Kapitel 48 CHINATOWN

1. NOVEMBER, 2:30 UHR

Dan Watanabe wachte auf, als sein Handy summte. Er griff in der Dunkelheit nach ihm und stieß es dabei von seinem Nachttisch. Er hörte, wie es auf dem Boden aufkam. Er tastete nach dem Licht. Er befürchtete schlimme Familiennachrichten. Irgendetwas mit seiner siebenjährigen Tochter, die bei seiner Exfrau lebte, oder seiner Mutter … Doch es war der Sicherheitschef von Nanigen, der ihn anrief: »Haben Sie eine Minute für mich Zeit, Lieutenant?«

Watanabe fuhr mit der Zunge über seinen klebrigen Mund. »Ja.«

»Heute Nacht gab es ein Feuer auf dem Tantalus.«

Watanabe knurrte. »Was?«

»Nur ein kleines, wurde wahrscheinlich nicht gemeldet. Ein paar Leute sind dabei gestorben.«

»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«

»Diese Studenten – sie wurden ermordet.«

Er fuhr aus dem Bett auf und war sofort hellwach. Schnapp dir diesen Mann und nimm eine Aussage auf! »Wo sind Sie? Ich schicke Ihnen eine Streife –«

»Nein. Ich möchte nur mit Ihnen sprechen.«

»Kennen Sie das Deluxe Plate?« Das hatte die ganze Nacht offen.

Er saß als einziger Gast des Lokals in einer rückwärtigen Nische vor einer Tasse Kaffee, als Don Makele hereinkam. Der Mann wirkte irgendwie … schicksalsergeben. Makele wuchtete sich in die Nische.

Watanabe vertat keine wertvolle Zeit mit Geplauder. »Erzählen Sie mir von diesen Studenten.«

»Sie sind tot. Vin Drake hat mindestens acht Menschen ermordet. Sie waren ganz kleine Menschen.«

»Wie klein?«

Makele hielt Daumen und Zeigefinger etwa anderthalb Zentimeter auseinander. »Wirklich klein.«

»Also, tun wir mal so, als ich ob Ihnen glauben würde«, sagte Watanabe.

»Nanigen hat eine Maschine, die alles schrumpfen kann. Auch Menschen.«

Eine Kellnerin kam an den Tisch und fragte Makele, ob er ein Frühstück wolle. Er schüttelte den Kopf und wartete schweigend, bis sie wieder gegangen war.

»Kann diese Maschine auch eine andere Maschine verkleinern?«, fragte Watanabe.

»Sicher, kein Problem.«

»Würde sie auch eine Schere verkleinern?«

Makele kniff die Augen zusammen. »Wovon reden Sie?«

»Von Willy Fong. Und Marcos Rodriguez.«

Makele gab keine Antwort.

Dan Watanabe schaute ihn scharf an. »Wenn ich Sie richtig verstehe, wollen Sie mir erzählen, was mit den vermissten Studenten passiert ist. Aber ich möchte auch was über die Mikroroboter hören, die Fongs und Rodriguez’ Hälse von einem Ohr zum andern durchgeschnitten haben.«

»Woher wissen Sie von diesen Robotern?«, fragte Makele.

»Haben Sie geglaubt, das Honolulu Police Department habe keine Mikroskope?«

Makele saugte an seinen Lippen. »Die Roboter sollten eigentlich niemand töten.«

»Also was ist schiefgegangen?«

»Die Roboter wurden umprogrammiert. Zum Töten.«

»Von wem?«

»Ich glaube, von Drake.«

Watanabe ließ es erst einmal dabei bewenden. »Und was ist mit den Studenten passiert?«

Makele erzählte ihm von den Versorgungsstationen im Manoa-Tal und der Tantalus-Basis. »Die Kids müssen irgendetwas Schlimmes über Drake rausgefunden haben, denn er hat mich darauf angesetzt, sie … loszuwerden.«

