Kapitel 51 DIE GRUBE

1. NOVEMBER, 5:55 UHR

Das Einzige, was sich jetzt noch im Tensorgeneratorraum bewegte, war der Riesenroboter. Er erforschte den gesamten Raum, schob Drakes Leiche beiseite und suchte nach einem Weg nach draußen. Als er keinen finden konnte, ging sein Programm zur Bohrsequenz über. Er bog seinen Hals und durchschnitt mit seinen Messern den Kunststoffboden. Er begann, einmal um sich herumzuschneiden. Als er damit fertig war, brach der Boden unter ihm ein, und er fiel in die Grube hinunter, die bis oben hin mit Elektronik angefüllt war. Dort unten machte der Roboter mit dem weiter, was er am besten konnte. Er zerschnitt und zerschlug alles, was ihm in den Weg kam.

Unter dem Boden des Generatorraums war jetzt ein einziges Quietschen, Knistern, Prasseln und Rumoren zu hören, das sich mit blauen und gelben elektrischen Funkenblitzen mischte. Plötzlich ein scharfes Zischen, und eine Dampfwolke drang durch das Loch im Boden hervor. Das war das Zeichen, dass die supraleitenden Magneten allmählich den Geist aufgaben. Das ganze Gebäude erbebte, als die Magnetfelder im Generator chaotisch wurden und relaxierten. Als die Magneten versagten, heizten sie sich plötzlich auf. Diese Hitze brachte das supergekühlte flüssige Helium zum Kochen, das die Magneten umgab. Jetzt begannen Heliumdämpfe aus der Magnetgrube aufzusteigen.

Plötzlich gingen alle Lichter im Gebäude aus. Die Leistungsschutzschalter waren ausgelöst worden. In der Zwischenzeit arbeitete sich der Riesenroboter immer noch durch die Innereien von Drakes Tensor-Maschine hindurch.

Ein einziger Mensch hatte das Nanigen-Gebäude noch nicht verlassen. Ein schmächtiger Mann sah in der Magnetgrube zu, wie der Riesenroboter die gesamte Maschinerie zerhackte. Er bewegte sich langsam und vorsichtig und vermied jede Hast, um keinesfalls die Aufmerksamkeit der Kampfmaschine auf sich zu lenken. Er entfernte eine Festplatte aus einem Steuerungscomputer, steckte sie in sein Jackett und verließ so schnell wie möglich die Magnetgrube. Er kletterte eine Leiter zum Eingang eines Feuerrettungstunnels hinauf. Hinter sich hörte er einen dumpfen Laut und dann ein lautes Donnern, das von einem Zischen und Prasseln abgelöst wurde. Der Roboter hatte ein Feuer ausgelöst.

Der mit Wellblech ausgekleidete Rettungstunnel führte eine ganze Weile waagrecht durch die Erde, bis er an einer zweiten Leiter endete. Dr. Edward Catel, der Verbindungsbeauftragte des Davros-Konsortiums, kletterte sie hinauf. Die Festplatte in seiner Tasche enthielt fünf Terabyte Daten – Dr. Ben Rourkes sämtliche Pläne des Tensorgenerators sowie unschätzbare Daten der verschiedenen Testläufe der Tensormaschinerie. Als er zwei und zwei zusammengezählt hatte und ihm klar geworden war, dass Vin Drake wahrscheinlich die Ermordung seiner eigenen Firmenmitarbeiter angeordnet hatte, wusste er, dass Drake nicht mehr länger als Chef eines solchen Unternehmens tragbar war und dieses auch nicht mehr lange existieren würde. Er hatte sich daraufhin mit ein paar Leuten in Verbindung gesetzt, die seit einiger Zeit herausfinden wollten, was Nanigen eigentlich so trieb. Er hatte angeboten, ihnen für eine gewisse, nicht gerade geringe Summe die Pläne des Generators zu beschaffen. Die entsprechenden Computerdaten hatte er sich in dieser Nacht holen wollen. Dabei hatte er nicht gewusst, dass auch Drake anwesend sein würde.

