Kapitel 14 MANOA-TAL

29. OKTOBER, 4:00 UHR

Die sieben Studenten und Kinsky stapften im Gänsemarsch durch den stockdunklen Wald. Mit angespannten Sinnen lugten sie in die schattenerfüllte Umgebung hinein und lauschten den fremden, seltsamen Geräuschen. Rick Hutter trug einen selbst gemachten Grasspeer über der Schulter, während er sich einen Weg zwischen den verrottenden Blättern bahnte und sich unter toten Ästen hindurchzwängte, die auf ihn jetzt größer wirkten als umgestürzte Mammutbäume. Karen King hatte den Rucksack geschultert und hielt ihr Messer fest in der Hand. Peter Jansen führte die Gruppe an, schaute ständig in alle Richtungen und versuchte, eine geeignete Route zu finden. Irgendwie war Peter in seiner ruhigen Art zu ihrem Anführer geworden. Sie verzichteten auf die Stirnlampe, weil sie keine Beutegreifer anlocken wollten. So konnte Peter nicht allzu viel erkennen. »Der Mond ist untergegangen«, sagte er.

»Die Dämmerung muss bald –«, begann Jenny Linn.

In diesem Moment übertönte sie ein markerschütternder Schrei. Er begann als eine Art leises Geheul und steigerte sich dann zu einem heiseren Kreischen, das aus den Höhen der Bäume auf sie herunterschallte. Die Töne strotzten nur so vor Gewalt und ließen ihnen das Blut in den Adern gefrieren.

Rick wirbelte herum und richtete seinen Speer nach oben. »Was zum Teufel war das?«

»Ein singender Vogel, glaube ich«, sagte Peter. »Wir hören alle Laute und Geräusche in einer tieferen Tonlage.« Er schaute auf die Uhr: 4:15 Uhr. Es war eine Digitaluhr, die selbst in geschrumpftem Zustand noch einwandfrei funktionierte. »Es wird gleich hell«, sagte er.

»Wenn wir eine Versorgungsstation finden, könnten wir versuchen, mit dem Funkgerät Nanigen zu kontaktieren«, schlug Jarel Kinsky vor. »Wenn sie unser Signal hören, werden sie uns zu Hilfe kommen.«

»Drake würde uns umbringen«, sagte Peter.

Kinsky widersprach zwar nicht, aber es war klar, dass er anderer Meinung war.

»Wir müssen irgendwie wieder in den Tensorgenerator gelangen, damit wir zu unserer normalen Größe zurückkehren können«, fuhr Peter fort. »Deshalb müssen wir zum Nanigen-Hauptquartier zurück. Irgendwie. Ich glaube, dass es ein Fehler wäre, ausgerechnet Drake um Hilfe zu bitten.«

»Könnten wir nicht 911 anrufen?«, meldete sich Danny.

»Großartige Idee, Danny. Jetzt musst du uns nur noch sagen, wie wir das tun sollen«, kanzelte ihn Rick ab.

Jarel Kinsky erklärte, dass die Sender in den Versorgungsstationen nur eine Reichweite von etwa dreißig Metern hatten. »Wenn jemand von Nanigen in der Nähe sein sollte und gerade die gleiche Frequenz eingeschaltet hat, könnte er uns über Funk hören. Andernfalls wird niemand unser Signal empfangen.« Außerdem würden die Funkgeräte sowieso nie auf einer Frequenz senden, die die Polizei oder die Notdienste verwendeten. »Die Mikrofunkgeräte von Nanigen senden auf etwa siebzig Gigahertz«, erklärte Kinsky. »Das ist eine sehr hohe Frequenz. Sie funktioniert gut für Außenteams über kurze Strecken, ist aber nutzlos bei größeren Entfernungen.«

Jetzt meldete sich Jenny Linn zu Wort. »Als Drake uns durch das Arboretum führte, hat er erwähnt, dass jeden Tag ein Lastwagen vom Manoa-Tal ins Nanigen-Hauptquartier fährt. Wir könnten uns doch auf diesen Lastwagen schmuggeln.«

Schlagartig wurde es ruhig. Jenny hatte anscheinend eine gute Idee gehabt. Tatsächlich erinnerten sich jetzt alle daran, dass Vin Drake einen solchen Lastwagen erwähnt hatte. Würde der aber noch verkehren, jetzt, wo alle Außenteams aus der Mikrowelt abgezogen worden waren? Peter wandte sich an Jarel Kinsky: »Wissen Sie, ob dieser Lkw immer noch zu Nanigen rüberfährt?«

»Keine Ahnung.«

»Wann genau kommt er normalerweise im Arboretum an?«

»Um vierzehn Uhr«, antwortete Kinsky.

»Und wo hält er an?«

»Auf dem Parkplatz neben dem Treibhaus.«

Alle dachten kurz über diese Information nach.

»Ich glaube, Jen hat recht«, sagte Peter nach einer Weile. »Wir sollten versuchen, auf diesen Lkw zu kommen. Der bringt uns dann zu Nanigen, wo wir irgendwie in diesen Tensorgenerator gelangen müssen –«

»Warte mal. Wie zum Teufel sollen wir bei unserer gegenwärtigen Größe auf einen solchen Lkw steigen?«, fragte Rick Hutter und schaute Peter Jansen direkt ins Gesicht. »Dieser Plan ist verrückt. Und was ist, wenn der Lkw nicht mehr fährt? Nanigen ist etwa fünfundzwanzig Kilometer von hier entfernt. Wir besitzen gerade noch ein Hundertstel unserer früheren Größe. Denkt mal darüber nach. Das bedeutet, dass ein Kilometer für uns wie hundert Kilometer ist. Wenn also Nanigen fünfundzwanzig Kilometer entfernt ist, sind das für uns tatsächlich zweitausendfünfhundert Kilometer! Die Lewis-und-Clark-Expedition lässt grüßen. Und die dauerte ja bekanntlich Jahre. Wir müssen das in weniger als vier Tagen schaffen, oder wir werden an dieser Tensor-Krankheit sterben. Die Chancen dafür sind beschissen, um es vorsichtig auszudrücken.«

»Ricks Idee ist es also, die Hände zu ringen und aufzugeben«, sagte Karen.