»Sie zu töten?«

»Ja. Sie sind irgendwie im Manoa-Tal gelandet. Drake wollte sicherstellen, dass sie dieses Tal nicht mehr lebend verlassen. Sie haben versucht zu fliehen. Ein paar von ihnen haben’s bis zum Tantalus geschafft.« Er erzählte Watanabe von Ben Rourke. »Drake hat da alles abgefackelt. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass er auch unsere Finanzchefin und einen Vizepräsidenten ermordet hat …«

Die Zahl der Todesfälle machte Dan ganz schwindlig im Kopf. Vin Drake schien dreizehn Menschen getötet zu haben. Wenn das stimmte, war er extrem gefährlich. »So, jetzt erzählen Sie mir mal, warum ich Sie nicht für einen Spinner halten soll«, forderte er den Sicherheitschef auf.

Makele zog die Schultern hoch. »Sie können über mich denken, was Sie wollen. Ich muss Ihnen einfach die Wahrheit erzählen.«

»Sind Sie in diese Morde verwickelt?«

»Für sieben Millionen Dollar.«

In seinen ganzen Jahren als Ermittler hatte Dan Watanabe viele Geständnisse erlebt. Trotzdem überraschte ihn jedes Geständnis aufs Neue. Warum entschieden sich Menschen plötzlich, die Wahrheit zu sagen? Es war ja nie zu ihrem eigenen Vorteil. Die Wahrheit befreit dich nicht, sie bringt dich ins Gefängnis.

»Als wir das letzte Mal miteinander sprachen, haben Sie etwas über Moloka’i gesagt«, fuhr Don Makele fort.

Watanabe runzelte die Stirn. Er erinnerte sich nicht … Oder doch – Makele hatte die traditionelle hawaiianische Aussprache benutzt …

»Sie meinten, Moloka’i sei die beste aller Inseln«, sagte der Sicherheitschef. »Ich glaube, Sie meinten die Leute von Moloka’i und nicht die Insel.«

»Ich weiß nicht mehr, was ich gemeint habe«, erwiderte Watanabe, nippte an seinem Kaffee und lehnte sich zurück, wobei er die ganze Zeit Makele fest im Auge behielt.

»Ich wurde in Puko’o geboren«, fuhr Makele fort. »Das ist ein kleiner Weiler in Ostmoloka’i. Nur ein paar Häuser und das Meer. Meine Großmutter hat mich aufgezogen. Sie hat mir Hawai’ianisch beigebracht – nun, sie hat’s wenigstens versucht. Sie hat mir beigebracht, immer das Richtige zu tun. Ich bin dann zu den Marines gegangen und habe meinem Land gedient, aber dann … Ich weiß nicht, was mit mir passiert ist. Ich habe Sachen des Geldes wegen gemacht. Diese Studenten haben nicht verdient, was wir ihnen angetan haben. Wir haben sie ihrem Schicksal überlassen. Und als sie dann nicht gestorben sind, hat Drake ihnen Männer hinterhergeschickt, die sie ausschalten sollten. Ich würde eine Menge Dinge für sieben Millionen Dollar tun, aber da gibt es einiges, was ich nicht tun würde. Ich werde keine Befehle von Vin Drake mehr annehmen. Ich bin pau hana.« Die Arbeit ist getan.

»Wo hält sich Mr. Drake im Moment auf?«, fragte Watanabe. Der Mann war offensichtlich gefährlicher als gefährlich.

