Kapitel 11 WAIPAKA-ARBORETUM

28. OKTOBER, 22:45 UHR

Was tust du denn hier, Alyson?«, fragte Drake, als er aus seinem Bentley ausstieg.

Sie blinzelte in das helle Scheinwerferlicht. »Warum bist du mir gefolgt?«

»Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, Alyson. Große Sorgen.«

»Mir geht’s gut.«

»Wir haben eine Menge zu tun.« Er kam ihr immer näher.

»Und was?« Sie wich vor ihm zurück.

»Wir müssen uns schützen.«

Sie atmete tief ein. »Was hast du vor?«

Er durfte es nicht zulassen, dass man ihm die Schuld gab. Ihr ja, aber nicht ihm. Er hatte da eventuell eine Idee – einen Weg, die Sache entsprechend zu deichseln. »Es gibt einen Grund für ihr Verschwinden, weißt du?«, sagte er zu ihr.

»Was meinst du damit, Vin?«

»Einen plausiblen Grund, warum sie verschwunden sind. Einen Grund, der nichts mit dir und mir zu tun hat.«

»Und welcher sollte das sein?«

»Alkohol.«

»Was?«

Er packte sie an der Hand und zog sie zum Gewächshaus hinüber. Dabei erklärte er ihr: »Das sind arme Studenten. Sie haben kein Geld und versuchen immer zu sparen. Sie wollen Party machen und sich die Kante geben, aber sie haben kein Geld. Also, wohin gehen arme Forschungsstudenten, wenn sie sich kostenlos volllaufen lassen wollen?«

»Wohin denn?«

»Ins Labor natürlich.« Er schloss die Tür auf und schaltete die Neonlampen an der Decke des langen Laborschlauchs an. In deren Licht zeigten sich Arbeitstische voller exotischer Pflanzen und eingetopfte Orchideen, die ständig von einer Befeuchtungsanlage besprüht wurden. In der Ecke standen zahlreiche Regale voller Flaschen und Reagenzienbehälter. Er holte einen fast vier Liter fassenden Plastikbehälter heraus, auf dessen Etikett »98 % ETHANOL« stand.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Laboralkohol«, antwortete er.

»Ist das deine Idee?«

»Ja«, bestätigte er. »Wenn man Wodka oder Tequila im Laden kauft, bekommt man Getränke mit einem Alkoholgehalt von fünfunddreißig, vierzig oder fünfundvierzig Prozent. Dieses Zeug hier hat achtundneunzig Prozent, fast reiner Alkohol.«

»Und?«

Vin holte Plastikbecher aus dem Schrank und drückte sie ihr in die Hand. »Alkohol verursacht Autounfälle. Vor allem bei jungen Leuten.«

Sie stöhnte. »Uhh, Vin …«

Er schaute sie prüfend an. »Okay, nennen wir das Kind beim Namen«, sagte er. »Du hast nicht die Nerven dafür.«

»Also, nein …«

»Mir geht’s genauso. Und das ist die Wahrheit.«

Sie blinzelte verwirrt. »Wirklich?«

»Wirklich. Das Ganze geht mir gegen den Strich, Alyson. Ich möchte das gar nicht durchziehen. Ich möchte das nicht auf dem Gewissen haben.«

»Und, was machen wir jetzt?«

Mit großem schauspielerischem Geschick setzte er ein Gesicht auf, das seinen Zweifel und seine Unsicherheit ausdrücken sollte. »Ich weiß es nicht«, sagte er und schüttelte traurig den Kopf. »Wir hätten wahrscheinlich gar nicht damit anfangen dürfen, und jetzt … Ich weiß es einfach nicht.« Er hoffte, dass sein unsicherer Gesichtsausdruck überzeugend war. Er wusste, dass er überzeugend wirken konnte. Er machte eine kleine Pause, dann ergriff er die Hand, in der sie immer noch die Papiertüte trug, und hielt sie gegen das Licht. »Sie sind da drin, nicht wahr?«

»Was soll ich jetzt tun?« Ihre Hand zitterte.