Rick schaute sie zornig an. »Wir brauchen realistische –«

»Du bist nicht realistisch. Du jammerst«, zischte ihn Karen an.

Peter versuchte, den Streit zu entschärfen. Er stellte sich zwischen Karen und Rick. Es wäre besser, wenn sie jetzt beide ihren Zorn gegen ihn richten würden. »Ich bitte euch«, sagte er und legte Rick die Hand auf die Schulter. »Streiten wird niemandem helfen. Lasst uns doch eins nach dem anderen erledigen.« Die Gruppe nahm schweigend ihren Weg wieder auf.

Mit ihrer Größe von gerade einmal 1,3 Zentimetern fehlte ihnen auf dem Waldboden selbst nach Sonnenaufgang der Überblick. Überall wuchsen üppige, ausladende Farne, die ihnen Schwierigkeiten machten, ihre Sicht behinderten und tiefe Schatten warfen. Sie verloren das Gewächshaus aus den Augen. Weit und breit gab es keine Orientierungspunkte mehr. Trotzdem gingen sie immer weiter. Die Sonne war jetzt endgültig aufgegangen, und ihre Strahlen durchdrangen das Blätterdach.

Im Tageslicht sahen sie den Boden viel genauer. Es wimmelte dort nur so von Kleinorganismen – Nematoden, Bodenmilben und anderen winzigen wimmelnden und wuselnden Kreaturen, wie sie Jenny Linn bereits in der Dunkelheit unter ihren Füßen gespürt hatte. Die Bodenmilben waren sehr kleine spinnenähnliche Lebewesen, die auf dem Boden herumkrochen oder sich in Erdspalten versteckten. Sie gab es in vielen unterschiedlichen Arten. Die Milben waren für das bloße Auge normal großer Personen praktisch unsichtbar. Für die Mikromenschen jedoch reichte ihre Größe von der eines Reiskorns bis zu der eines Golfballs. Viele Milben hatten kleine eiförmige Körper, die mit einem dicken Panzer und Stachelhaaren bewehrt waren. Da die Milben Arachniden, also Spinnentiere, waren, blieb Karen King, die Arachnologin, immer wieder stehen, um sie genau zu betrachten. Dabei konnte sie keine einzige Milbe bestimmen. Sie schienen alle noch unbekannt zu sein und zu vielen unterschiedlichen Arten zu gehören. Sie konnte sich an dem Reichtum der hiesigen Natur überhaupt nicht sattsehen. Artenvielfalt, so weit das Auge reichte. Die Milben waren überall. Sie erinnerten sie an Krebse auf einem Felsenufer. Sie waren klein und harmlos. Geschäftig krabbelten sie herum und führten ihr kleines, verborgenes Leben. Sie hob eine Milbe auf und setzte sie in ihre Handfläche.

Dieses Lebewesen erschien ihr so feingliedrig, so perfekt. Karen fühlte, wie sich ihre Stimmung hob. Zu ihrer Überraschung wurde ihr bewusst, dass diese seltsame neue Welt sie glücklich machte. »Ich weiß nicht, warum«, sagte sie, »aber ich habe das Gefühl, als hätte ich mein ganzes Leben nach einem Ort wie diesem gesucht. Mir kommt’s so vor, als ob ich endlich zu Hause wäre.«

»Mir nicht«, sagte Danny.

Die Milbe lief Karens Arm entlang, um ihn zu erkunden.

»Pass auf, sie könnte dich beißen«, sagte Jenny Linn.

»Nicht dieser kleine Junge«, antwortete Karen. »Siehst du seine Mundwerkzeuge? Die sind darauf spezialisiert, tote organische Zerfallsprodukte aufzusaugen. Er frisst Dreck.«

»Woher weißt du, dass es ein ›Er‹ ist?«

Karen zeigte auf den Hinterleib der Milbe. »Hier hat er seinen Penis.«

»Ein Mann ist ein Mann, egal wie klein er ist«, kommentierte Jenny.

Als sie weitergingen, wuchs Karens Begeisterung noch weiter. »Milben sind unglaubliche Wesen. Sie sind hoch spezialisiert. Viele von ihnen sind Parasiten und ziemlich wählerisch, was ihre Wirtstiere angeht. Es gibt eine Milbenart, die nur auf den Augäpfeln eines Flughunds lebt – nirgendwo sonst. Eine andere Milbe lebt am Anus eines Faultiers –«

»Karen, bitte!«, brach es jetzt aus Danny heraus.

»Hab dich nicht so, Danny, das ist eben die Natur. In den Wimpern etwa der Hälfte aller Menschen leben Milben. Auch viele Insekten tragen Milben mit sich herum. Tatsächlich gibt es sogar Milben, die auf anderen Milben leben. Also auch Milben bekommen Milben.«

Danny setzte sich und entfernte eine Milbe von seinem Fußgelenk. »Das kleine Monster hat ein Loch in meine Socke gebissen.«

»Muss ein Dreckfresser sein«, lachte Jenny.

»Das ist nicht lustig, Jenny.«

»Möchte jemand meine organische Latex-Hautcreme ausprobieren?«, sagte Rick Hutter. »Vielleicht hält sie die Milben fern.«

Sie hielten an, und Rick holte ein Plastikfläschchen aus der Tasche und reichte es herum. Alle rieben sich etwas von der Salbe auf ihre Gesichter, Hände und Fußgelenke. Sie hatte einen stechenden Geruch. Und sie wirkte. Sie schaffte es tatsächlich, die Milben zu vertreiben.

Für Amar Singh war die Realität dieser Mikrowelt ein Angriff auf seine Sinne. Er bemerkte, dass klein zu sein sogar die Empfindungen auf seiner Haut veränderte. Zu seinen ersten Eindrücken gehörte die Luft, die ihm über Gesicht und Hände strömte, die an seinem Hemd zerrte und sein Haar zerzauste. Die Luft schien hier dicker, fast sirupartig zu sein, und er konnte ganz deutlich auch noch den leisesten Hauch spüren, wenn die Luft um seinen Körper wehte. Wenn er die Arme bewegte, fühlte er, wie die Luft ihm zwischen den Fingern hindurchglitt. Sich in dieser Mikrowelt durch die Luft zu bewegen war fast so, als ob man schwimmen würde. Da ihre Körper so klein waren, war die Reibung der Luft, die ihnen über die Haut strich, umso deutlicher spürbar. Als Amar ein kleiner Luftzug von der Seite traf, brachte ihn das ins Stolpern. »Wir müssen hier so etwas wie Seemannsbeine entwickeln«, sagte er den anderen. »Es ist fast so, als müssten wir noch mal gehen lernen.« Die anderen hatten ähnliche Schwierigkeiten. Sie stolperten, sie spürten, wie die Luft an ihnen zerrte, und manchmal berechneten sie ihre Schritte falsch. Wenn sie auf etwas hinaufspringen wollten, sprangen sie oft zu weit. Ihre Körper waren in dieser Mikrowelt eindeutig stärker. Sie hatten jedoch noch nicht gelernt, diese Stärke zu kontrollieren.