»Im Nanigen-Hauptquartier, glaube ich.«

Watanabe klappte sein Handy auf. »Wir werden ihn uns holen.«

»Das wäre keine gute Idee, einfach so da reinzuspazieren, Lieutenant.«

»Oh?«, sagte Watanabe kühl und hielt sein Handy ein Stück von seinem Ohr weg. Man hörte das Anrufzeichen. »Einsatzkommandos können ganz nützlich sein, habe ich festgestellt.«

»Nicht gegen Mikroroboter. Sie können einen riechen, und sie können fliegen. Das ist ein riesiges Hornissennest da drinnen.«

»Also gut. Erzählen Sie mir, wie wir da reinkommen.«

»Gar nicht, außer Vin Drake erlaubt es. Er kontrolliert die Roboter. Mit einem mobilen, kleinen Steuerungsgerät, ähnlich einer TV-Fernbedienung.«

Watanabes Anruf kam jetzt durch. »Marty?«, sagte er und hielt das Handy wieder an sein Ohr. »Es gibt ein Problem mit Nanigen.«

Eric Jansen bog auf das Kalikimaki-Industriegelände ein und fuhr langsam am Nanigen-Gebäude vorbei. Abgesehen von einer Natriumdampflampe, die die Eingangstür beleuchtete, wirkte der Platz an diesem frühen Sonntagmorgen lichtlos und tot. Karen King und Rick Hutter standen auf dem Armaturenbrett des Pick-ups an der Seite ihrer Flugzeuge. Neben ihnen wackelte eine Hulatänzerin aus Plastik mit den Hüften. Selbst ihr gegenüber wirkten sie klein und unbedeutend.

Eric fuhr den Truck in den Rohbau eines Lagerhauses hinein, der direkt neben Nanigen lag. Er parkte hinter einer der Wände. Von außen war der Pick-up jetzt nicht mehr zu sehen. Er machte den Motor aus, stieg aus, horchte ein paar Augenblicke in die Stille und schaute sich in alle Richtungen um. Es war Zeit, sich Nanigen vorzunehmen.

Er setzte das Headset auf und funkte ihnen zu: »Startet eure Flugzeuge und folgt mir!«

Karen und Rick stiegen in ihre Maschinen und flogen los. Eric konnte das Wimmern der Propeller direkt neben seinen Ohren hören, als er den Parkplatz in Richtung des Nanigen-Gebäudes überquerte. Er merkte, dass sie direkt hinter seinem Kopf flogen, um nicht vom Wind fortgeweht zu werden.

»Alles okay?«, funkte er ihnen zu.

»Uns geht’s gut«, erwiderte Karen. Aber sie fühlte sich gar nicht gut, sie fühlte sich entsetzlich, als ob sie direkt vor einer schweren Grippe stünde. Jedes Gelenk in ihrem Körper schmerzte. Rick ging es wahrscheinlich noch schlechter, da er noch jede Menge Gift in seiner Blutbahn hatte. Das würde den Ausbruch der Tensor-Krankheit vielleicht sogar noch beschleunigen.

Die Eingangstür war verschlossen. Eric öffnete sie mit einem Schlüssel. Er hielt die Tür einen Augenblick auf, damit Karen und Rick hindurchfliegen konnten. Dann zog er sie hinter sich zu.

Er ging langsam den Hauptkorridor entlang. Die ganze Zeit hörte er das moskitogleiche Sirren hinter seinem Kopf. Als er sich umdrehte, sah er die beiden Mikroflugzeuge mit surrenden Propellern unter den Deckenplatten gleiten, wo sie immer wieder von den Luftströmungen aus der Klimaanlage des Gebäudes durchgeschüttelt wurden. Sein Kopf verursachte Turbulenzen, die die winzigen Maschinen hin und her hüpfen ließen. »Passt auf, dass ihr nicht von einem Belüftungsschacht angesaugt werdet!«, warnte er sie.

»Könnten wir nicht auf Ihrer Schulter landen? Dann könnten Sie uns tragen«, schlug Karen vor.

»In der Luft seid ihr besser dran. Ihr müsst vielleicht schnell weg – wenn ich … Probleme bekommen sollte.« Eric schaute, ob die Flugzeuge noch hinter ihm waren, und hielt an einer Ecke an. Er lugte vorsichtig um sie herum. Er blickte einen langen Korridor mit Fenstern entlang, die mit schwarzen Jalousien verhängt waren. Niemand zu sehen. Er überquerte den Korridor und folgte einem Seitengang, bis er an eine Tür kam. Er öffnete sie und ging hinein. Die Flugzeuge blieben dicht hinter ihm. »Mein Büro«, teilte er ihnen über Funk mit.