»Geh nach draußen und warte dort auf mich«, sagte er. »Ich muss ein paar Minuten nachdenken. Wir müssen eine Lösung für das hier finden, Alyson. Aber auf jeden Fall darf es keine Toten mehr geben.«

Tatsächlich wollte er, dass es Alyson war, die sie töten würde. Selbst wenn sie das gar nicht mitbekam.

Sie nickte schweigend.

»Ich brauche deine Hilfe, Alyson.«

»Ich werde dir helfen, ganz bestimmt.«

»Vielen Dank.« Das kam von Herzen.

Sie ging nach draußen.

Im Gewächshaus holte er eine Schachtel mit Nitrilhandschuhen aus einem Vorratsschrank. Diese widerstandsfähigen Laborhandschuhe waren stärker als die aus Gummi. Er zog zwei von ihnen heraus und stopfte sie in die Hosentasche. Dann eilte er in einen seitlichen Büroraum und schaltete die Überwachungskamera ein, die den Parkplatz überblickte. Es war eine Nachtsichtkamera, die jetzt die Vorgänge draußen in einem eigentümlichen Grün zeigte. Natürlich wurde das Ganze auch aufgezeichnet. Er beobachtete, wie Alyson nach draußen ging und sich in die Nähe der Autos stellte.

Sie begann hin und her zu gehen. Dabei schaute sie immer wieder auf die Tüte.

Er konnte fast sehen, wie sich die Idee in ihrem Kopf entwickelte.

»Los, mach es«, flüsterte Vin.

Die Außenteams hatten in letzter Zeit fürchterliche Probleme gehabt. Allein in der Farnschlucht waren vier Mitarbeiter zu Tode gekommen. Und dabei waren sie schwer bewaffnet gewesen … Und dann gab es da noch das Problem mit dieser unheimlichen Tensor-Krankheit. Diese Kids würden in einer solchen biologischen Hölle keine einzige Stunde überstehen. Danach musste er nur noch Alyson auf seine Seite bekommen – zumindest zeitweise.

Jetzt entfernte sie sich von den Autos.

Ja.

Sie ging auf den Wald zu.

Ja.

Sie ging ein Stück den Pfad in Richtung Farnschlucht hinunter.

Gut. Geh weiter.

Auf dem Bildschirm verschwand ihre Gestalt in der Schwärze der Nacht. Sie betrat jetzt den eigentlichen Regenwald und war bald nicht mehr zu sehen.

Dann drang plötzlich ein kleiner Lichtpunkt wie von einem Glühwürmchen durch die Dunkelheit.

Sie hatte eine Taschenlampe dabei, die sie jetzt angemacht hatte. Jetzt konnte er verfolgen, wie das Licht auf und ab schwankte und dabei immer schwächer wurde. Sie ging im Zickzack einen Serpentinenpfad hinunter.

Je tiefer sie in diese biologische Hölle gelangten, desto besser.

Plötzlich hörte er aus der Dunkelheit des Waldes panische Schreie.

»Mein Gott!«

Er rannte nach draußen.

Obwohl der Mond schien, war es in den Tiefen des Regenwalds dermaßen dunkel, dass er Alyson kaum sehen konnte. Er hastete den Pfad hinunter ihrer Taschenlampe entgegen, wobei er ständig stolperte und ausrutschte. Als er näher kam, hörte er sie immer wieder mit düsterer, trauriger Stimme sagen: »Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht.« Dabei leuchtete sie mit ihrer Lampe in alle Richtungen.

»Alyson.« Er wartete, bis sich seine Augen der Dunkelheit angepasst hatten. »Was weißt du nicht?«

»Ich weiß nicht, was passiert ist.«

Sie war eine dunkle Gestalt, die mit ausgestreckten Armen die Papiertüte vor sich hielt, als sei sie eine Opfergabe für einen düsteren Gott. »Ich weiß nicht, wie sie entkommen sind. Hier, schau selbst.«

Sie leuchtete mit der Taschenlampe auf die Tüte. Er sah einen gezackten Schnitt, der quer über den Boden der Tüte verlief. Es war ein ganz feiner Schnitt.