So mussten sich die ersten Mondfahrer gefühlt haben.

»Wir kennen unsere eigene Stärke nicht«, sagte Jenny. Sie sammelte sich einen Moment, sprang in die Höhe und ergriff den Rand eines Blattes mit beiden Händen. Sie hing ein paar Augenblicke an beiden Händen, danach nur an einer Hand – es war ganz leicht. Sie ließ los und fiel zurück auf den Boden.

Rick Hutter hatte sich bereit erklärt, eine Zeit lang den Rucksack zu tragen. Obwohl dieser bis oben hin voll war, merkte Rick, dass er auch mit ihm auf dem Rücken ohne Schwierigkeiten auf und ab springen konnte. Ohne große Anstrengung konnte er hohe Sprünge vollführen. »Unsere Körper sind in dieser Welt stärker und leichter, da die Schwerkraft hier keine große Rolle spielt.«

»Klein zu sein hat seine Vorteile«, bemerkte Peter.

»Die kann ich nicht erkennen«, sagte Danny Minot.

Amar Singh überkam ein Gefühl von Unbehagen, wenn nicht gar Furcht. Was lebte unter diesen Blättern? Fleischfresser, vielbeinige Tiere mit Gliederpanzern und ungewöhnlichen Methoden, ihre Beute zu töten. Amar stammte aus einer frommen Hindufamilie. Seine Eltern, Einwanderer aus Indien, die sich in New Jersey niedergelassen hatten, aßen kein Fleisch. Er hatte gesehen, wie sein Vater das Fenster geöffnet und eine Fliege aus dem Zimmer gescheucht hatte, anstatt sie zu töten. Amar war schon immer Vegetarier. Er war noch nie fähig gewesen, Tiere wegen des Eiweißes zu essen. Er glaubte, dass alle Tiere leidensfähig seien, auch Insekten. Im Labor arbeitete er deswegen nur mit Pflanzen. Hier im Dschungel fragte er sich jedoch, ob er ein Tier töten und dessen Fleisch würde essen müssen, um zu überleben. Oder ob ein Tier ihn fressen würde. »Wir sind Eiweiß«, sagte er. »Das ist alles, was wir sind. Nur Eiweiß.«

»Was soll das denn heißen?«, fragte ihn Rick.

»Wir sind Fleisch auf zwei Beinen.«

»Du klingst aber ziemlich düster, Amar.«

»Ich bin nur Realist.«

»Wenigstens … ist es hier ungeheuer interessant«, bemerkte Jenny Linn. Ihr fiel vor allem der ganz eigene Geruch dieser Mikrowelt auf. Eine komplexe erdige Geruchsnote drang ihr in die Nase. Sie war nicht einmal schlecht, tatsächlich auf eine gewisse Weise sogar recht ansprechend. Es roch nach Erde, gemischt mit tausend anderen unbekannten Gerüchen, einige süß, andere moschusartig. Viele waren angenehm, sogar lieblich, wie exquisite Parfüms.

»Wir riechen die Pheromone, die chemischen Signalstoffe, mit deren Hilfe Insekten und Pflanzen miteinander kommunizieren«, erklärte Jenny den anderen. »Sie sind die unsichtbare und stille Sprache der Insekten und Pflanzen.« Sie wurde beinahe euphorisch. Zum ersten Mal konnte sie hier das volle Geruchsspektrum der natürlichen Welt erleben. Diese Offenbarung begeisterte sie, machte ihr jedoch auch etwas Angst.

Jenny hielt sich einen Erdbrocken an die Nase und roch daran. Er wimmelte nur so von winzigen Fadenwürmern, unzähligen Milben und mehreren plumpen kleinen Lebewesen, die Wasserbären oder Bärtierchen hießen. Es roch ganz leicht nach Antibiotika. Sie wusste, warum: Die Erde war voller Bakterien, von denen viele zu den Streptomyces-Arten gehörten. »Ihr könnt die Streptomyzeten riechen«, erklärte Jenny den anderen. »Sie gehören zu den Bakterien, die Antibiotika produzieren. Unsere modernen Antibiotika stammen von ihnen ab.« Die Erde war auch von dünnen Pilzfäden, den Hyphen, durchzogen. Jenny zog einen Pilzfaden aus dem Klumpen heraus. Er war fest, aber auch elastisch. In einem Quadratzentimeter Boden konnte es Pilzfäden in einer Gesamtlänge von mehreren Kilometern geben.

Plötzlich fiel etwas durch die dicke Luft an Jennys Augen vorbei nach unten. Es war ein Klümpchen von der Größe eines Pfefferkorns mit einer rauen Oberfläche. »Was in aller Welt ist denn das?«, rief sie und blieb wie angewurzelt stehen, um sich diesen kleinen Klumpen näher anzusehen, der jetzt direkt neben ihren Füßen landete. Da fiel schon wieder einer an ihr vorbei. Sie streckte ihre Hand aus und fing ihn auf. Dann rollte sie ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Er war hart und fest wie eine kleine Nuss. »Das ist ein Pollenkorn«, rief sie erstaunt. Sie schaute nach oben. Über ihr wuchs ein Hibiskusbaum, dessen Überfülle an weißen Blüten ihr wie ein Wolkendach erschien. Aus irgendeinem Grund, den sie nicht erklären konnte, hüpfte ihr Herz bei diesem Anblick vor Freude. Für ein paar Augenblicke war Jenny Linn froh, so winzig zu sein.