Erics Büro war durchwühlt worden. Überall lagen Papiere herum, und sein Computer war verschwunden. Er öffnete eine Schreibtischschublade und rief: »Puh! Ist noch da!« Er holte ein Gerät heraus, das wie ein Gamecontroller aussah. »Das ist mein Robotersteuerungsgerät. Es sollte eigentlich die Roboter stoppen«, erklärte er Rick und Karen.

Dann führte er sie zum Hauptkorridor zurück, und sie flogen hinter ihm an den verhängten Fenstern vorbei. Eric hielt vor einer Tür an, die mit TENSORKERN gekennzeichnet war.

Als er sie aufziehen wollte, merkte er, dass sie verschlossen war. Allerdings nicht mit einem Nummernschloss, sondern mit einem ganz einfachen, zu dem man einen Schlüssel brauchte. »Scheiße!«, fluchte er. »Die Tür wurde von innen abgeschlossen. Das bedeutet …«

»Jemand ist da drin?«, fragte Rick.

»Könnte sein. Aber es gibt noch einen anderen Weg in den Generatorraum. Wir können auch durch die Omicron-Zone rein.«

Die Roboter in der Omicron-Zone waren womöglich darauf programmiert, Eindringlinge zu töten. Das ließ sich jedoch erst herausfinden, wenn man die Zone betrat. Eric hoffte nur, dass sein Robotersteuerungsgerät funktionieren würde. Er führte die Flugzeuge um eine Ecke herum, bog rechts ab und hielt vor einer scheinbar unbeschrifteten Tür an. Nur bei genauerem Hinsehen erkannte man ein kleines, unbekanntes Symbol, unter dem ein einziges Wort stand: MIKROGEFAHR.

Rick flog in ein paar Zentimetern Entfernung an dem Symbol vorbei und fragte über Funk: »Was bedeutet das?«

»Das bedeutet, dass es auf der anderen Seite der Tür Roboter gibt, die einen ernsthaft verletzen oder sogar töten können – wenn sie entsprechend programmiert wurden. Da drinnen könnte es ganz schön unangenehm werden.« Eric hielt die Robotersteuerung hoch, sodass die beiden Flieger sie gut erkennen konnten. »Hoffen wir, dass wir sie damit kontrollieren können.« Als er dann an den Türknauf griff, stellte er fest, dass nicht abgeschlossen war. Bevor er jedoch öffnete, tippte er eine Reihe von Zahlen in die Tastatur seines Steuergeräts ein. »Drake hält mich wohl für tot«, funkte er den Fliegern zu. »Ich nehme deswegen an, dass er sich nicht die Mühe gemacht hat, die PIN von meiner Fernbedienung zu löschen.« Er zuckte die Achseln. »Wir werden sehen.« Er zögerte einen Moment und dachte wohl über die Gefahren nach, die ihn auf der anderen Seite der Tür erwarten könnten. Dann riss er sie auf und ging hinein. Die Flugzeuge folgten direkt hinter ihm.

Sie befanden sich jetzt im Hauptlabor des Omicron-Projekts. Die Lampen waren so weit heruntergedreht, dass im ganzen Raum Dämmerlicht herrschte. Eigentlich war er gar nicht so groß. Es hätte auch ein ganz normales Ingenieurlabor sein können. Ein paar Schreibtische, einige Montageplätze und etliche Labortische, auf denen Vergrößerungslinsen fest installiert waren. An den Wänden standen stählerne Regale, in denen unzählige Kleinteile gestapelt waren. Ein dick verglastes Fenster öffnete sich zum Tensorkern. Daneben führte eine Tür direkt vom Project Omicron in den Kern.

