31. OKTOBER, 13:00 UHR
Mutter Natur, am Arsch«, murmelte Danny Minot. »Nichts als Monster mit unersättlichem Appetit.« Er trottete langsam vorwärts, schleifte seine mit Gras umwickelten Füße über den Boden und hielt sich schützend seinen geschwollenen Arm. Der schien sogar noch dicker geworden zu sein, so dick, dass sein Hemdsärmel bereits die ersten kleinen Risse zeigte. Rick Hutter und Karen King gingen neben ihm her. Rick trug den Rucksack, und Karen hielt eine Machete kampfbereit in der Hand. Sie waren die letzten drei Überlebenden. Sie stapften über ein riesiges Stück Land, das mit Sand und Geröll bedeckt war. Der Rand des Tantalus-Kraters. Das offene Land erstreckte sich bis zu einer buschigen Bambusreihe, die sich in einiger Entfernung zu ungeheurer Höhe auftürmte. Durch eine Lücke im Bambus war ein einzelner Felsbrocken von der Größe eines Bergs zu erkennen, der mit Moos bedeckt und von unzähligen Rinnen zerfurcht war. Der Felsen schien zumindest für Menschen ihrer Größe noch etliche Kilometer entfernt zu sein.
Die Sonne brannte auf sie nieder. Seit vielen Stunden hatte es über dem Tantalus nicht mehr geregnet. Sie wurden immer durstiger. Ihre kleinen Körper verloren sehr schnell Feuchtigkeit.
Karen fühlte sich ziemlich schutzlos. Sie gaben leichte Ziele ab. Sie bewegten sich über ein Ödland, in dem es keinerlei Deckung gab. Als ein Vogel über sie hinwegflog, zuckte sie zusammen und umklammerte ihre Machete. Diesmal war es jedoch kein Maina, sondern ein Habicht, der über dem Tantalus seine Kreise zog. Mikromenschen waren für eine anständige Habichtmahlzeit viel zu klein – zumindest hofften sie das.
»Alles in Ordnung, Karen?«, fragte Rick.
»Hör auf, dir Sorgen zu machen um mich.«
»Aber –«
»Mir geht’s gut. Kümmere dich lieber um Danny. Der sieht schlecht aus.«
Danny hatte sich auf einen Stein gesetzt und schien nicht mehr weiterzukönnen. Er streichelte seinen verletzten Arm und zog die Schlinge zurecht. Er war ganz weiß im Gesicht.
»Alles okay, Mann?«
»Wie ist diese Frage zu verstehen?«
»Was macht dein Arm?«
»Dem fehlt nichts!« Eine Sekunde später schaute Danny seinen Arm entsetzt an. Ein Muskel in seinem Arm verkrampfte sich sichtbar, spannte den Hemdstoff an, entspannte sich wieder und drückte erneut gegen den Stoff. Das Ganze schien willkürlich passiert zu sein. Danny hatte offenbar die Kontrolle über seine Muskeln verloren.
»Warum macht er das?«, fragte Rick, als die Spasmen sich wellenförmig über den ganzen Arm bewegten. Der Arm schien ein Eigenleben zu haben.
»Er macht gar nichts«, beharrte Danny.
»Aber Danny, er zuckt doch –«
»Nein!«, schrie Danny, stieß ihn weg, drehte Rick den Rücken zu, hielt dabei seinen Arm und wiegte ihn mit seinem gesunden, als ob er einen Football vor dem Gegner beschützen wollte. Rick vermutete allmählich, dass Danny jede motorische Kontrolle über seinen Arm verloren hatte.
»Kannst du deinen Arm überhaupt noch bewegen?«
»Das habe ich doch gerade getan.«
Plötzlich hörte man ein Geräusch, als ob etwas zerreißen würde. Danny begann, laut zu stöhnen. »Nein … nein …« Sein Hemdsärmel riss endgültig auf. Das Gewebe war verrottet, und der ganze Stoff war durch den immer stärker anschwellenden Arm übermäßig strapaziert worden. Als der Ärmel aufplatzte, offenbarte sich ein schrecklicher Anblick. Die Haut war transparent geworden wie eingeöltes Pergament. Unter der Haut waren fette, weiße, eiförmige Wesen zu sehen, die manchmal ganz leicht zuckten. Sie sahen irgendwie zufrieden aus.
»Die Wespe hat Eier gelegt«, sagte Rick. »Sie war ein Parasit.«
»Nein!«, schrie Danny entsetzt.
