Kapitel 39 TANTALUS-BASIS

31. OKTOBER, 17:00 UHR

Wie lange der Mann da bereits stand, konnte Karen nicht sagen. Vielleicht hatte er sie während der ganzen Zeit beobachtet, in der sie die Basis erforscht hatten. Sie sah seine langen weißen Haare im Wind flattern. Er trug irgendeinen Panzer, aber sie konnte nicht feststellen, woraus er gemacht war. Seine Augen schauten selbst aus der Ferne hart und kalt. Er hob einen Gegenstand an die Schulter. Ein Gasgewehr.

»Runter!«, rief Karen und zog Rick mit sich zu Boden.

Er drückte ab. Sie hörten ein Zischen, und ein funkelndes Stahlgeschoss sauste an ihnen vorbei, grub sich irgendwo hinter ihnen in den Boden und explodierte. Karen kroch davon und zog Rick hinter sich her, aber sie fanden nirgendwo Deckung. Noch ein Scharfschütze … Drake hatte sie gefunden …

Durch den Wind war seine Stimme zu hören: »Das war ein Warnschuss. Steht auf und zeigt mir eure Hände. Wenn ihr Waffen habt, werft sie vor euch auf die Erde.«

Sie gehorchten. Karen hielt das Blasrohr, ihre letzte Waffe, in die Höhe, damit er sie sehen konnte, und warf sie auf den Boden. Den Pfeilbehälter legte sie daneben.

»Und jetzt die Hände auf den Kopf!«

Karen gehorchte, rief dann jedoch: »Wir haben zwei Verletzte. Wir brauchen Hilfe.«

Keine Antwort. Er ging mit der Waffe im Anschlag auf sie zu. Als er näher kam, sah sie, dass es sich um einen älteren Mann handelte. Er hatte ein sonnengebräuntes, wettergegerbtes Gesicht, windzerzauste Haare, die seit Langem nicht mehr geschnitten worden waren, und tief liegende blaue Augen. Er besaß sichtlich Muskeln und schien physisch immer noch sehr stark zu sein. Wie alt war er wohl? Er konnte irgendwo zwischen fünfzig und achtzig sein. Seine Rüstung war aus den harten Teilen eines Käfers gefertigt. Auf der Stirn hatte er eine Narbe, die sich den ganzen Hals hinunterzog und unter der Brustplatte seines Panzers verschwand. Er musterte sie genau und erforschte ihre Gesichter.

Zwischendurch ließ er immer wieder seine Augen über die ganze Umgebung wandern. Karen erkannte, dass er nach Raubtieren Ausschau hielt. Er deutete mit seiner Waffe auf sie. »Eure Namen!«

Karen teilte ihm ihre Namen mit: »Und wer sind Sie?«

Er ignorierte die Frage.

»Mein Arm –«, meldete sich jetzt Danny, verstummte jedoch, als der Mann das Gewehr auf sein Gesicht richtete.

»Wir brauchen medizinische Hilfe«, fügte Karen hinzu.

Der Mann starrte sie nur an. Dann stieß er mit dem Fuß gegen das Blasrohr. »Interessant«, sagte er. Er hob es auf, untersuchte einen Pfeil und roch daran. »Vergiftet?«, fragte er.

Sie nickte.

»Wo sind eure Gewehre?«

»Wir haben unser einziges Gewehr eingebüßt. Ein Vogelangriff.«

»Vin Drake hat euch geschickt«, unterbrach er sie. »Warum?«

»Nein, Drake hat versucht, uns umzubringen –«, begann Karen zu erklären.

Der Mann schnitt ihr das Wort ab. »Das ist nur wieder einer seiner Tricks.«

»Sie müssen uns das glauben!«, beteuerte Karen.

»Wo kommt ihr her?«

»Vom Arboretum.«

»Und ihr habt es bis hierher geschafft? Das ist unmöglich.«

Karen trat auf ihn zu und stieß sein Gewehr beiseite. »Geben Sie mir meine Waffe zurück!«

Seine Augen weiteten sich, vielleicht aus Überraschung, vielleicht aus Wut. Nach einer kleinen Pause richtete er sein Gewehr auf den Boden und öffnete den Verschluss. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und enthüllte kurz seine weißen Zähne. »Irgendwie beeindruckt ihr mich«, sagte er. Er gab ihr das Blasrohr zurück. »Willkommen auf dem Tantalus. Mein Name ist Ben Rourke. Ich bin der Erfinder des Tensorgenerators.«

