufzufahren. Sie fuhr am Makapu’u Point vorbei durch Waimanalo und Kailua. Dann drehte sie jedoch plötzlich um, nahm die nächste Autobahnauffahrt und fuhr zurück Richtung Honolulu. Wohin zum Teufel will diese Frau?, fragte er sich.

Nachdem sie um das ganze Ostende von Oahu herumgefahren war und zum zweiten Mal Honolulu durchquert hatte, folgte Alyson schließlich der Manoa Valley Road, die zu dem gleichnamigen Regenwaldtal in den Bergen hinaufführte.

Schließlich kam sie am Stahltor und dem Tunnel an. Das Tor war verschlossen. Sie tippte den Sicherheitscode ein und fuhr hindurch. Hinter dem Tunnel erreichte sie das samtdunkle Tal.

Der Ort war völlig menschenleer. Die Gewächshäuser schimmerten ganz schwach im Mondlicht. Sie öffnete ihre Tasche, holte die Tüte heraus und stieg aus dem Auto. Sie wagte es jedoch nicht, die Tüte selbst zu öffnen. Sie waren wahrscheinlich inzwischen tot, ob nun erdrückt oder erstickt. Aber wenn dem nicht so war und sie sie vielleicht anflehen würden? Das wäre noch schlimmer, als wenn sie tot wären. Sie stand auf dem Parkplatz und wusste nicht, was sie tun sollte.

Plötzlich kamen Scheinwerfer aus dem Tunnel.

Jemand war ihr gefolgt.

Sie stand da, mit der Tüte in der Hand, starr vor Schreck und geblendet von den Scheinwerfern des Firmen-Bentleys.

Загрузка...