Diese Wesen waren erst vor Kurzem aus ihren Eiern geschlüpft. Es waren Wespenlarven. Sie ernährten sich vom Muskelgewebe seines Arms. Danny starrte ihn fassungslos an, hielt ihn und stöhnte. Dieses platzende und pochende Geräusch in seinem Arm – das waren die Larven gewesen, die sich aus ihren Eiern herausgearbeitet hatten. Jetzt gruben und fraßen sie sich durch ihn hindurch. Er wimmerte und begann zu schreien. »Sie werden mich auffressen!«
Rick versuchte, ihn zu beruhigen. »Wir verschaffen dir ärztliche Hilfe. Wir sind fast bei der Tantalus–«
»Ich sterbe!«
»Sie werden dich nicht töten. Das sind Parasiten. Sie wollen, dass du am Leben bleibst.«
»Warum?«
»Damit sie sich weiterhin von dir ernähren können –«
»Oh Gott, oh Gott …«
Karen half ihm auf. »Auf geht’s. Wir müssen weiter.«
Sie zogen los, aber Danny hielt sie immer wieder auf. Er stolperte durch die Gegend und setzte sich alle paar Minuten hin. Er konnte seine Augen nicht mehr von seinem Arm wenden, als ob ihn diese Larven hypnotisiert hätten.
Auf halbem Weg kamen sie zu einer Art Röhre, die aus Lehmklümpchen hergestellt worden war, die durch irgendeine Substanz zusammengehalten wurden. Die Röhre kam wie ein gebogener Kamin aus der Erde hervor.
»Ich wünschte, Erika wäre jetzt hier«, sagte Karen. »Sie hätte uns vielleicht sagen können, wer das gemacht hat.«
Sie mussten annehmen, dass dieser Lehmkamin etwas Gefährliches, wahrscheinlich irgendein Insekt, beherbergte. Sie umgingen ihn in weitem Bogen, immer bereit, sich blitzschnell eine Deckung zu suchen, wenn sich etwas bewegen sollte. Sie kamen dem Großen Felsen immer näher.
Sie war eine Mutter. Wie die Schmetterlinge ernährte sie sich nur von Blütennektar. Trotzdem war sie ein Raubtier. Sie jagte für ihre Babys, die lebten nämlich von Fleisch. Wie alle Beutegreifer war sie intelligent, lernfähig und hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Tatsächlich verfügte sie sogar über neun Gehirne. Ihr Zentralnervensystem bestand aus einem Haupthirn und acht kleineren »Gehirnen«, Nervenknoten oder Ganglien, die paarig wie an einer Strickleiter angeordnet waren, die sich durch den ganzen Körper zog. Unter den Insekten gehörte sie zu den klügsten.
Sie hatte sich nur ein einziges Mal mit ihrem Gatten gepaart, der nach dem Sex mit ihr sofort gestorben war. Sie war eine Königin, die ihr ganzes Leben in der Einsamkeit verbrachte. Sie war eine Solitärwespe.
Sie kletterte aus ihrem Kamin heraus und schaute auf zur Sonne. Zuerst erschien ihr Kopf, danach ihr Körper. Ihre Flügel hatte sie normalerweise wie einen zusammengeklappten Damenfächer flach auf dem Rücken gefaltet. Jetzt klappte sie sie auf und ließ sie ganz leicht vibrieren, um ihre Muskeln im Sonnenlicht aufzuwärmen.
Als die Wespe aus dem Kamin hervorkam, erstarrten die drei Menschen. Dieses Insekt war wirklich riesig, sein gegliederter Hinterleib gelb und schwarz gestreift. Die Wespe entfaltete ihre Flügel, bewegte sie mit lautem Donnern und schwang sich in die Lüfte, während ihre Beine herunterbaumelten.
»Runter!«
»Volle Deckung!«
Die Menschen warfen sich auf den Boden und begannen, auf alles zuzukriechen, was ihnen als Deckung dienen konnte, ob nun einzelne Grasbüschel oder Steinchen im Sand.
Die Wespe bemerkte die Menschen zunächst nicht. Nach ihrem Start vom Kamin flog sie zuerst in einem Zickzackmuster über das Gelände, um sich auf einen Jagdflug vorzubereiten. Während dieser Orientierungsphase schaute sie auf den Boden hinunter und inspizierte jedes Detail. In ihrem Gedächtnis war ein genauer Plan des gesamten umliegenden Terrains gespeichert.
Jetzt bemerkte sie jedoch etwas Neues.
Im von ihrem Kamin aus südöstlichen Quadranten befanden sich drei Objekte. Diese Objekte waren lebendig. Sie krochen über den Boden. Sie sahen wie Beute aus.
Sie änderte sofort ihre Flugbahn und startete einen Angriff.
Die Wespe flog einen Bogen und stürzte herab. Sie wählte sich Rick Hutter aus und landete über ihm.
