Kapitel 42 WAIKIKI

31. OKTOBER, 23:00 UHR

Eric Jansen hatte sich spätabends am Kapiolani Boulevard noch etwas zum Essen besorgt und war jetzt mit einer Styroporbox voller Kalua-Schweinefleisch und Reis auf dem Rückweg zu seinem Apartment. In der Einfahrt grüßte er zwei Männer, die auf Klappstühlen neben ihrem bunten Pick-up saßen, Bier tranken und Musik hörten. Er ging zum hinteren Teil des Hauses und stieg die Treppe zu seinem Apartment hoch, das im ersten Stock lag.

Er betrat seine möblierte Zweizimmerwohnung. Eric setzte sich an einen kleinen Tisch, öffnete die Box und begann zu essen. Dann fiel ihm ein, dass er vielleicht doch nachsehen sollte, ob es etwas Neues gab. Immerhin war er über eine Stunde fort gewesen. Er ging ins Schlafzimmer und öffnete die Schublade einer Kommode. Darin lagen ein Laptop und daneben ein Metallkasten, der dicht mit Elektronikteilen bepackt war. Außerdem befanden sich in dieser Schublade noch ein elektrischer Lötkolben, Schneidewerkzeuge, eine Zange, Klebeband und eine Rolle Lötdraht.

Ein Lämpchen auf dem Kasten blinkte. Das bedeutete, dass jemand innerhalb des firmeninternen Kommunikationsnetzes einen Notruf abgesetzt hatte. Scheiße, den hatte er verpasst.

Die Botschaft war verschlüsselt. Er tippte einen Befehl in seinen Laptop und ließ das Entschlüsselungsprogramm laufen, das er sich vom Nanigen-VPN heruntergeladen hatte. Es brauchte eine Minute, bis das Gespräch entschlüsselt war. Dann hörte er den Stimmen zu, die aus seinem Laptop kamen.

»Sie sagen, Sie sind in der Tantalus-Basis?«

»Nicht ganz. Wir sind in Ben Rourkes Festung.«

»Was?«

»Er hat alle möglichen Geräte –«

»Sie wollen mir erzählen, dass Ben Rourke noch lebt?«

»Allerdings! Und er mag Sie nicht besonders, Mr. Drake.«

Eric beugte sich über die Kommode und hörte noch aufmerksamer zu. Dieser Notruf war über die Videolink-Verbindung mit Tantalus gelaufen. Er konnte zwar das Bild nicht empfangen, aber der Ton war deutlich hörbar. Die Stimmen sprachen weiter miteinander:

»Und was ist mit den anderen?«

»Sie sind alle tot, Mr. Drake.«

»Auch Peter Jansen?«

»Ja.«

»Sind Sie sicher, dass er tot ist?«

»Er wurde erschossen. Seine Brust ist explodiert. Ich habe es selbst gesehen.«

Eric rang nach Luft, als ob man ihm einen Fausthieb versetzt hätte. »Nein!«, rief er. Er schloss die Augen. Er ballte die Faust und schlug sie auf die Kommode. »Nein!« Er drehte sich um und hämmerte mit beiden Fäusten auf das Bett ein. Er packte einen Stuhl und warf ihn an die Wand. Danach setzte er sich aufs Bett und vergrub sein Gesicht in den Händen. »Peter … o Peter … Zur Hölle mit dir, Drake.«

Aber Eric Jansen klagte nicht sehr lange. Dazu hatte er im Moment keine Zeit. Er stand auf, ließ noch einmal das Playback ablaufen und achtete dabei auf das Ende der Aufzeichnung: »Wenn Sie sich dem Diamond Head nähern, werden Sie ein hell und regelmäßig blinkendes Licht sehen. Das ist der Diamond-Head-Leuchtturm. Fliegen Sie auf ihn zu.«