»Es ist irgendwie … wundervoll hier«, jubelte sie, während sie sich ganz langsam um die eigene Achse drehte und zu der Blumenwolke hinaufschaute, während neben ihr ein stetiger Pollenschnee niederging. »So schön habe ich mir das nie vorgestellt.«

»Jenny, wir müssen weiter.« Peter war stehen geblieben, um auf sie zu warten. Er sorgte jetzt immer dafür, dass alle zusammenblieben.

Erika Moll, die Entomologin, fühlte sich dagegen gar nicht wohl in ihrer Haut. Mit jeder Minute stieg ihre Angst. Sie wusste genug über Insekten, um sich in ihrer gegenwärtigen Lage sehr vor ihnen zu fürchten. Sie haben einen Panzer, wir dagegen nicht, dachte sie. Ihr Panzer bestand aus Chitin. Eine leichte, aber superharte bioplastische Rüstung. Sie fuhr mit dem Finger über ihren Arm und spürte dabei die Zartheit ihrer Haut und ihre Flaumhaare. Wir sind ganz weich, dachte sie. Wir sind essbar. Sie teilte ihre Gedanken den anderen nicht mit, aber unter ihrer oberflächlichen Ruhe und Gelassenheit schnürte ihr ein Gefühl von Schrecken und Panik fast das Herz ab. Sie fürchtete, dass ihre Angst Gewalt über sie gewinnen würde und ihre Selbstbeherrschung zusammenbrechen könnte. Sie presste die Lippen aufeinander, ballte die Hände zu Fäusten und versuchte, ihre Furcht unter Kontrolle zu halten, während sie weiterging.

Peter Jansen beschloss, eine kleine Pause einzulegen. Sie setzten sich auf die Ränder von Blättern und ruhten sich etwas aus. Peter wollte in der Zwischenzeit Jarel Kinsky einige Fragen stellen. Kinsky wusste eine Menge über den Tensorgenerator, den er ja bedient hatte. Wenn sie es irgendwie zurück ins Nanigen-Hauptquartier schaffen und in den Tensorgeneratorraum gelangen könnten, würden sie die Maschine dann bedienen können? Wie wäre das möglich, wo sie doch so winzig waren? »Bräuchten wir die Hilfe eines normal großen Menschen, um die Maschine in Gang zu setzen?«, wollte Peter von Kinsky wissen.

Kinsky schaute skeptisch drein. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte er und stocherte mit einem Grashalm auf dem Boden herum. »Ich habe das Gerücht gehört, dass der Mann, der den Tensorgenerator entworfen hat, darin eine Notfallsteuerung in Minigröße eingebaut haben soll, die ein Mikromensch wie wir bedienen könnte. Ich nehme an, dass sich diese winzige Steuerkonsole irgendwo im Kontrollraum befindet. Ich habe nach ihr gesucht, sie aber nie gefunden. In den technischen Zeichnungen ist auch nichts aufgeführt. Wenn wir diese winzige Steuerkonsole finden würden, könnte ich sie bedienen.«

»Wir werden Ihre Hilfe brauchen«, sagte Peter.

Kinsky hob den Halm vom Boden auf und betrachtete eine Milbe, die daran emporkletterte und dabei mit ihren Vorderbeinen wedelte. »Ich möchte nur zu meiner Familie zurück, das ist alles«, sagte er leise und schüttelte den Halm, sodass die Milbe herunterfiel.

»Ihr Boss kümmert sich einen Dreck um Sie und Ihre Familie«, blaffte Rick Hutter Kinsky an.

»Rick hat keine Familie«, flüsterte Danny Minot Jenny Linn zu. »Er hat nicht einmal eine Freund –«

Rick stürzte sich auf Danny, der sich losriss und dabei rief: »Du kannst ein solches Problem nicht durch Gewalt lösen, Rick!«

»Das Problem mit dir würde es schon lösen«, murmelte Rick.

Peter packte Rick an der Schulter, drückte sie und hielt ihn zurück, als ob er sagen wollte: Bleib cool. Dann stellte er Kinsky eine weitere Frage: »Gibt es noch irgendeine andere Möglichkeit, zum Nanigen-Hauptquartier zurückzukehren? Ich meine neben diesem Lastwagen, der vielleicht überhaupt nicht mehr hier vorbeikommt.«

Kinsky senkte den Kopf und dachte angestrengt nach. Dann sagte er: »Wir könnten versuchen, uns zur Tantalus-Basis durchzuschlagen.«

»Was ist denn die Tantalus-Basis?«

»Das ist eine Anlage im Tantalus-Krater auf der Bergkette hier über dem Tal.« Kinsky deutete vage in Richtung der Berge, die man von ihrem Standpunkt aus durch Lücken im dichten Regenwald nur als eine grüne Masse sehen konnte. »Die Basis ist irgendwo dort oben.«

»Vin Drake hat Tantalus auf seiner Führung erwähnt«, sagte Jenny Linn.

»Ich erinnere mich«, bestätigte Karen.

»Ist die Basis offen?«, wollte Peter von Kinsky wissen.

»Ich glaube nicht. Im Tantalus-Krater sind Leute gestorben. Durch Raubtiere.«

»Was für welche?«, fragte Karen.

»Wespen, habe ich gehört.«

»Allerdings hatte die Tantalus-Basis auch Mikroflugzeuge«, fuhr Kinsky fort und runzelte nachdenklich die Stirn.

»Mikroflugzeuge?«

»Kleine Flugmaschinen in unserer Größe.«

»Könnten die zum Nanigen-Hauptquartier fliegen?«

»Ich weiß nicht, welche Reichweite diese Flugzeuge haben«, erwiderte Kinsky. »Ich weiß nicht einmal, ob es in dieser Basis überhaupt noch welche gibt.«

»Wie hoch über uns ist eigentlich diese Tantalus-Basis?«

»Sie liegt sechshundert Meter über dem Manoa-Tal«, antwortete Kinsky.

»Sechshundert Höhenmeter!«, explodierte Rick Hutter. »Das ist … unmöglich für Menschen unserer Größe!«

Kinsky zuckte die Achseln. Die anderen sagten gar nichts.