Er rollte sich auf den Rücken und schwang seine Machete, während die Wespe mit schlagenden Flügeln genau über ihm stand. Sie umfasste ihn ganz leicht mit ihren Mandibeln.
»Rick!«, rief Karen und rannte mit hoch erhobener Machete auf ihn zu.
Er konnte nicht mehr atmen. Die Mandibeln hatten ihm die Luft aus den Lungen gepresst. Aber irgendwie hatten sie ihn nicht durchstochen. Die Wespe behandelte ihn für ihre Verhältnisse äußerst sanft.
Jetzt bog sie ihren Hinterleib unter ihren Körper, fuhr ihren Stachel aus und zielte damit auf Rick. Panzerplatten an der Spitze ihres Abdomens zogen sich auseinander, und zwei weiche fingerartige Gebilde, die mit Sinneshärchen bedeckt waren, fuhren aus und bewegten sich hin und her. Diese weichen Finger waren die Stachelpalpen. Die Taster fuhren ganz leicht über Hutters Hals und Gesicht und prüften den Geschmack seiner Haut.
Sie mochten, was sie da schmeckten.
Der Stich erfolgte ganz schnell. Zwei Stacheln in einer Röhre traten aus einem Loch unterhalb der Taster hervor. Die Stachelrinne stach in Ricks Armbeuge. Dabei stießen die beiden Stechborsten in ihn hinein, zuerst die eine, dann die andere, und bewegten sich dann im Tandem vor und zurück, während sie sich immer weiter nach innen vorarbeiteten.
Rick fühlte, wie die Nadeln in ihn eindrangen. Der Schmerz war fast unerträglich. Er rang nach Luft.
Karen warf sich, die Machete schwingend, auf die Wespe, kam jedoch zu spät. Die Wespe stieg wieder in die Luft, wobei sie Rick mit ihren Beinen umklammerte. Karen sah, wie er noch kurze Zeit mit den Beinen um sich trat. Aber dann wurde sein Körper schlaff.
Die Wespe landete auf ihrem Kamin. Sie schob ihn hinein und drückte ihn mit ihrem Kopf den engen Kaminschacht hinunter. Danach schlüpfte sie selbst durch den Kamin. Ihr gestreifter Hinterleib verschwand in dessen Öffnung. Zuletzt war nur noch ihr Stachel zu sehen.
Eng zusammengekauert saßen Karen und Danny, die beiden letzten Studenten, im Sand und besprachen, was sie nun tun sollten.
»Rick ist tot«, sagte Danny Minot.
»Woher willst du das wissen?«, sagte Karen King.
Danny rollte die Augen.
Sie wünschte wirklich, dass Erika Moll noch da wäre. Erika hätte vielleicht mehr über diese Wespe gewusst. »Er könnte immer noch leben.«
Danny stöhnte nur.
Sie zermarterte sich das Gehirn und versuchte sich daran zu erinnern, was sie im Anfängerkurs Entomologie über Wespen gelernt hatte. »Das war eine Solitärwespe, glaube ich.«
»Na wenn schon. Lass uns weitergehen.«
»Warte!« Dieser Collegekurs über Insekten, an dem sie teilgenommen hatte … »Solitärwespen – das sind Weibchen, natürlich. Sie bauen ein Nest für ihre Jungen. Und sie lähmen ihre Beute, glaube ich. Aber sie töten sie nicht. Sie verfüttern sie an ihre Jungen.« Sie hatte allerdings keine Ahnung, mit welcher Wespenart genau sie es hier zu tun hatte oder wie diese wirklich lebte.
»Komm schon, weiter jetzt!« Danny stand auf und machte sich wieder auf den Weg.
Karen zog ihre Machete aus der Scheide.
»Was machst du denn da?«, rief Danny.
»Rick hat mir das Leben gerettet«, sagte Karen.
»Du bist verrückt.«
Sie gab keine Antwort. Sie holte den Diamantschärfer aus ihrem Rucksack und schliff damit die Schneide ihrer Machete. »Diese Schlampe hat Rick.«
»Nein, Karen! Mach das nicht!«
Karen ignorierte ihn. Sie holte aus ihrem Rucksack zwei Headsets und eine Stirnlampe heraus. Das zweite Headset reichte sie Danny. »Setz das auf.« Sie stand auf und lief zu dem Kamin hinüber. Dann sprach sie in ihr Sendemikrofon hinein: »Hörst du mich, Danny?«
Der lag im Schatten einer kleinen Pflanze auf dem Bauch. »Du spinnst!«, rief er ihr über Funk zu.