Er hatte den ganzen firmeninternen Datenverkehr überwacht und auf Nachrichten über seinen Bruder und die anderen Forschungsstudenten gewartet und gehofft. Er nahm an, dass Drake sie irgendwo ausgesetzt hatte, vielleicht im Arboretum, wenngleich er sich da nicht sicher sein konnte. Er war mit seinem Pick-up dorthin gefahren, durch den Tunnel ins Tal gegangen und hatte mit seiner Ausrüstung die Umgebung abgehört, aber überhaupt nichts aufgefangen. Trotzdem hatte er gehofft, dass Peter früher oder später wieder auftauchen würde. Er hatte auf Peters Einfallsreichtum vertraut. Er hatte gewartet und gehofft, er könne Peter und die anderen retten.

Er hatte einen schrecklichen Fehler begangen. Er hätte sofort zur Polizei gehen sollen, selbst wenn das seinen eigenen Tod besiegelt hätte.

Das abgehörte Gespräch hatte vor fast einer Stunde stattgefunden. Verdammt! Und er hatte wertvolle Zeit mit Essenholen vergeudet! Eric fluchte, zog die Schublade auf, holte den Laptop und den Elektronikkasten heraus und rannte damit die Treppen hinunter. In der Einfahrt saßen die beiden Typen immer noch neben ihrem geparkten Pick-up. Eric hatte keinen eigenen Wagen. Er hatte mit einem der Männer vereinbart, dass er seinen Pick-up benutzen könne, wenn er ihn brauchte. Dafür würde er ihm jedes Mal fünfzig Dollar zahlen. Er reichte ihm also auch jetzt wieder ein paar Scheine, stieg ein und legte seine Ausrüstung auf den Beifahrersitz.

»Wann kommst du wieder?«

»Weiß ich nicht.« Er ließ den Motor an.

»Alles in Ordnung, Kumpel?«

»Todesfall in meiner Familie.«

»Oh, tut mir leid, Mann.«

Er bog in die Kalakaua Avenue ein und bemerkte sofort, dass er einen Fehler gemacht hatte. Die Kalakaua war die Hauptstraße von Waikiki. Eine Menge Leute waren hier unterwegs, zu Fuß oder mit dem Auto. Er hätte den anderen Weg, am Diamond-Head-Krater vorbei, nehmen sollen. Aber der wäre wahrscheinlich genauso verstopft gewesen. Als er im Schneckentempo über die vielen Ampeln und an den großen Hotels vorbeischlich, begann er wieder zu weinen. Dieses Mal unterdrückte er es nicht. Es ist alles meine Schuld, warf er sich vor. Mein Bruder ist tot, und ich bin daran schuld.

Drake hatte Erics Ermordung genau geplant und sogar Sicherungen eingebaut, damit dieser auf keinen Fall davonkam. Eric wusste zwar nicht genau, wie Drake das angestellt hatte, aber plötzlich setzte der Bootsmotor mitten in der Brandung aus. Außerdem hatte er irgendetwas so manipuliert, dass es zwei Hellstorms auf Eric losließ. Die Killerroboter flogen plötzlich aus der Kombüse, nachdem der Motor ausgesetzt hatte. Zuerst hatte Eric sie für Fliegen oder Motten gehalten, aber dann hatte er die Propeller und die Munition gesehen. Selbst nachdem er über Bord gesprungen war, waren ihm die Killerroboter nachgeflogen. Er musste eine ganze Strecke durch das Wasser tauchen, um ihnen zu entgehen. Kurz vor seinem Sprung hatte er Peter noch eine SMS geschickt, er solle nicht herkommen, aber er hatte keine Zeit mehr gehabt, das näher zu erklären.

Eric war ein guter Schwimmer und wusste, wie man sich in der Brandung bewegen musste. Er hatte keine Rettungsweste angezogen, damit er unter den schweren Brechern hindurchtauchen konnte. Die Killerroboter hätten ihn auf jeden Fall erwischt, wenn er auf dem Wasser getrieben wäre. Nur in der Brandung war er sicher. Schließlich schwamm er in eine kleine Bucht hinein, in der ein schwer zugänglicher Strand lag, den die Einheimischen Secret Beach nannten. Dieser Strand war vom oberen Rand der Steilküste aus nicht einsehbar. Man konnte ihn nur über einen steilen Wanderweg erreichen.