Peter Jansen ergriff jetzt die Initiative. »Okay, ich denke, wir sollten Folgendes tun: Als Erstes sollten wir versuchen, eine Versorgungsstation zu finden, und von dort alles mitnehmen, was wir brauchen können. Denn versuchen wir, zum Parkplatz zurückzukehren. Dort warten wir auf den Lkw. Wir müssen so schnell wie möglich dorthin zurückkehren.«

»Es ist euch doch allen klar, dass wir sterben werden«, sagte Danny Minot, wobei ihm die Stimme beinahe wegblieb.

»Wir können nicht einfach die Hände in den Schoß legen, Danny«, sagte Peter und versuchte, seiner Stimme einen gleichmütigen Ausdruck zu geben. Er spürte, dass Danny jeden Moment in Panik geraten und durchdrehen konnte. Das wäre für die gesamte Gruppe gefährlich.

Die anderen stimmten Peters Plan zu, wenngleich einige mit Murren. Keiner hatte eine bessere Idee. Sie tranken abwechselnd Wasser aus einem Tautropfen auf einem Blatt und setzten sich wieder in Bewegung. Ab jetzt hielten sie nach einem Pfad, einem Zelt oder irgendeiner anderen Spur von menschlicher Präsenz Ausschau. Kleine Pflanzen dicht über dem Boden bildeten richtiggehende Bögen, manchmal sogar Tunnel, die sie von Zeit zu Zeit als Abkürzung benutzen konnten. Sie suchten sich ihren Weg zwischen den Stämmen riesiger Bäume. Von einer Versorgungsstation war jedoch weit und breit nichts zu sehen.

»Okay, dann werden wir eben verbluten, wenn wir nicht rechtzeitig von hier wegkommen«, sagte Rick Hutter, während sie immer weitermarschierten. »Und wir finden nicht einmal eine dieser verdammten Versorgungsstationen. Dann gibt’s da noch diesen psychopathischen Riesen, der uns umbringen will. Und ich habe eine Blase am Fuß. Sonst noch was, weshalb ich mir Sorgen machten sollte?«, fuhr er in sarkastischem Ton fort.

»Ameisen«, erwiderte Kinsky ruhig.

»Ameisen?«, fragte Danny Minot mit zitternder Stimme. »Was ist mit den Ameisen?«

»Die sind ein Problem, habe ich gehört«, antwortete Kinsky.

Rick Hutter blieb vor einer riesigen gelben Frucht stehen, die auf dem Boden lag. Er schaute sich um und dann nach oben. »Genau!«, rief er dann. »Das ist ein Paternosterbaum. Melia azedarach. Manche nennen ihn auch Zedrachbaum oder Chinesischer Holunder. Die Beeren sind hochgiftig, vor allem für Insekten und Insektenlarven. Sie enthalten etwa fünfundzwanzig verschiedene flüchtige Stoffe, vor allem I-Cinnamoyl-Verbindungen. Für Insekten absolut tödlich. Die kann ich gut für mein Curare brauchen.«

Er nahm den Rucksack ab und steckte die hellgelbe, eiförmige Frucht hinein. Sie war so groß, dass sie wie eine riesige Melone oben herausschaute. Karen blickte Rick misstrauisch an. »Das Gift wird heraussickern.«

»Nein.« Rick grinste und klopfte auf die Frucht. »Sie hat eine feste Schale.«

Karen schaute immer noch skeptisch. »Ist ja dein Leben«, meinte sie nur. Die Gruppe setzte ihren Weg fort.

Danny Minot fiel immer weiter zurück. Sein Gesicht war gerötet, und er wischte sich mit den Händen ständig über die Stirn. Schließlich zog er seine Sportjacke aus und warf sie weg. Seine Tasselloafers waren inzwischen völlig dreckverkrustet. Er setzte sich auf ein Blatt und kratzte sich unter dem Hemd. Dann holte er ein einzelnes Pollenkorn heraus und hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger. »Wisst ihr eigentlich, dass ich schwere Allergien habe? Wenn eines dieser Dinger in meine Nase gerät, könnte das einen allergischen Schock auslösen.«

Karen ließ ein verächtliches Lachen hören. »So allergisch kannst du gar nicht sein! Sonst wärst du nämlich schon längst tot.«

Als Danny es fortschnipste, begann das Korn, sich wild zu drehen, und tanzte durch die Luft davon.

Amar Singh konnte sich an dieser Überfülle von Leben überhaupt nicht sattsehen. In allen Ecken und Winkeln wimmelte es nur so von Lebewesen. »Oh Mann! Ich wünschte, ich hätte eine Kamera dabei. Ich würde das hier gerne dokumentieren.«

Sie waren junge Wissenschaftler, und die Mikrowelt enthüllte ihnen ein wahres Wunderland voll unbekanntem Leben. Sie vermuteten, dass sie hier Kreaturen begegneten, die noch niemand bemerkt, geschweige denn benannt hatte. »Über jeden Quadratdezimeter hier könnte man eine Doktorarbeit schreiben«, sagte Amar. Er begann darüber nachzudenken, genau das zu tun. Diese Reise könnte mir meine Promotion einbringen. Wenn ich sie überlebe.

Kleine torpedoförmige Lebewesen mit dreigeteilten Körpern und sechs Beinen krochen plötzlich überall auf dem Boden herum. Einige saugten Pilzstränge auf, als ob sie Spaghetti essen würden. Als die Gruppe an ihnen vorbeilief, schreckte ab und zu eines dieser kleinen Wesen auf. Dann war ein lautes Schnappgeräusch zu hören, und sie katapultierten sich selbst hoch in die Luft, wobei die Sprungdistanz ein Vielfaches ihrer Körperlänge betrug.

Erika Moll hielt an, um eines von ihnen zu untersuchen. Sie hob es auf und hielt es in die Höhe, während es seinen Hinterleib wild hin und her bewegte und dabei kräftige Klicklaute von sich gab.

»Was sind das für Wesen?«, fragte Rick und zog sich eines aus den Haaren.

»Sie heißen Springschwänze«, sagte Erika Moll. In der normalen Welt seien diese Springschwänze extrem klein. »Nicht größer als das i-Pünktchen auf einer Buchseite«, erklärte sie. Das Tier habe in seinem Abdomen einen Sprungmechanismus, mit dessen Hilfe es weite Sprünge vollführen und damit seinen Fressfeinden entkommen könne. Erika setzte eines von ihnen auf ihre Handfläche und berührte es. Das Tier schleuderte sich aus ihrer Hand und stieg hoch in die Luft, um dann hinter einem Farn außerhalb ihres Sichtfelds zu landen.