Sie legte ihr Ohr an den Kamin. Er bestand aus getrocknetem Lehm und hatte einen seltsamen Geruch. Ein Klebstoff aus Insektenspeichel. Unter ihren Füßen konnte sie ein langsames tiefes Brummen spüren, das den Boden vibrieren ließ. Es stammte von den unterirdisch schlagenden Wespenflügeln. Da unten befand sich also ein Nest. Das Brummen dauerte noch eine ganze Zeit an. Dann begann sich das Geräusch in Richtung Oberfläche zu bewegen und kam näher. Die Wespe kletterte gerade durch den Kamin aus ihrem Nest heraus.
Karen stellte sich auf die im Schatten liegende Seite des Kamins und versuchte, möglichst mit ihrer Umgebung zu verschmelzen.
Gerade als sie sich eng an den Kamin drückte, tauchte der Kopf der Wespe aus dessen Öffnung auf. Zwei halbkreisförmige Facettenaugen starrten sie an. Sie war sich sicher, dass die Wespe sie bemerkt hatte. Aber diese reagierte nicht auf sie. Stattdessen hob sie ab. In der Luft flog sie zuerst in einem Z-Muster hin und her, um sich zu orientieren. Dann raste sie in Richtung Nordwesten davon. Sie war auf dem Weg zu irgendwelchen entfernten Jagdgründen.
Als die Wespe nur noch ein kleiner Punkt am Horizont und dann ganz verschwunden war, trat Karen einen Schritt zurück, holte aus und begann, mit der Machete in den Kamin zu hacken. Sie schlug ihn in kleine Stücke, bis er fast vollständig verschwunden war. Dabei schaute sie die ganze Zeit nach Nordwesten. Sie hatte Angst, dass die Wespe plötzlich wieder auftauchen könnte. Aber der Himmel blieb leer. Sie räumte die letzten Lehmklumpen beiseite und sprang dann mit den Füßen voraus in den Tunnel hinein.
»Verlass mich nicht!«, schrie ihr Danny hinterher.
Karen rückte ihr Headset zurecht und funkte ihn an. »Kannst du mich hören?«
»Du wirst sterben, Karen. Und dann habe ich niemand mehr –«
»Funk mich an, wenn du etwas siehst.«
»Ohhh …«
»Alles klar. Over«, sagte Karen und brach die Übertragung ab. Sie musste sich beeilen, musste möglichst schnell Rick finden und ihn nach draußen bringen. Die Wespe konnte jeden Moment zurückkehren.
Der Tunnel hatte runde Wände, die mit gehärtetem Lehm ausgekleidet waren. Er führte steil nach unten. Karen folgte ihm mit den Füßen voraus auf ihren Händen und Ellbogen. Hier drinnen war es ziemlich eng. Eine Weile drang zwar durch die Öffnung hinter ihr noch etwas Tageslicht herein, aber je tiefer sie sich in den Untergrund vorarbeitete, desto dunkler wurde es. Sie schaltete ihre Stirnlampe ein. Der Tunnel strömte einen penetranten, aber gar nicht einmal unangenehmen Geruch aus. Das waren wahrscheinlich die Pheromone der Wespenmutter, nahm Karen an. Dem Geruch war jedoch auch ein widerlicher, ranziger Gestank beigemischt, der stärker wurde, je tiefer sie in den Untergrund vorstieß.
Plötzlich gelangte sie zu einem Steilabsturz. Der Tunnel ging jetzt gerade nach unten wie ein senkrechter Schacht. Als sie hinunterschaute, schnürte ihr die Platzangst fast die Kehle zu. Ein dunkles Loch, das in das absolute bodenlose Nichts hinabzustürzen schien. Rick ist ausgerechnet da unten, das ist mal wieder typisch, dachte sie. Aber er hat mir das Leben gerettet. Eine Schuld, die ich zurückzahlen muss. Und dabei mag ich den Typ nicht einmal.
Sie verdrehte ihren Körper, um sich durch das an dieser Stelle besonders enge Tunnelstück hindurchzuarbeiten, setzte sich dann auf den Rand des Lochs und ließ ihre Füße baumeln. Dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und ließ sich in den Schacht hinab. Dabei presste sie ihre Hände und Knie an dessen Wände. Keinesfalls wollte sie einfach so hinunterfallen. Sie könnte nämlich ganz leicht in diesem Schacht stecken bleiben und nicht wieder herauskommen. Der Gedanke, in einem senkrechten Schacht festzustecken, während eine riesige Wespe zu ihr herunterstieg … nein. Daran durfte sie nicht einmal denken.
Draußen im Freien schaute Danny Minot im Rucksack nach etwas Essbarem. Er musste bei Kräften bleiben. Nicht dass das noch eine Rolle gespielt hätte, er war ja sowieso schon tot. Er nahm sein Headset ab und legte es neben sich. Dann inspizierte er wieder einmal seinen Arm. Das Ganze war so schrecklich.