Karen schaute ihn interessiert an. »Wie sind Sie hier oben gelandet?«

»Verschollen bin ich unfreiwillig, geblieben bin ich absichtlich.«

Ben Rourke lebte in einem Höhlenlabyrinth in der Nähe des Großen Felsens, etwa zwei Meter oberhalb der Tantalus-Basis. Er führte sie den Abhang zum Großen Felsen hinauf und half, Rick zu stützen. Der Höhleneingang war ein Loch im Boden am Fuß des Felsblocks, mit einem Tunnel, der horizontal nach innen führte. Das Ganze ähnelte dem Eingang zu einer Mine. Rourke half Rick vorwärts. Sie gingen den Tunnel entlang, während das Licht immer schwächer wurde. Schließlich gelangten sie zu einer Tür, die ganz aus Holz geschnitzt war. Sie war geschlossen und mit einem Eisenhaken verriegelt. Rourke öffnete sie, und alle zusammen betraten einen stockdunklen Tunnel. Er betätigte einen Schalter. An der Decke des Tunnels leuchtete ein Lichtband aus LED-Lampen auf. »Willkommen in Rourkes Redoute«, sagte er. »So nenne ich mein kleines Reich hier.« Er schloss die Tür hinter sich und sicherte sie mit einer Eisennadel. »Hält die Hundertfüßer draußen.«

Er ging mit langen, festen Schritten vor ihnen her.

Hinter einer Biegung ging es leicht abwärts immer weiter in den Berg hinein. Es ging nach links und dann wieder nach rechts. Dabei kamen sie an etlichen Seitentunneln vorbei, die in die Dunkelheit führten. »Das Ganze hier ist ein verlassener Rattenbau«, erklärte Rourke. »Drakes Leute haben die Ratten für zu gefährlich gehalten, deshalb haben sie alle vergiftet und ihr Nest versiegelt. Ich habe die Tunnel wieder geöffnet und bin eingezogen.« In regelmäßigen Abständen verbreiteten LED-Lichter an der Decke einen tiefblauen Schein.

»Woher kommt eigentlich der Strom?«, fragte ihn Karen.

»Von einem Sonnenkollektor auf einem Baum. Das Kabel führt dann hier herunter zu einem Akkupack. Ich habe – trotz Hexapod – drei Wochen gebraucht, um die verdammten Batterien von der Tantalus-Basis hierherzuschleppen. Vin Drake hat keine Ahnung, welche Schätze seine Leute hinterlassen haben, als sie Tantalus aufgaben. Im Übrigen hält er mich für tot.«

»Was verbindet Sie mit Drake?«, fragte ihn Karen.

»Hass.«

»Was ist passiert?«

»Alles zu seiner Zeit.«

Ben Rourke war ein geheimnisvoller Typ. Wie kam er hierher? Warum war er nicht an der Tensor-Krankheit gestorben?

Rick untersuchte seine Gliedmaßen und rieb sich den Arm. Er war voller Blutergüsse, wie er jetzt im Schein der LED-Lampen erkannte. Wenigstens konnte er sich wieder bewegen. Er fragte sich, wie viel Zeit er, Karen und Danny noch hatten, bevor sie die Tensor-Krankheit bekommen würden. Wie lange waren sie eigentlich schon in dieser Mikrowelt? Es erschien ihm wie eine Ewigkeit. Tatsächlich waren es jedoch nur drei Tage. Die ersten Symptome zeigten sich angeblich am dritten oder vierten Tag.

Sie kamen zu einer weiteren schweren Holztür. Die Türen funktionierten wie Schotten auf einem Schiff. Sie riegelten die einzelnen Teile des Baus voneinander ab. Rourke verrammelte die Tür hinter sich. Er erklärte, dass man bei einigen Raubtieren, die es in dieser Gegend gab, gar nicht genug aufpassen könne. Er betätigte einen Schalter, und das Licht ging an. Es enthüllte eine Halle mit hohen Decken, die mit Möbeln, Bücherregalen, Laboreinrichtungen und einer Unzahl von Vorräten aller Art vollgestopft war. Offensichtlich Rourkes Wohnbereich.

»Trautes Heim, Glück allein«, lachte er. Er zog seine Rüstung aus und hängte sie neben anderen Ausrüstungsgegenständen auf. Seitengänge führten zu weiteren Räumen. In einem konnten sie zahlreiche elektronische Geräte erkennen.

Im Hauptraum standen ein Schreibtisch mit einem Computer sowie mehrere Stühle, die aus Zweigen und gewebtem Gras hergestellt worden waren. Im Zentrum der Halle befand sich ein runder offener Herd. An einem Gestell in dessen Nähe hingen Streifen geräucherten Insektenfleischs. Rourke hatte sich auch einen Vorrat an getrockneten Früchten, essbaren Samenkörnern und diversen anderen Nahrungsmitteln aus der Mikrowelt zugelegt.

Als Bett diente Rourke die Schale einer Lichtnuss, die mit weichem Rindenbast ausgepolstert war. An einer Wand war ein riesiger Haufen aufgeschnittener Lichtnüsse aufgetürmt. Ben Rourke trug einige ölige Stücke davon zu seiner Kochstelle und zündete mit einem Gasfeuerzeug das Herdfeuer an. Das Feuer flammte auf und verbreitete Licht und Wärme im ganzen Raum. Der aufsteigende Rauch zog durch ein Loch in der Decke ab.

