Kapitel 13 ALAPUNA ROAD

29. OKTOBER, 2:00 UHR

Das helle Mondlicht bot ihnen kaum Deckung. Der dichte Hau-Busch, wie man in Hawaii den Lindenblättrigen Eibisch nannte, der sie bisher auf der Kliffseite begleitet hatte, verschwand zu Beginn der unbefestigten Straße. Ab jetzt waren die beiden Autos deutlich zu sehen, die den schmalen vulkanischen Höhengrat entlangfuhren. Zu ihrer Linken senkte sich das Land langsam zu landwirtschaftlich genutzten Feldern ab. Rechts fielen die Uferfelsen steil zur nördlichen Brandungsküste von Oahu hinunter.

Alyson fuhr mit dem Bentley-Cabriolet voraus. Wann immer sie langsamer fuhr, forderte sie Vin Drake aus dem zweiten Wagen, dem BMW, mit einem Handzeichen auf, ihre Geschwindigkeit zu erhöhen. Bis zu den Resten der weggeschwemmten Brücke war es noch ein ganzes Stück. Endlich konnte er die cremefarbene Betonkonstruktion aus den 1920er-Jahren im Mondlicht erkennen. Es war erstaunlich, dass sie so lange gehalten hatte.

Alyson hielt an und wollte gerade aus dem Wagen steigen. »Nein, nein«, sagte er und winkte sie wieder hinein. »Du musst alles arrangieren.«

»Arrangieren?«

»Ja. Die Studenten sitzen ja alle eng zusammengedrängt im Bentley, erinnerst du dich? Und sie machen beim Fahren einen drauf.«

Er holte aus seinem BMW einen Plastikwäschesack, der bis oben hin mit Kleidungsstücken und anderen Gegenständen gefüllt war, die die Studenten vorher am Nanigen-Empfang oder im Bentley zurückgelassen hatten, als dieser vor dem Firmenhauptquartier geparkt hatte: einige Handys, Shorts, T-Shirts, Badeanzüge, ein Handtuch, einige zusammengerollte Ausgaben von Nature und Science und ein Tabletcomputer. Alyson begann, den Inhalt des Sacks wahllos in ihrem Wagen zu verstreuen.

»Nein, nein, Alyson, bitte«, protestierte er. »Wir müssen erst einmal festlegen, wo jeder von ihnen saß.«

»Ich bin einfach nervös.«

»Das mag ja sein. Trotzdem müssen wir es so machen.«

»Aber es fällt doch sowieso alles durcheinander, wenn du den Bentley nachher in den Abgrund schiebst.«

»Alyson. Trotzdem müssen wir es so machen.«

»Aber die Polizei … die Leichen werden doch fehlen. Sie werden nicht im Wagen sein.«

»Das Wasser ist an dieser Stelle voller Brandungsrückströmungen. Und voller Haie. Die See verschlingt die Toten. Deshalb ziehen wir das Ganze ja auch auf diese Weise durch, Alyson.«

»Okay, okay«, antwortete sie müde. »Wer sitzt hinten?«

»Danny.«

Sie nahm einen Pullover und einen zerlesenen Roman von Joseph Conrad, Spiel des Zufalls, und legte beides auf den Rücksitz. »Bist du sicher, Vin? Das sieht wie eine Inszenierung aus.«

»Ach was, sein Name steht drin.«

»In Ordnung. Wer sitzt neben ihm?«

»Jenny. Er tut ihr leid.«

Sie legte einen erlesenen bedruckten Seidenschal und einen Gürtel aus weißem Pythonleder in den Fond des Wagens.

»Ganz schön teuer. Ist das nicht verboten?«

»Pythonleder? Nur in Kalifornien.«

Es folgten Peter Jansens Brille, die, die er immer wieder verlor, Erika Molls Badeanzug und ein Paar Strandshorts.

Danach kam der Vordersitz an die Reihe, wo Karen King angeblich am Steuer saß. Am Ende goss Vin Drake Laboralkohol über den Rücksitz, zerschlug die Flasche und warf die Scherben unter das Armaturenbrett.