Das Funkgerät meldete sich. Er hob es auf. »Was ist los?«
»Siehst du etwas?«
»Nein, überhaupt nichts.«
»Hör zu, Danny. Halte die Augen offen. Wenn du die Wespe siehst, sag’s mir, damit ich noch rechtzeitig hier rauskomme. Das ist auch in deinem Interesse.«
»Mach ich, mach ich.« Er zog das Headset auf und setzte sich, mit dem Rücken an einen Stein gelehnt, in den Schatten. Er schaute nach Nordwesten, wo die Wespe verschwunden war.
Karen erreichte den Boden des Kamins. Hier wurde er etwas breiter und machte dann eine scharfe waagerechte Biegung. Sie kroch um diese Biegung herum. Der Tunnel öffnete sich jetzt zu einer Kammer, die sie mithilfe ihrer Stirnlampe genau untersuchte. Sternförmig gingen von ihr etwa zwei Dutzend Tunnel aus. Jeder von ihnen führte in die Dunkelheit.
»Rick?«
Er steckte wohl in einem dieser Tunnel. Wahrscheinlich war er bereits tot.
Sie kroch in einen von ihnen hinein. Nach kurzer Zeit endete er an einer Mauer. Diese war fast provisorisch aus Sandkörnern und kleinen Steinchen errichtet worden, die vom Insektenspeichel zusammengehalten wurden. Sie war nicht einmal massiv, sondern wies zahlreiche kleine Löcher und Spalten auf. Karen leuchtete mit ihrer Stirnlampe durch eine Ritze, um zu schauen, was dahinter lag.
Sie begriff, dass die Lücken in dieser Wand tatsächlich Atemlöcher waren. Durch die Löcher klangen mahlende und schlürfende Geräusche herüber, die immer wieder durch ein leises Klicken unterbrochen wurden. Übler Verwesungsgeruch wehte aus ihnen heraus. Die Geräusche und der Geruch vermittelten Karen den Eindruck, dass in dem Raum jenseits dieser locker vermauerten Öffnung etwas sehr Hungriges lebte.
»Rick!«, rief sie. »Bist du da?«
Das Klicken hörte einen Moment auf, dann kam es wieder. Ansonsten keine Antwort.
Sie legte ihr Auge an einen Spalt und leuchtete mit ihrer Lampe in den dunklen Raum hinein. Das Licht fiel auf eine gleißende Oberfläche, die die Farbe von altem Elfenbein hatte und in einzelne Segmente aufgeteilt war. Diese Segmente bewegten sich eines nach dem anderen am Spalt vorbei. Das ging eine ganze Weile so, als ob ein U-Bahn-Zug an einer Sichtöffnung vorbeifahren würde. Sie konnte jemand oder etwas atmen hören, aber es war ganz bestimmt kein Mensch. Am meisten erschreckte sie die Größe dieses Dings da drinnen. Es schien so groß wie ein Walross zu sein.
Und das war nur einer von vielen, vielen Tunneln. Sie kroch in die Hauptkammer zurück und von dieser in den nächsten Tunnel hinein. Auch hier versuchte sie wieder durch ein Loch im verbarrikadierten Tunnelende zu spähen. »Rick?«, rief sie. »Kannst du mich hören?«
Als sie jetzt Danny Minots Stimme in ihrem Headset vernahm, klang sie leise und krächzend. Die Übertragung wurde immer schlechter, je tiefer Karen in der Erde steckte. »Was ist los da unten?«, fragte er.
»Ich habe eine große Kammer erreicht, von der mindestens zwanzig Tunnel in alle Richtungen ausgehen. Jeder Tunnel führt zu einer Zelle. Und in jeder Zelle steckt eine Larve, glaube ich –«
Sie begann, mit ihrer Machete den von Insektenspeichel zusammengehaltenen Lehm einer solchen Tür zu durchschlagen. »Rick!«, rief sie. »Bist du da drin?« Vielleicht hört er mich, kann aber nicht sprechen. Vielleicht ist er schon tot. Vielleicht sollte ich schnellstens von hier verschwinden. Aber einmal versuche ich es noch. Sie vergrößerte die Öffnung, bis ihr Körper hindurchpasste. Dann kroch sie in die Zelle hinein.