Eric stellte sich mit dem Kontrollgerät in der Hand in die Mitte des Omicron-Labors, schaute sich um und lauschte. So weit, so gut. Er konnte die Roboter zwar nicht sehen, aber er wusste, dass sie da waren und an der Decke hingen. Er horchte nach einem schwachen Summen. Er würde ihre Turbinen erst hören, wenn sie ihn aufgespürt hatten und sich von der Decke auf ihn hinunterstürzten. Wenn die Roboter nicht abgeschaltet sein sollten, würde er das erst bemerken, wenn er anfing zu bluten. Aber er hörte nichts, sah nichts und spürte nichts. Sein Steuergerät funktionierte offensichtlich immer noch. Er hatte die Roboter deaktiviert. Erleichtert stieß er einen Seufzer aus.

»Keine Gefahr«, sagte er.

Auf den Labortischen stand eine Reihe von Gegenständen, die mit schwarzen Tüchern verhüllt waren. Worum es sich dabei handelte, war im Dämmerlicht schwer zu erkennen.

»Ich zeige euch jetzt, warum Vin Drake mich umbringen wollte«, funkte Eric Rick und Karen zu. »Und warum er eure Freunde umgebracht hat.« Eric stellte sich mitten in den Raum und hielt einen angewinkelten Arm zur Seite. »Landet auf meinem Arm«, sagte er. »Dann habt ihr einen besseren Blick.«

Rick und Karen landeten mit ihren Flugzeugen auf seinem Unterarm. Eric ging zum nächsten Labortisch hinüber. Dabei bewegte er sich ganz vorsichtig und schirmte die Flugzeuge mit seiner Hand ab, damit sie nicht von einem plötzlichen Luftstoß heruntergeweht werden konnten. Dann deckte er eines der Objekte auf. Es war ein kleines, schnittiges, bösartig aussehendes Flugzeug. Es hatte kein Cockpit.

»Das ist eine Hellstorm«, erklärte Eric. »Ein unbemanntes Fluggerät.«

»Sie meinen, eine Drohne?«, fragte Rick.

»Genau. Eine Drohne. Ohne Piloten.«

Sie hatte eine Flügelspannweite von fünfundzwanzig Zentimetern.

Eric hielt seinen Arm näher an die Drohne heran, damit Rick und Karen sie gut sehen konnten.

»Das ist ein riesiger Prototyp der Hellstorm«, erklärte er. »Wenn die Testflüge erfolgreich verlaufen, wird die Maschine auf 1,3 Zentimeter geschrumpft.«

Statt eines Fahrwerks hatte die Hellstorm vier gegliederte Beine. An deren Enden waren polsterartige Gebilde angebracht, wie sie die Hexapods hatten. Unter ihren Flügeln hingen Raketen: zwei Glasröhren mit langen Stahlnadeln in der Spitze, Stabilisierungsflossen und einem Raketenmotor am Heck.

»Und was macht diese Maschine?«, fragte Rick.

»In der Tat – was macht sie?«, wiederholte Eric. »Das ist eine militärische Drohne von der Größe eines Falters. Man kann sie für Aufklärungs- und Überwachungsmissionen verwenden. Man kann damit aber auch Menschen töten. Man kann jedes gegenwärtig existierende Sicherheitssystem umgehen. Sie kann unter einer Tür hindurchfliegen oder durch eine Ritze im Fensterrahmen schlüpfen. Sie kann sich an die Haut oder die Kleidung eines Menschen klammern. Sie kann mit ihren Spezialbeinen kriechen. Sie kann an den Stromleitungen in einer Wand entlangfliegen und dann in einen absolut verschlossenen Raum eindringen. Sie kann jeden Menschen jederzeit und an jedem Ort töten. Seht ihr diese Raketen unter ihren Flügeln? Das sind Mikrogiftraketen. Die Stahlnadeln enthalten Supertoxine, die Nanigen aus Lebensformen in der Mikrowelt gewonnen hat – aus dem Gift von Würmern, Spinnen, Pilzen und Bakterien. Die Rakete hat eine Reichweite von zehn Metern. Das bedeutet, dass die Drohne als Abstandswaffe einsetzbar ist, weil sie ihre Giftraketen aus vergleichsweise großer Entfernung abfeuern kann. Wenn so eine Supertoxinrakete in deine Haut eindringt, bist du kurz darauf tot. Eine Mikrodrohne kann mit ihren beiden Raketen gleichzeitig zwei Menschen töten.«

»Wozu sind diese Lufteinlassstutzen da, die sich den Rumpf entlangziehen?«, fragte Rick.