Als sie weitergingen, sahen sie jetzt immer wieder, wie sich durch ihre Schritte aufgeschreckte Springschwänze durch einen wilden Sprung aus der Gefahrenzone brachten. Peter Jansen ging weiterhin an der Spitze. Er war schweißgebadet. Ihm wurde klar, dass ihre kleinen Körper sehr schnell Flüssigkeit verloren.

»Wir müssen darauf achten, immer genug zu trinken«, teilte er den anderen mit. »Sonst könnten wir ganz schnell austrocknen.« Sie sammelten sich um einen Moosklumpen, in dem zahlreiche Tautröpfchen hingen. Sie benutzten sie jetzt als Wasserspender, wobei sie ihre Hände als Trinkgefäß verwendeten. Die Wasseroberfläche war elastisch, und sie mussten auf das Wasser schlagen, um die Oberflächenspannung zu überwinden. Als Peter etwas Flüssigkeit zum Mund heben wollte, türmte sie sich in seinen Händen zu einem Riesentropfen auf.

Sie kamen zu einem massiven Baumstumpf, der sich aus einem verschlungenen Geflecht dicker Wurzeln erhob. Als sie sich um diese herumbewegten, stach ihnen ein scharfer Geruch in die Nase. Sie hörten plötzlich klopfende, trommelnde Geräusche, die an fallenden Regen erinnerten. Peter, der sie immer noch anführte, stieg auf eine Wurzel hinauf. Von dort oben erblickte er zwei niedrige Mauern, die sich nebeneinander über den Boden schlängelten, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Sie bestanden aus Erdklumpen, die von irgendeinem getrockneten Material zusammengehalten wurden.

Zwischen den Mauern war in beiden Richtungen eine Ameisenkolonne unterwegs. Die Mauern schützten also eine Ameisenstraße. An einer Stelle setzten sie sich in einem Tunnel fort.

Peter ging in die Hocke und gab den anderen das Zeichen, sie sollten anhalten. Sie bewegten sich ganz vorsichtig vorwärts, bis sie auf der Wurzel auf dem Bauch lagen und zu der Ameisenkolonne hinunterschauten. Waren diese Ameisen gefährlich? Jede von ihnen war fast so lang wie Peters Unterarm. Das war gar nicht so groß, dachte er. Er war erleichtert. Irgendwie hatte er erwartet, dass sie viel größer sein würden. Andererseits gab es wirklich eine Menge von ihnen. Zu Hunderten wuselten sie ihre Straße entlang und durch den kleinen Tunnel, den sie sich gebaut hatten.

Ihre Körper hatten eine rötlich braune Farbe und waren von stachligen Haaren bedeckt. Ihre Köpfe waren glänzend schwarz, so schwarz wie Kohle. Der Geruch der Ameisen stieg von ihrer Straße auf wie die Abgase von einer Autobahn. Es roch herb und säuerlich. Aber auch ein feiner Duftton machte sich bemerkbar. »Dieser scharfe Geruch ist Ameisensäure. Sie dient zur Verteidigung«, erklärte Erika Moll, als sie sich hinkniete, um die Ameisen genau zu beobachten.

Jenny Linn ergänzte: »Der süße Duft ist ein Pheromon. Es ist wahrscheinlich der Erkennungsgeruch der ganzen Kolonie. Die Ameisen nutzen ihn, um einander als Mitglieder derselben Kolonie zu identifizieren.«

»Das sind alles Weibchen«, fuhr Erika fort. »Alles Töchter ihrer Königin.«

Einige Ameisen trugen tote Insekten oder einzelne Insektenteile. Die Futterträger auf dieser Straße bewegten sich alle in die gleiche Richtung, nämlich nach links. »Dort liegt der Nesteingang. Dorthin bringen sie auch ihre Nahrung«, fügte Erika hinzu.

»Weißt du, was das für eine Art ist?«, fragte sie Peter.

Erika versuchte, sich an den Namen zu erinnern. »Ähm … In Hawaii gibt es keine einheimischen Arten. Alle Ameisen in Hawaii sind eingewanderte Spezies. Sie sind hier zusammen mit den Menschen angekommen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das hier Pheidole megacephala sind.«

»Haben die auch einen nichtlateinischen Namen?«, fragte Rick. »Du weißt doch, dass ich nur ein ignoranter Ethnobotaniker bin.«

»Man nennt sie auch Großkopfameisen«, erklärte Erika. »Sie wurden zuerst auf der Insel Mauritius im Indischen Ozean gefunden, haben sich heute jedoch über die ganze Erde ausgebreitet. Auf den Hawaii-Inseln sind sie die häufigste Ameisenart. Sie kamen hier auf einem Schiff an, vielleicht sogar erst im Zweiten Weltkrieg.« Die Großkopfameise sei in letzter Zeit zu einer der schädlichsten invasiven Insektenarten auf unserem Planeten geworden. »Die Pheidole megacephala haben im Ökosystem dieser Inseln gewaltige Schäden angerichtet«, fuhr Erika fort. »Sie attackieren und töten einheimische hawaiianische Insekten. Sie haben sogar einige hiesige Insektenarten beinahe ausgerottet. Außerdem töten sie auch kleine Vogelküken.«

»Das klingt aber gar nicht gut für uns«, sagte Karen. Ein normal großes Küken war auf jeden Fall größer als sie in ihrem gegenwärtigen Zustand.

»Ich verstehe nicht, was an ihren Köpfen so groß sein soll«, wunderte sich Danny.