In dieser Zelle hauste eine Wespenlarve, die größer war als sie, ein dicker Fett- und Eiweißkloß mit einem blinden, augenlosen Kopf. Die Larve fauchte und atmete schwer. Ihr Mund war von zwei schwarzen Fresszangen eingefasst. Die Wespenmutter hatte ihrem Kind einen ganzen Haufen leckerer Speisen zurückgelassen. Dazu gehörten zwei Raupen, eine Koa-Schildwanze und eine Spinne. Der Raum war übersät mit zerbrochenen Insektenpanzern, an denen kein Fetzchen Fleisch mehr hing. Außerdem lagen dort drei vollständige Insektenköpfe, die die Larve offensichtlich verschmäht hatte und die jetzt ganz langsam verwesten und einen schrecklichen Gestank verströmten.
Karen versuchte, den böse aussehenden Mundwerkzeugen der Larve nicht zu nahe zu kommen. Die war jedoch sowieso damit beschäftigt, sich in die Koa-Schildwanze hineinzuwühlen.
Karen lauschte aufmerksam. Sie hörte, wie die Luft ganz leise in die Löcher in den Außenskeletten der Futtertiere hineinströmte. Gut. Das bedeutete nämlich, dass diese zwar gelähmt waren, aber noch lebten. Rick könnte also auch noch am Leben sein. Die gelähmte Spinne blieb totenstill, und ihre acht Augen schauten glasig. Nur wenn man genau hinschaute, merkte man, dass sich ihr Hinterleib ganz leicht hob und senkte, wenn sie atmete.
Die Larve schüttelte den Kopf, riss mit ihren Mandibeln ganze Streifen Fleisch aus der Koa-Schildwanze heraus und saugte sie dann hinunter wie Spaghetti. Auch die Koa-Schildwanze atmete noch.
Karen musste gegen den Drang ankämpfen, ihre Machete in die Larve zu stoßen. Eigentlich wollte sie dieses schreckliche Ding töten, aber dann sah sie doch davon ab. Auch diese Wespenlarve war ein Teil der Natur. Das hier war genauso wenig »böse« wie ein Löwenjunges, das sich von dem Fleisch ernährte, das ihm eine Löwin gebracht hatte. Wespen waren die Löwen der Insektenwelt. Dabei waren sie auch ausgesprochen nützliche Tiere, sie hielten die Populationen der pflanzenfressenden Insekten in Schach, genauso wie die Löwen in ihrer Welt für ein gesundes Ökosystem sorgten. Gleichwohl konnte sich Karen nicht mit der Vorstellung anfreunden, dass eine solche Wespe auch noch Rick verspeiste.
Sie kroch aus dieser Zelle heraus und ging in den nächsten Tunnel hinein. Wieder rief sie durch ein Atemloch, um es dann so weit zu vergrößern, dass sie in die anschließende Zelle hineinklettern konnte. Dort fand sie eine weit entwickelte Larve vor, die gerade ihre letzte Raupe verputzte, nachdem sie bereits alle anderen Vorratstiere aufgefressen hatte.
»Rick!«, rief Karen noch einmal. Die Erde dämpfte ihre Stimme. Er konnte überall sein, über ihr, unter ihr oder verborgen in einer der Zellen.
Ihr Funkgerät knackte. »Was ist los?« Danny.
»Ich kann Rick nicht finden. Das ist ein Labyrinth hier.«
Sie brach in eine weitere Zelle ein. Sie enthielt einen Seidenkokon. Eine ungeborene Wespe, die bereits durch die Seide zu erkennen war. Sie war zwar noch fest zusammengerollt, würde aber schon bald als erwachsenes Tier aus diesem Kokon ausbrechen. Als sie mit ihrer Lampe direkt auf die Puppe leuchtete, bewegte sich die Wespe ganz leicht. Karen machte kehrt, verließ fluchtartig die Zelle und reparierte notdürftig die Öffnung, die sie in deren Tür geschlagen hatte. Das war das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte: eine neugeborene Wespe, die mit einem Stachel bewaffnet hier durch die Gänge wandelte.
»Rick! Ich bin’s, Karen«, rief sie. Sie hielt den Atem an und lauschte.
Aber es war nichts zu hören als das leise Kauen der Larven und das Schlagen ihres ängstlichen menschlichen Herzens.
Rick Hutter lag in völliger Dunkelheit in einer Zelle. Er konnte sich weder bewegen noch sprechen. Der Wespenstich hatte ihn gelähmt, aber alle seine Sinne funktionierten noch. Er konnte sogar die kleinen Brocken spüren, die auf dem Lehmboden herumlagen und jetzt auf seinen Rücken und seine Beine drückten. Er konnte auch verwesendes Insektenfleisch riechen. Die Larve, die in dieser Kammer lebte, war zwar nicht zu sehen, aber er konnte sie ganz deutlich hören. Sie fraß gerade etwas und machte dabei knirschende und saugende Geräusche. Seine Atmung funktionierte normal. Er konnte mit den Augen zwinkern, wenn er es wollte. So weit ging sein eigener Wille noch. Er versuchte, einen Finger zu bewegen, war sich allerdings nicht sicher, ob sich dieser bewegte oder nicht, er konnte es einfach nicht sagen.