Er war am Secret Beach jedoch erst dann an Land gegangen, als er sich relativ sicher sein konnte, dass ihn niemand dorthin schwimmen gesehen hatte. Danach hatten ihn ein paar einheimische Jungs in ihrem Wagen nach Honolulu mitgenommen. Sie hatten keine Fragen gestellt und sich einen Dreck dafür interessiert, wo er gerade herkam. Danach hielt er es für keine gute Idee, zur Polizei zu gehen. Die würde ihm seine Geschichte niemals glauben – winzige fliegende Roboter, die sein Unternehmenschef ausgesandt hatte, um ihn zu töten. Sie hätten ihn sicher für schizophren erklärt. Wenn er zur Polizei ginge, würde Drake außerdem erfahren, dass er noch lebte, und würde noch mehr Hellstorms losschicken. Dann hätte er ganz bestimmt nicht mehr lange zu leben gehabt. In Honolulu war er nicht in sein Apartment zurückgekehrt. Drake hätte ihm dort eine Falle stellen können. Stattdessen war er zu einem Pfandleiher gegangen und hatte ein paar Tausend Dollar für seine Hublot-Armbanduhr herausgeschlagen. Er musste sich verstecken und sich überlegen, wie er Drake auffliegen lassen konnte. Er mietete sich in eine heruntergekommene Bude ein und bezahlte in bar.

Als Nanigens für technische Fragen zuständiger Vizepräsident wusste Eric Jansen eine Menge über das Kommunikationsnetz des Unternehmens. Der Studienabschluss in Physik war auch praktisch. Nach einer Einkaufstour in einem Elektronikmarkt bastelte er sich ein Funkabhörgerät. Er begann, die firmeninternen Nanigen-Kanäle abzusuchen. Dabei erfuhr er, dass sein Bruder in Hawaii angekommen, dann jedoch zusammen mit den anderen Studenten verschwunden war. Er vermutete, dass Drake hinter dieser Sache steckte. Er glaubte allerdings nicht, dass Drake sie ermorden würde. Das wäre zu offensichtlich gewesen, und Drake war zweifellos clever. Eric nahm deswegen an, dass Drake sie zeitweise in der Mikrowelt hatte verschwinden lassen und sie schließlich wieder auftauchen würden.

Eric hatte danach ständig darauf gewartet, dass sein Bruder zurückkehren würde. Er hatte großes Vertrauen in ihn gesetzt. Er dachte, Peter würde das durchstehen, irgendwann wieder zum Vorschein kommen, und er, Eric, würde ihn dann retten. Wenn sie danach beide gemeinsam zur Polizei gingen, könnten sie zwei Zeugenaussagen über Drakes Verbrechen abliefern, die sich gegenseitig ergänzen würden.

Aber es sollte nicht sein.

Er hatte es verpatzt. Er hätte sofort zur Polizei gehen sollen, selbst wenn die ihm nicht geglaubt hätte und selbst wenn das bedeutet hätte, dass Drake ihn doch noch getötet hätte. Er hätte vielleicht Peter das Leben retten können. Die wahre Ursache des Problems war das Omicron-Projekt. Eric hatte sorgfältig darauf achtgegeben, Peter nicht zu erzählen, was er über das Projekt Omicron herausgefunden hatte. Eric hatte versucht, seinen jüngeren Bruder zu schützen. Aber es hatte nichts genutzt. Er wünschte sich wirklich, er wäre tot und nicht Peter.

Schließlich nahm er eine Abkürzung durch den Kapiolani-Park. Endlich konnte er aufs Gas treten. Während er um die anderen Autos herumkurvte, hoffte er, doch noch rechtzeitig am Leuchtturm anzukommen.

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