»Die hier sind von der kleineren Arbeiterinnensorte. Die größeren haben auch größere Köpfe.«

»Die größeren?«, fragte Danny nervös. »Wer sind denn die?«

»Die größeren sind Soldaten«, erklärte Erika. »Bei den Pheidole megacephala gibt es zwei Kasten – die ›Minors‹ und die ›Majors‹, wie sie wissenschaftlich korrekt heißen. Die ›Minors‹ sind Arbeiterinnen. Sie sind klein und zahlreich. Die ›Majors‹ sind die Krieger, die das Volk schützen. Sie sind groß, und es gibt viel weniger von ihnen.«

»Und wie sehen diese großköpfigen Soldaten aus?«

Erika zuckte die Achseln. »Sie haben große Köpfe.«

So viele Ameisen, und jede von ihnen schien von einer unmenschlichen Energie erfüllt zu sein. Eine Ameise allein stellte sicherlich keine Gefahr da, aber Tausende von ihnen, wenn sie dann noch aufgeregt oder hungrig waren … Trotz der Bedrohung konnten die jungen Wissenschaftler gar nicht anders, als diese Ameisen fasziniert zu beobachten. Plötzlich stoppten zwei Ameisen und betasteten gegenseitig ihre Antennen. Dann begann eine Ameise, mit dem Hinterleib zu wackeln und ein rasselndes Geräusch von sich zu geben. Die andere würgte ein Flüssigkeitströpfchen hervor, das von der ersten begierig aufgeleckt wurde. Erika erklärte, was da vor sich ging: »Sie erbettelt Futter von ihrer Artgenossin. Sie bewegt ihren Hinterleib und macht dieses kratzende Geräusch, um zu signalisieren, dass sie hungrig ist. Das ist die Ameisenversion des Hundewinselns –«

Danny unterbrach sie. »Mir erschließt sich nicht, was daran so toll sein soll, wenn eine Ameise einer anderen Essen in den Mund stopft. Lasst uns weitergehen, bitte.«

Die Ameisenstraße war nicht sehr breit. Sie hätten also leicht über sie hinüberspringen können. Sie entschieden sich jedoch dafür, den Ameisenkolonnen aus dem Weg zu gehen, statt irgendwelche Schwierigkeiten zu riskieren. »Oder möchte jemand so eine Ameise an der Hacke haben?«, fragte Peter.

Jarel Kinsky blieb stehen und schaute zu den Ästen des großen ausladenden Baums hinauf, unter dem sie gerade vorbeigingen. »Ich kenne diesen Baum«, sagte er. »Das ist ein Albesia-Baum. Auf der anderen Seite befindet sich eine Versorgungsstation, da bin ich mir ziemlich sicher.« Er kletterte auf eine Wurzel, ging ein kleines Stück auf ihr entlang und sprang dann wieder herunter. »Ja«, sagte er. »Ich glaube, wir sind schon ganz in der Nähe.« Kinsky übernahm jetzt die Führung und begann, links um den Albesia-Baum herumzugehen. Er bahnte sich seinen Weg durch tote Farnblätter und schlug mit seinem Grashalm-Speer Pflanzen und Blätter beiseite.

Peter Jansen ließ sich zum Ende ihrer Marschkolonne zurückfallen. Der Anblick dieser Ameisen hatte ihm gar nicht gefallen, und er wollte sie im Auge behalten, während die Gruppe weiterging. Rick Hutter ging ganz am Ende. Er hatte an seinem Rucksack mit der Paternosterbaumfrucht und seinem Speer schwer zu tragen. »Hey Rick, kann ich eine Weile deinen Speer haben? Ich übernehme die Nachhut«, sagte Peter.

Rick nickte, reichte ihm den Speer und ging weiter.

In der Zwischenzeit zog Kinsky ein Blatt beiseite und sagte laut: »Wenn wir ins Nanigen-Hauptquartier zurückkommen, müssen wir die versteckte Konsole finden, damit wir den Generator bedienen können, selbst wenn Mr. Drake nicht will –« In diesem Augenblick blieb er wie angewurzelt stehen. Jenseits der Baumwurzeln war direkt vor ihnen die Spitze eines Zelts zu sehen.

»Eine Station! Eine Station!«, rief Kinsky und begann, auf das Zelt zuzulaufen.

Dabei übersah er den Eingang des Ameisennests.

Es war ein künstlicher Tunnel, der aus zusammengeklebter Erde errichtet worden war und ganz unten aus einem Palmenstamm herauskam. In seiner Aufregung rannte Jarel Kinsky direkt am Tunneleingang vorbei. Dort hielten Dutzende von Soldaten Wache. Sie waren zwei- bis dreimal größer als die Arbeiterinnen. Ihre Körper waren stumpfrot und mit spärlichen Borstenhaaren bedeckt. Ihre Köpfe glänzten schwarz und riesengroß. Sie waren vollgepackt mit Muskeln und stark gepanzert. Ihre Mundwerkzeuge waren eindeutig zum Kämpfen bestimmt, die Augen wirkten wie schwarze Murmeln.

Sie entdeckten Kinsky, als er zum Zelt hinüberrennen wollte.

Sofort griffen alle Soldaten an. Als Kinsky die Riesenameisen auf sich zustürmen sah, wich er zur Seite aus. Aber die Soldaten hatten sich bereits aufgefächert. Jetzt näherten sie sich ihm aus allen Richtungen, eine Strategie, die ihm jeden Fluchtweg abschnitt. Kinsky blieb stehen, während sich der Ring der Ameisensoldaten um ihn schloss. Er schwang seinen Grasspeer über dem Kopf und schrie: »Nein!« Er versuchte, den Speer einem Soldaten in den Kopf zu rammen. Die Ameise packte die Graswaffe jedoch mit ihren Mundwerkzeugen und brach deren scharfe Spitze ab. Einige Soldaten rückten jetzt Kinsky auf den Leib und begannen, ihn zu Boden zu ziehen, während eine andere Ameise Kinskys Handgelenk mit ihren Mandibeln umschloss. Er schrie, wedelte mit der Hand und wirbelte die Ameise herum, um sie abzuschütteln. Aber der Soldat klammerte sich an sein Handgelenk und schüttelte seinen Kopf im Versuch, die Knochen, Sehnen und Bänder durchzubeißen. Tatsächlich gelang es ihm, Kinskys Hand abzuzwicken. Die Ameise wurde ein Stück zur Seite geschleudert und rannte dann mit der Hand im Maul davon. Kinsky schrie, sank auf die Knie und hielt seinen Armstumpf, aus dem das Blut herausspritzte. Ein Soldat kletterte an Kinskys Rücken empor, setzte seine Kieferzangen hinter dessen Ohr an und begann, die Kopfhaut abzureißen. Kinsky fiel zu Boden und wand sich vor Schmerzen. Die Ameisen ergriffen ihn an Armen und Beinen, zogen diese auseinander, und begannen, ihn zu vierteilen. Sie rissen ihm nacheinander alle Gliedmaßen aus. Ein Soldat packte ihn mit seinem Kiefer unter dem Kinn, und Kinskys Schreie endeten in einem gutturalen Laut, als ihm das Blut aus der Kehle schoss und sich über den Kopf der Ameise ergoss. Kleinere Arbeiterinnen schlossen sich jetzt dem Angriff an, und Kinsky schien unter einem Haufen rasender Ameisen zu verschwinden.