»Einer von ihnen hatte ein Messer«, sagte er.

»Wahrscheinlich.«

»Und dann sind sie gesprungen oder herausgefallen.«

»Ich nehme an, ja.«

»Und wo?«

»Irgendwo hier. Ich habe es zum ersten Mal hier bemerkt. Ich habe mich seitdem nicht vom Fleck bewegt. Ich wollte sie nicht zertrampeln.«

»Darüber würde ich mir keine Sorgen machen. Sie sind wahrscheinlich bereits tot.« Er nahm ihre Taschenlampe, ging in die Hocke und ließ sie über die Spitzen der Farne streifen. Er suchte nach Störungen im schimmernden Tau, der die Farne überzog. Er konnte nichts dergleichen erkennen.

Sie begann zu weinen.

»Es ist nicht deine Schuld, Alyson.«

»Ich weiß«, schluchzte sie. »Ich wollte sie freilassen.«

»Das habe ich mir gedacht.«

»Tut mir leid, aber ich hätte es wirklich getan.«

Vin legte den Arm um sie. »Du kannst nichts dafür, Alyson. Das ist das Entscheidende.«

»Hast du mit der Taschenlampe irgendeine Spur von ihnen gesehen?«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Das war ein tiefer Fall, und sie haben nicht viel Masse. Sie könnten über eine beträchtliche Distanz davongeweht worden sein.«

»Dann könnten sie vielleicht sogar noch …«

»Ja, vielleicht. Aber es ist zweifelhaft.«

»Wir sollten nach ihnen suchen!«

»Aber in dieser Dunkelheit könnten wir unabsichtlich auf sie treten, Alyson.«

»Aber wir können sie doch nicht einfach so hierlassen.«

»Nun, der Sturz hat sie ziemlich sicher getötet. Also, ich persönlich glaube dir ja auch, dass du die Tüte nicht absichtlich aufgeschnitten und sie dann hier auf den Boden gelassen hast –«

»Was sagst du da –?«

»Aber die Polizei wird dir diese Geschichte wohl nicht so ohne Weiteres glauben. Du könntest bereits mit Erics Tod in Verbindung gebracht werden, und jetzt das – diese jungen Menschen an diesem äußerst gefährlichen Ort auszusetzen – und das auch noch absichtlich. Das ist Mord, Alyson.«

»Aber du würdest ihnen doch die Wahrheit erzählen!«

»Natürlich«, sagte er, »aber warum sollten sie mir die glauben? Tatsächlich bleibt uns hier nur ein Weg, nämlich unseren Plan durchzuziehen. Ihr Verschwinden müssen wir als Unfall erklären. Wenn sie später dann doch noch wunderbarerweise auftauchen sollten – nun ja, Hawaii ist ein magischer Ort, wo immer wieder Wunder geschehen.«

Sie stand eine ganze Zeit in dieser Dunkelheit da, ohne sich zu rühren. »Wir sollen sie einfach so hierlassen?«

»Wir können morgen bei Tageslicht nach ihnen suchen.« Er packte sie an der Schulter und zog sie an sich. Er leuchtete mit der Taschenlampe auf den Boden. »Hier. Lass uns diesem Pfad folgen. Beim Gehen achten wir darauf, wohin wir treten. Morgen kommen wir dann wieder hierher zurück. Aber jetzt müssen wir uns um das Auto kümmern. Okay? Alles zu seiner Zeit, Alyson.«

Immer noch schluchzend, ließ sie sich von ihm zurück zum Parkplatz führen. Vin Drake schaute auf die Uhr. Es war 23:14 Uhr. Immer noch genug Zeit, um den nächsten Teil seines Plans durchzuführen.

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