Ben Rourke schien ein Hansdampf in allen Gassen zu sein, ein brillanter Mann, der über viele Dinge eine Menge wusste. Er schien in seiner Festung glücklich zu sein. Anscheinend hatte er ein Leben gefunden, das ihm gefiel. Sie fragten sich, was ihm wohl widerfahren war. Wie war er hier gelandet? Warum hasste er Vin Drake? Karen und Rick schauten auf ihre Hände und Arme und bemerkten die vielen Blutergüsse. Es wäre sicher eine gute Idee, Rourke davon zu überzeugen, dass sie so bald wie möglich ins Nanigen-Hauptquartier zurückkehren mussten. Vielleicht konnten sie von ihm auch erfahren, wie er die Tensor-Krankheit besiegt hatte.

Als Erstes musste Rourke jedoch Rick und Danny untersuchen und verarzten. Rourke fing mit Rick an. Er rieb Ricks Gliedmaßen, schaute ihm in die Augen und stellte ihm einige Fragen. Er holte einen Kasten aus einem Vorratsraum und öffnete ihn. Es war ein Medizinkasten, wie ihn die alten Schiffskapitäne auf ihren langen Fahrten mitgeführt hatten. Er enthielt zahlreiche Gegenstände. Dazu gehörten eine Pinzette, eine Schere, sterile Kompressen, ein sehr langes Skalpell, eine Knochensäge, eine Jodflasche und eine Flasche Jack Daniel’s. Rourke untersuchte die Einstichwunde unter Ricks Arm, wo die Wespe ihren Stachel hineingetrieben hatte. Er trug reichlich Jod auf die Wunde auf, was Rick vor Schmerz hochfahren ließ. Er versicherte ihm, sie werde heilen. Dann meinte er noch: »Ihr Leute braucht dringend ein Bad.«

»Wir sind seit drei Tagen in der Mikrowelt«, erklärte Karen.

»Drei Tage«, sagte Rourke nachdenklich. »Tatsächlich seid ihr schon viel länger hier. Ich nehme an, ihr habt die Zeitraffung bemerkt?«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Rick.

»Für uns hier vergeht die Zeit schneller. Eure Körper arbeiten schneller. Eure Herzen schlagen so schnell wie die von Kolibris.«

»Wir mussten bei Tag immer wieder schlafen«, bemerkte Karen.

»Natürlich. Und eure Zeit läuft ab. Die Tensor-Krankheit hat euch schon am Wickel, das kann ich sehen. Bald wird sie voll ausbrechen. Und dann geht’s erst richtig los, die Blutergüsse, die Gelenkschmerzen, das Nasenbluten – und dann das Ende.«

»Wie sind Sie eigentlich der Tensor-Krankheit entgangen?«, wollte Karen wissen.

»Das bin ich gar nicht. Ich wäre sogar um ein Haar daran gestorben. Aber ich habe einen Weg gefunden, sie zu überstehen. Vielleicht können manche Menschen sie doch überleben.«

»Und was haben Sie gemacht?«, fragte Rick.

»Das werde ich euch zeigen. Aber jetzt müssen wir uns um den Arm dieses Jungen hier kümmern.« Er wandte seine Aufmerksamkeit Danny zu.

Dieser saß auf einem Stuhl in der Nähe des Feuers, einer Art Rohrstuhl aus Farnhaaren und winzigen Zweigen. Trotzdem war er recht massiv und ziemlich bequem. Danny wiegte wieder einmal seinen Arm. Inzwischen war der Ärmel vollständig zerrissen. Die Larven unter seiner Haut verursachten regelrechte Beulen auf seinem Arm, wenn sie sich bewegten. Ben Rourke schaute sich ihn sorgfältig an und klopfte ganz leicht dagegen. »Wahrscheinlich eine parasitäre Wespe, die ihre Eier in dir abgelegt hat. Sie hat deinen Arm mit einer Raupe verwechselt.«

»Werde ich sterben?«

»Natürlich.« Danny schaute ihn entsetzt an, aber Rourke fügte hinzu: »Die Frage ist nur, wann. Wenn du nicht gleich sterben willst, müssen wir dir diesen Arm abnehmen.« Er holte das lange Skalpell heraus und reichte Danny die Flasche Jack Daniels. »Unser Narkosemittel. Fang schon mal zu trinken an, während ich die Instrumente abkoche.«

»Nein!«

»Wenn der Arm nicht wegkommt, könnten diese Larven wandern.«

»Und wohin?«

»In dein Gehirn.« Rourke hielt die Knochensäge hoch und überprüfte ihre Zähne.

Danny sprang vom Stuhl hoch und hielt die Flasche wie eine Keule vor seinen Körper. »Bleiben Sie mir vom Leib!«

»Verschütte den Whiskey nicht. Ich habe nicht mehr viel.«

»Sie sind kein Arzt!« Er nahm einen Schluck aus der Flasche. »Ich möchte einen echten Arzt!« Er wischte sich den Mund ab und hustete.

»Du wirst im Moment nirgendwohin gehen«, sagte Rourke und legte seine Instrumente wieder in den Kasten. »Draußen wird es dunkel. Nachts bleibt man unter der Erde, wenn man klug ist.«

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