»Das sind Luftprobensammler. Sie dienen der Zielerfassung.«

»Wie denn das?«, fragte Karen erstaunt.

»Die Hellstorm kann dich riechen. Jeder Mensch verströmt einen ganz bestimmten Geruch, anhand dessen man ihn wie an seinem Fingerabdruck eindeutig identifizieren kann. Jeder von uns riecht etwas anders. Unsere DNS ist einzigartig, deshalb ist auch die Kombination der Pheromone, die wir absondern, einzigartig. Eine Mikrodrohne kann man nun darauf programmieren, den Körpergeruch eines ganz bestimmten Menschen zu finden. Selbst auf einem Rockkonzert kann dich die Drohne in der Menge aufspüren und umbringen.«

»Das ist ja ein Albtraum«, rief Karen King.

»Dieser Albtraum hat noch lange kein Ende«, sagte Eric Jansen. »Man denke an die Amtseinführung des Präsidenten. Stellt euch tausend Hellstorms vor, die alle gleichzeitig losgelassen werden und alle darauf programmiert wurden, den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu suchen. Wenn nur eine dieser Mikrodrohnen durchkommt, stirbt der Präsident. Mikrodrohnen könnten die Regierungen jeder Nation, ob nun Japan, China, England oder Deutschland, eliminieren. Jedes Land auf dieser Erde könnte durch einen Schwarm Mikrodrohnen seiner Führung beraubt werden.« Er drehte sich ganz langsam um, während Rick und Karen die unheimliche Atmosphäre dieses Labors von seinem Arm aus in sich aufnahmen. »Dieser Raum ist die Büchse der Pandora.«

»Also geht’s bei Nanigen gar nicht um Medikamente«, sagte Karen.

»Doch, doch. Es geht um Medikamente. Nanigen befasst sich eben nur mit beiden Seiten der Medaille. Einerseits sucht die Firma nach Mitteln, die Leben retten, andererseits nach Mitteln, die Leben auslöschen. Diese Hellstorm hier« – er berührte sie ganz leicht – »ist eigentlich nur eine hoch entwickelte Spritze.«

»Und Sie haben das herausgefunden. Deshalb musste Sie Drake umbringen.«

»Nicht ganz. Vom Omicron-Programm wusste ich die ganze Zeit. Nanigen hat mit dem Verteidigungsministerium einen Vertrag geschlossen, für das US-Militär Mikrodrohnen zu entwickeln. Die Entwicklungsarbeiten verliefen viel besser, als man den Leuten vom Verteidigungsministerium erzählt hat. Vin begann, die US-Regierung anzulügen. Er behauptete, die Mikrodrohnen seien ein Fehlschlag.«

»Warum denn das?«, fragte Rick.

»Weil Drake seine eigenen Pläne für diese Mikrodrohnen hatte. Wir bekamen Probleme mit unseren Patenten für das Mikrodrohnensystem. Da gab es ein Unternehmen im Silicon Valley namens Rexatack, das tatsächlich einen Teil dieser Technik erfunden hatte und sich danach patentieren ließ. Vin Drake war einer der Investoren von Rexatack. Er beschaffte sich unter der Hand deren Entwürfe und entwickelte mit deren Hilfe die Hellstorm-Drohne. Dann wurde ihm klar, dass er diese Technik möglichst schnell verkaufen musste, weil Rexatack den Braten gerochen hatte und Nanigen wegen Patentverletzung verklagen wollte. Probleme mit Vin bekam ich, als ich entdeckte, dass er versuchte, die Mikrodrohnentechnik an den Meistbietenden zu verhökern.«

»Also nicht an die US-Regierung?«, fragte Karen.