Jetzt hielt er am oberen Leiterende unter einem Lukendeckel an und horchte. Was ging da oben vor? Er hörte Sirenen und das dumpfe Dröhnen eines Hubschraubers. Vielleicht sollte er noch ein paar Stunden hier warten, bis sich die Lage beruhigt hatte.

Plötzlich fühlte er, wie ihm etwas Warmes die Wange herunterlief und auf seinen Kragen tropfte. Er griff sich ins Gesicht. Tatsächlich war ein Roboter in seine Wange eingedrungen. Der Rettungstunnel war kontaminiert. Er konnte spüren, wie sich der Roboter durch das Gewebe seiner Wange grub. Es wäre nicht gut, wenn er in ein größeres Blutgefäß, gar eine Ader, gelangen würde. Er könnte in sein Gehirn schwimmen und dort einen Schlaganfall auslösen. Er musste also das Risiko eingehen und ins Freie hinaussteigen.

Er drückte den Lukendeckel auf. Er befand sich mitten in einem Akaziengebüsch direkt neben dem Nanigen-Parkplatz. An der Ecke des Gebäudes stand ein Feuerwehrauto, dessen Besatzung gerade einen Löschschlauch ausrollte. Deren ganze Aufmerksamkeit galt dem dichten Rauch, der aus dem Nanigen-Hauptquartier drang.

Er ging schnell ein Stück weiter in das dichte Buschwerk hinein. Dabei klopfte er sich die ganze Zeit mit den Fingerspitzen an die Backe. Er musste diesen Roboter unbedingt loswerden. Schließlich steckte er zwei Finger in den Mund und zog den Roboter aus dem Innengewebe seiner Wange heraus. Dann kniff er ihn zwischen seinen Fingernägeln zusammen, bis er es knacken hörte. Er ging weiter. Die Akaziendornen verfingen sich in seiner Kleidung. Er ging hinter einem Lagerhaus entlang und dann von einem unbebauten Grundstück zum andern, bis er am Rand des Industriegeländes ankam. Ein Stück weiter gelangte er zu einer Bushaltestelle am Farrington Highway und setzte sich unter deren Schutzdach auf eine Bank. Morgensonne übergoss die Szene mit ihrem goldenen Glanz. Es war Sonntagmorgen, und vielleicht würde der erste Bus erst in ein paar Stunden kommen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten. Das zerrissene, blutbefleckte Jackett gab ihm ein Gefühl der Sicherheit. Er lächelte. Er hätte ein kranker Obdachloser sein können, die Art von Mensch, der niemand zu nahe kommen möchte. Außerdem hatte er die Festplatte in der Tasche, die die einzige vollständige Sammlung aller Tensorgeneratorpläne Ben Rourkes enthielt. Tatsächlich waren es die einzigen erhaltenen Pläne.

Auf seinem Hosenbein begann sich jetzt ein dunkler Fleck zu bilden. Blut. Das beunruhigte ihn. Er öffnete seine Hose und fuhr sich mit den Fingern so lange über den Schenkel, bis er den Roboter gefunden hatte. Er hielt ihn zwischen zwei Fingerspitzen hoch und betrachtete ihn mit zugekniffenen Augen. Er konnte nur die kleinen Klingen erkennen, die im hellen Sonnenlicht glänzten. »Wo geht die Reise hin?«, murmelte er dem Roboter zu. Das war sogar noch besser. Jetzt sah er endgültig wie ein Verrückter aus, der sich mit den eigenen Fingern unterhielt. Er war jetzt sein eigener Herr. Im Augenblick vertrat er nur noch sich selbst.

Catel zerdrückte den Roboter zwischen seinen Nägeln und wischte seine blutige Hand an seiner Hose ab. Es war, als ob man eine Zecke zerdrückte. Ein Feuerwehrauto raste mit Sirenengeheul an ihm vorbei.