Hilfe. Ich brauche Hilfe.
Nicht mehr als ein Gedanke.
Er begriff, dass das Wespengift nur einen Teil seines Nervensystems gelähmt hatte, nämlich die Nerven, die er bewusst steuerte. Sein autonomes Nervensystem, der unbewusste Teil, war dagegen völlig intakt. Sein Herz schlug, er atmete, die Maschine lief. Aber er konnte seinen Körper nicht mehr willentlich steuern. Er war wie ein Motor im Leerlauf. Er konnte den Schalthebel nicht finden oder aufs Gaspedal treten. Etwas schmerzte. Eine Weile wusste er nicht, was das war, bis sich unter ihm etwas Warmes ausbreitete, als sich seine Blase automatisch entleerte. Er begrüßte diese Erleichterung.
Das Gift war für die Wespe wie ein Kühlschrank. Es hielt die Beutetiere frisch und lebendig, bis sie gefressen wurden.
Das Knirschen und Saugen fand jetzt in der Nähe seiner Füße statt. Die Larve schien ihre Mahlzeit beinahe beendet zu haben, denn er konnte das Klappern und Rasseln zerbrochener Außenskelettstücke hören, als die Larve noch einmal darin herumschnüffelte und nachprüfte, ob sie auch alles sauber abgefressen hatte. Er konnte dieses Wesen nicht sehen, aber er konnte es sich ziemlich genau vorstellen. Er hörte mahlende, kratzende und saugende Geräusche. Also hatte die Larve gut funktionierende Mundwerkzeuge. Er fürchtete sich vor der ersten Begegnung mit diesen Fresszangen. Er fragte sich, welchen Körperteil die Larve als Erstes fressen würde. Würde sie zuerst auf seinem Gesicht herumkauen? Oder würde sie ihm gleich zu Anfang die Genitalien abbeißen oder sich in seine Bauchhöhle wühlen?
Trotz der schrecklichen Lage, in der er sich befand, fühlte sich Rick Hutter auf seltsame Weise gelangweilt. Gelähmt in der Dunkelheit liegend, hatte er nichts zu tun, außer sich die Umstände seines nahenden Todes vorzustellen. Er entschied, sich eher auf die Dinge zu konzentrieren, die ihn in seinem Leben glücklich gemacht hatten. Das war vielleicht seine letzte Gelegenheit, schöne Erinnerungen abzurufen. Er dachte daran, wie er in Belmar am Strand von New Jersey in die Brandung hinauswatete. Dort hatte seine Familie jeden Sommer eine Woche in einem Motel verbracht – mehr hatten sie sich nicht leisten können. Sein Vater war Lieferwagen für eine Supermarktkette gefahren. Er erinnerte sich, wie er im Alter von fünf Jahren auf dessen Fahrersitz stand und jedem erzählte, er werde auch einmal ein Lieferwagenfahrer werden wie sein Dad. Er sah noch einmal im Geiste, wie er das Zulassungsschreiben für die Uni Stanford bekam und es völlig fassungslos mehrere Male durchlas … ein volles Stipendium in Stanford! Dann kam das Master-studium in Harvard, wieder mit finanzieller Unterstützung. Er erinnerte sich, wie er in Costa Rica eine alte Dame, eine Curandera, interviewt hatte, während sie aus den Blättern des Himatanthus-Baums einen Heiltee zubereitete.
Jetzt dachte er an seine Zeit im Labor. Eines Abends hatte er versucht, ein Präparat aus Himatanthus-Blättern zu extrahieren. Auch Karen hatte noch gearbeitet und irgendein Experiment mit ihren Spinnen überwacht. Sie waren allein in diesem Raum gewesen. Sie hatten nebeneinander am Labortisch gearbeitet, ohne ein einziges Wort zu sagen. In der Luft war schwer ihre gegenseitige Abneigung gehangen. Aber dann hatten sich ihre Hände zufällig ganz leicht berührt … Vielleicht hätte ich Karen damals anbaggern sollen … natürlich hätte sie mir wahrscheinlich eine runtergehauen …
Ein sterbender Mann denkt meist über seine verpassten sexuellen Gelegenheiten nach. Wer hatte das noch gesagt? Vielleicht stimmte es wirklich …
Er begann, sich schläfrig zu fühlen … hinüberzudämmern …
»Rick!«
Ihre Stimme weckte ihn auf. Sie drang schwach durch die Erde.