Peter Jansen rannte nach vorn, schwenkte den Speer und schrie die Ameisen an, um sie vielleicht doch noch von Kinsky vertreiben zu können, aber es war zu spät. Peter hielt an und wich trotz dem Chaos und dem Schrecken vor seinen Augen nicht von der Stelle. Vielleicht könnte er den anderen die Zeit zur Flucht verschaffen, dachte er und begann sich auf die Ameisen zuzubewegen. Plötzlich merkte er, dass Karen King mit ihrem Messer in der Hand neben ihm stand. »Verschwinde«, rief er ihr zu.

»Nein«, antwortete sie kurz und knapp. Sie ging in die Hocke, fixierte die Ameisen und streckte ihnen ihr Messer entgegen. Sie konnte die Ameisen vielleicht aufhalten, sodass die anderen Zeit genug hatten, um ihnen zu entkommen. In der Zwischenzeit strömten immer mehr Soldaten aus dem Nest. Sie schwärmten aus, um nach weiteren Feinden zu suchen. Ein Soldat stürmte mit weit geöffneten Mundwerkzeugen direkt auf Peter und Karen zu.

Peter schleuderte der Ameise seinen Speer entgegen. Sie wich ihm aus und setzte ihren Angriff mit erstaunlicher Geschwindigkeit fort.

»Überlass sie mir, Peter!«, rief Karen King. Sie wich ein paar Schritte zurück, sprang dann in die Luft, viel höher, als normal große Menschen jemals springen könnten, und landete dann wie eine Katze etwas von der Ameisenschar entfernt. Sie holte die Sprühflasche mit den chemischen Abwehrstoffen aus ihrem Gürtel, die sie eigentlich Vin Drake hatte zeigen wollen. Benzo. Ameisen mochten kein Benzo, da war sie sich sicher. Sie sprühte den Stoff einer angreifenden Ameise entgegen. Diese stoppte sofort, drehte sich um … und rannte weg.

»Yeah!«, jubelte sie. Das Spray wirkte. Sie liefen davon wie die Hasen.

Aus den Augenwinkeln konnte sie beobachten, dass die anderen Studenten vom Ameisennest wegliefen. Gut. Sie konnte ihnen also wirklich Zeit verschaffen! Sie versprühte ihren Abwehrstoff immer weiter. Tatsächlich hielt das Spray die Ameisen zurück. Allerdings enthielt die Flasche nur eine geringe Menge dieser Flüssigkeit. Gleichzeitig brachen immer mehr Soldaten aus ihrem Nest hervor. Offensichtlich war das ganze Volk alarmiert worden. Eine Ameise sprang Karen auf die Brust, zerriss ihr Hemd und begann, nach ihrem Hals zu schnappen.

»Hai!«, rief Karen als Kampfruf aus, packte die Ameise hinter dem Kopf, hielt sie in die Höhe und rammte ihr mit der anderen Hand das Messer tief in den Kopf, aus dem jetzt eine klare Flüssigkeit herausspritzte. Es war Hämolymphe, Insektenblut. Sofort warf sie die Ameise von sich weg. Diese fiel zu Boden, und alle ihre Gliedmaßen zuckten. Aber die Ameisen kannten keine Furcht, sie besaßen keinen Selbsterhaltungstrieb, und ihre Zahl schien kein Ende zu nehmen. Als einige Soldaten sie einzukreisen begannen, machte Karen wie ein Zirkusartist einen Salto rückwärts und landete dann sogar wieder auf ihren Füßen.

Und dann begann sie zu rennen.

Vor sich sah sie auch die anderen Menschen davonlaufen. Die Angst schien sie zu ungeheurer Geschwindigkeit anzutreiben. Sie sprangen über Blätter und Farnstängel, wichen allen Hindernissen aus und flohen wie Gazellen. Wieso kann ich nur so schnell rennen? Ich bin in meinem ganzen Leben noch nicht so schnell gerannt, dachte Karen. Ihre Körper waren in dieser Mikrowelt ganz eindeutig viel stärker und schneller. Das verschaffte Karen ein Gefühl von übermenschlicher Kraft, das sie in einen regelrechten Rausch versetzte. Sie sprang über Hindernisse wie ein Hürdenläufer und konnte die Höhe ihrer Sprünge selbst kaum glauben. Ihr wurde klar, dass sie in ihrer gewöhnlichen Gestalt etwa achtzig Stundenkilometer schnell sein müsste, um eine Geschwindigkeit zu erreichen, die mit ihrer jetzigen vergleichbar wäre. Ich habe eine Ameise getötet. Mit einem Messer und bloßen Händen.

Nach kurzer Zeit hatten sie die Ameisen hinter sich gelassen. Vor ihnen stand in einiger Entfernung das Zelt.

Hinter ihnen machten Arbeiterinnen Kinskys Körper gebrauchsfertig. Nachdem die Arme und Beine bereits abgebissen waren, schnitten sie jetzt den Rumpf in Stücke. Jedes Mal war ein lautes Knacken zu hören, wenn sie die Rippen und die Wirbelsäule durchtrennten und gleichzeitig seine inneren Organe herausrissen. Sauggeräusche zeugten davon, dass die Ameisen das vergossene Blut tranken. Ein Chaos von zerrissener Kleidung, Blut und Eingeweideresten blieb zurück, während die Ameisen anfingen, das Fleisch in die Tiefe ihres Nests zu transportieren.

Karen blieb kurz stehen, um noch einmal zurückzuschauen. Sie konnte beobachten, wie die Ameisen gerade Kinskys Kopf in das Loch hineintrugen. Der abgetrennte Kopf starrte in Karens Richtung, als die Arbeiterinnen ihn in ihren Bau bugsierten. Seine Miene zeigte einen überraschten Ausdruck.

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