Eine Woche später rückte Lieutenant Dan Watanabe einen Laptopbildschirm zurecht, der auf dem Nachttisch neben einem Krankenhausbett stand. Im Bett lag Eric Jansen. Auf dem Bildschirm war die Aufnahme eines sauber halbierten Roboters zu sehen. Vor allem dessen Innenleben war gut zu erkennen. »Wir haben inzwischen den unbekannten Asiaten identifizieren können, von dem ich Ihnen erzählt habe. Sein Name war Jason Chu.«

Eric nickte langsam. Sein ganzes Bein war bandagiert und sein Gesicht blass und fahl: Anämie aufgrund des hohen Blutverlusts. »Jason Chu arbeitete für Rexatack, das Unternehmen, dem die Patente der Hellstorm-Drohnentechnik gehörten«, erklärte Eric.

»Also hat Mr. Chu einen Einbruch ins Nanigen-Hauptquartier organisiert, um zu erfahren, was Nanigen mit den Patenten seines Unternehmens anstellte?«

»Genauso ist es«, bestätigte Eric.

»Und Sie haben diese Sicherheitsroboter programmiert?«

»Nicht zum Töten. Drake hat sie zu Killerrobotern umprogrammiert.« Er machte die Augen zu und hielt sie eine Weile geschlossen, dann öffnete er sie wieder. »Sie können mich anklagen. Mein Bruder ist tot, und das ist meine Schuld. Mir ist egal, was mit mir passiert.«

»Nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge wird keine Anklage gegen Sie erhoben«, antwortete Watanabe vorsichtig.

Eine Krankenschwester kam herein. »Die Besuchszeit ist vorbei.« Sie schaute auf die Monitore von Erics Überwachungsgeräten. »Versteht ihr Jungs diesen dezenten Hinweis, oder muss ich einen Arzt rufen?«

»Ich bin kein Junge, Ma’am«, sagte Dorothy höflich, aber bestimmt und stand auf.

Auch Watanabe wuchtete sich von seinem Stuhl hoch und sagte zu Eric: »Dorothy würde liebend gerne einen funktionierenden Nanigen-Roboter auseinandernehmen und untersuchen.«

Eric zuckte die Achseln. »Der ganze Nanigen-Kernbereich ist voll davon.«

»Nicht mehr. Der ganze Bau ist bis auf die Grundmauern abgebrannt. Dieser ganze Kunststoff brannte wie Zunder. Es war ein höllisches, giftiges Feuer. Hat zwei Tage gedauert, bis es vollständig gelöscht war. Danach war nichts mehr übrig. Auch keine Roboter. Wir haben eine verbrannte Leiche gefunden, die wir für Drake halten. Anhand seines Zahnschemas werden wir das genau feststellen können. Und diese Verkleinerungsmaschine, die ist nur noch ein Holzkohlenbrikett.«

»Werden Sie irgendjemanden anklagen?«, fragte Eric noch, als Watanabe und Girt bereits am Gehen waren.

Watanabe blieb im Türrahmen stehen. »Die Täter sind tot. Der Staatsanwalt steht unter Druck, in der Sache nichts weiter zu unternehmen. Der Druck kommt von – sagen wir mal – Regierungsstellen. Die wollen nicht, dass über diese Roboter geredet wird. Ich glaube, dass man die ganze Sache als Betriebsunfall darstellen wird.« Seine Stimme nahm einen leicht enttäuschten Ton an. »Aber man weiß ja nie«, fügte er hinzu und schaute die wissenschaftliche Forensikerin an. »Das gehört zu der Art von Schlamassel, in der Dorothy und ich gern rumwühlen, nicht wahr?«

»Ich steh auf Schlamassel«, sagte Dorothy Girt etwas spitz. »Gehen wir, Dan. Der gute Mann braucht jetzt seine Ruhe.«

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