Ich bin hier, Karen!, schrie er, wenn auch nur in seinem Geist. Seinen Mund konnte er nicht bewegen.
»Rick! Wo bist du?«
Mach schnell! Neben mir rumort ein Staubsauger mit riesigen Beißern.
Karens Lampe flackerte ganz kurz auf, das erste Licht, das er seit langer Zeit gesehen hatte – und dann verschwand es wieder. Erneut umgab ihn völlige Dunkelheit. Sie war weitergegangen.
Komm zurück!, schrie er im Geist. Ich bin hier!
Stille. Sie war weg.
Und dann begann der schrecklichste der Schrecken. Etwas Feuchtes und sehr Schweres glitt über seinen Knöchel und drückte seinen Fuß in den Boden. Das alles hier passierte gar nicht! Als Nächstes spürte er, wie die einzelnen Segmente der Larve sich – plop, plop, plop – über sein Bein schoben. Nein! Jetzt glitten die Segmente über seinen Bauch und jetzt über seine Brust und pressten die Atemluft aus ihm heraus. Nein! Bitte nicht! Die Wespenlarve lag jetzt mit ihrem ganzen Gewicht auf ihm und erstickte ihn allmählich. Er konnte ihr Herz schlagen hören. Es pochte gegen seine Brust. Er hörte ein feuchtes Klick-klick. Die Fresszangen begannen mit ihrer Arbeit.
Klick-klick. Schnipp-schnapp. Schnick.
Das Licht kam zurück. Ein Strahl fiel in die Zelle. Er beleuchtete die schwarzen Schneidemesser, die um einen eigenartig weichen Mund herumschnalzten, der wie ein bleicher Anus aussah. Und das alles direkt vor seinem Gesicht.
Karen leuchtete jetzt mit ihrer Stirnlampe in die Zelle hinein und sah die Szene. »Oh mein Gott, Rick!« Sie begann die Tür aufzuhacken. Steine und Lehm spritzten nach allen Seiten.
Inzwischen streiften die Schneidewerkzeuge über seine Stirn. Die Larve schnüffelte an ihm herum und suchte nach einer weichen Stelle, wo sie zu kauen beginnen könnte. Sie klopfte mit ihren Mundwerkzeugen langsam seine Schulter entlang, wobei sie einen Sabberstreifen hinterließ. Er fühlte, wie ihre Fresszangen ihn in die Nase zwickten. Gleichzeitig drückte sich der feuchte Mund wie bei einem Kuss gegen seine Lippen, nur dass er dabei auf ihn heruntersabberte. Rick musste automatisch husten und würgen.
»Halt durch, Rick –«
Mach schnell, dieser Bastard will mir einen Knutschfleck verpassen.
Sie zwängte sich durch die Öffnung, warf sich auf die Larve und trat mit beiden Füßen auf sie ein, um sie von Ricks Gesicht wegzustoßen. »Du lässt ihn schön in Ruhe!«, rief sie und rammte ihre Machete in die Larve. Diese japste, während ein Zischen aus ihren Atemlöchern drang. Karen zog die Klinge heraus, holte mit der Machete aus und enthauptete die Larve mit einem einzigen Schlag. Der tropfenähnliche Kopf, der immer noch kaute, flog in hohem Bogen durch die Zelle, während der kopflose Körper sich in Krämpfen wand und vor- und zurückpeitschte. Karen schlug und stach weiterhin auf die enthauptete Larve ein, was jedoch deren wilde Bewegungen nur noch zu verstärken schien.
Sie legte ihre Arme um Rick und zog ihn aus der Kammer, während die Larve weiterhin gegen die Zellenwände donnerte. Ein seltsamer Geruch verfolgte sie.
Das ist nicht gut, sagte Hutter im Geist. Das war ein Alarmpheromon.
Die sterbende Larve schrie um Hilfe und wimmerte in der Geruchssprache nach ihrer Mutter. Dieser Geruch erfüllte bald das ganze Nest. Wenn die Mutter ihn wahrnahm …
Danny meldete sich über Funk. »Was ist los da unten?«
»Ich habe Rick. Er lebt. Bleib auf Empfang, ich bringe ihn jetzt raus.«
Rick war wie ein Sack Kartoffeln, eine reglose Last, aber Karen verfügte über erstaunliche Kräfte. Sie hatte Rick, und sie würde sich eher töten lassen, als ihn jetzt noch aufzugeben. Sie kroch durch die große Kammer und zog ihn hinter sich her. Sie war auf dem Weg zum senkrechten Schacht …
In diesem Moment war Dannys Stimme in ihrem Headset zu hören: »Sie kommt zurück!«