»Nein. Vin wollte das schnelle Geld, und in Übersee ist das eher zu finden. Da draußen gibt es Regierungen, die im Geld nur so schwimmen – und das dann auch noch in Dollar. Länder, deren Wirtschaft schneller wächst als unsere. Die würden für die Mikrodrohnentechnik jeden Preis bezahlen. Jeden. Ich möchte damit nicht behaupten, dass die US-Regierung mit diesen Mikrodrohnen unbedingt nette Dinge anstellen würde. Ich sage nur, dass es auf dieser Welt Regierungen gibt, die damit wahre Horrortaten begehen würden. Einige dieser Regierungen hassen die Vereinigten Staaten, haben für Europa nichts als Verachtung übrig, fürchten ihre nächsten Nachbarn und hassen und fürchten ihr eigenes Volk. Diese Regierungen würden nicht zögern, diese Mikrodrohnen für ihre Zwecke zu missbrauchen. Und dann sind da noch die internationalen Terrororganisationen. Die würden für solche Mikrodrohnen alles geben. Ich habe erfahren, dass Drake nach Dubai gereist war, um dort mit den Vertretern mehrerer Regierungen über den Verkauf der Nanigen-Hellstorm-Technik zu verhandeln. Ich habe dann bei ihm protestiert, ihn darauf hingewiesen, dass das nach US-Recht kriminell wäre. Außerdem wäre es eine Gefahr für die ganze Welt. Aber dann habe ich gezögert.«

»Warum?«, fragte Rick.

Eric seufzte. »Drake hatte mir Nanigen-Gründungsaktien im Wert von Millionen Dollar gegeben. Ich wusste, dass Nanigen erledigt war, wenn ich zu den Behörden gehen würde. Meine Aktien wären dann keinen Cent mehr wert. Deshalb zögerte ich. Aus Geldgier. Ich war Physiker geworden, weil ich diese Wissenschaft liebte. Ich hätte nie geglaubt, dass ich mit ihr Millionär werden würde. Jetzt würden mir diese Millionen durch die Lappen gehen, wenn ich Drake verpfiff. Eine ziemlich tödliche Schwäche. Drake hat nämlich beschlossen, mich umzubringen. Ich wollte mein neues Boot ausprobieren und hatte mit Alyson Bender vereinbart, sie in Kaneohe zum Mittagessen zu treffen – das liegt auf der Windseite der Insel. Alyson, oder Drake, schmuggelte dann ein paar Hellstorms auf mein Boot. Plötzlich gab mein Motor den Geist auf. In diesem Moment sah ich eines dieser verdammten Dinger aus meiner Kombüse herausfliegen. Zuerst hielt ich es für ein Insekt. Dann erkannte ich die Propeller und Nadelraketen und wusste, dass es eine Hellstorm war. Dann habe ich noch eine Drohne gesehen. Ich schickte meinem Bruder eine SMS und sprang über Bord. Die Brandung schützte mich. Die Mikrodrohnen konnten mich nicht riechen und keine Raketen auf mich abschießen, weil ich unter den Wellen hindurchschwamm. Ich schaffte es nach Honolulu und ging dort erst einmal in Deckung. Wenn ich wieder aufgetaucht und zur Polizei gegangen wäre, hätte mich Drake mit seinen Mikrodrohnen gejagt. Vin Drake ist von der Macht seiner Roboter regelrecht berauscht.« Eric seufzte noch einmal und machte dann eine Pause. In die Stille hinein meldete sich jetzt eine andere Stimme.

»Das ist eine exzellente Beschreibung von mir, Eric. Ich habe sie sehr genossen.« Ein kleiner Lichtstrahl schwang durch den Raum, und Vincent Drake stand hinter einem Computerregal auf.

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