»Ich möchte es auch nicht übertreiben.« Er schaute zu den Federwölkchen hinauf, die auf dem dunkelblau getönten Nachthimmel kaum zu sehen waren, und dann zur tief unter ihnen rauschenden weißen Brandung hinunter. »Eine wunderschöne Nacht!«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Wir leben wirklich in einer wunderschönen Welt.« Er ging zur linken Seite des Wagens hinüber und musterte sie aus der Entfernung. Danach schaute er sich die gesamte Umgebung an. »Direkt vor uns gibt’s ein kleines Gefälle, das bis zur Einfahrt des Brückenstumpfs reicht«, sagte er. »Am besten setzt du den Wagen bis dorthin vor. Dann steigst du aus, und wir schieben den Rest.«

»Hey.« Alyson hob abwehrend die Hände. »Ich, ich will mich da nicht mehr reinsetzen, Vin.«

»Sei nicht albern. Wir reden hier über eine Fahrt von ganzen drei Metern. Nur drei Meter.«

»Aber was ist, wenn etwas –«

»Nichts wird passieren.«

»Warum fährst nicht du bis zu dem Gefälle, Vin?«

»Alyson.« Er schaute sie scharf an. »Ich bin viel größer als du. Ich müsste also den Sitz nach hinten verstellen. Das würde bei einer polizeilichen Ermittlung verdächtig aussehen.«

»Aber –«

»Wir hatten das doch vorhin so abgemacht.« Er öffnete ihr die Tür. »Und jetzt steig ein.«

Sie zögerte.

»Wir haben das doch alles besprochen, Alyson.«

Sie setzte sich hinter das Lenkrad. Dabei zitterte sie trotz der milden Nacht wie Espenlaub.

»Und jetzt schließe das Verdeck«, sagte er.

»Das Verdeck? Warum denn das?«

»Damit nachher nichts aus dem Wagen fällt.«

Sie ließ den Motor an. Dann drückte sie auf einen Knopf, und das Verdeck des Bentleys faltete sich auf. Vin stand etwas abseits und gab ihr ein Handzeichen, sie solle noch ein Stück vorfahren. Der Wagen kippte leicht nach vorne, rutschte ein paar Meter, sie schrie auf und trat abrupt auf die Bremse.

»Okay, perfekt«, sagte Vin und holte die Handschuhe aus der Tasche. »Bleib genau da stehen, mit dem Getriebe in Parkstellung und mit laufendem Motor.«

Er ging zum Fahrzeug hinüber, während sie gerade aussteigen wollte. In einer blitzschnellen Bewegung knallte er die Autotür zu, verriegelte sie, griff durch das geöffnete Fenster ins Wageninnere und packte Alyson mit beiden Händen an den Haaren. Er schlug ihren Kopf gegen die metallene Einfassung der Windschutzscheibe, dort, wo die Polsterung fehlte. Sie begann zu schreien, aber er hämmerte ihren Kopf immer wieder gegen das Metall. Schließlich schlug er ihre Stirn noch einige Male gegen das Lenkrad, um ganz sicherzugehen. Sie war zwar immer noch bei Bewusstsein, aber das würde bald keine Rolle mehr spielen. Er griff hinter ihrem Rücken vorbei und stellte den Schalthebel auf Drive. Das Ganze war nicht so einfach. Er fiel nach hinten, als der Bentley auf die zerstörte Brücke rollte, aus der Spur kam und zweihundert Meter tief genau dort in das Flusstal fiel, wo es in den Ozean mündete.

Drake rappelte sich wieder hoch. Es war bereits zu spät, um den Aufprall zu beobachten. Er konnte ihn jedoch hören, als das Metall auf die Uferfelsen traf. Das Cabrio hatte sich während des Sturzes umgedreht und lag jetzt mit dem Unterboden nach oben. Er schaute eine ganze Weile hinunter, ob irgendeine Bewegung zu erkennen war. Nur ein Rad drehte sich noch ohne Sinn und Zweck, sonst war alles still und ruhig. »Vertrauen ist alles, Alyson«, sagte er leise und kehrte sich ab.

Er hatte seinen eigenen Wagen in hundert Metern Entfernung abgestellt. Der Feldweg war steinhart und trocken, sodass er keine Reifenspuren hinterlassen würde. Er setzte sich in seinen BMW und fuhr langsam rückwärts den schmalen Weg zurück – jetzt nur keine Fehler! –, bis er eine Stelle fand, wo er mit dem Wagen umdrehen konnte. Danach fuhr er wieder Richtung Süden nach Honolulu hinunter. Normalerweise würde die Polizei den abgestürzten Wagen erst nach einigen Tagen entdecken. Er sollte deshalb wohl die ganze Sache etwas beschleunigen. Er würde also am nächsten Morgen melden, dass seine Forschungsstudenten vermisst würden und er sich Sorgen um sie machte. Die liebliche Ms. Alyson Bender habe sie in die Stadt mitgenommen, damit sie sich dort einen schönen Abend machten.

Vin Drake befürchtete nicht, dass die ganze Sache selbst in Cambridge und Boston allzu große Wellen schlagen würde. Hawaii war in dieser Beziehung sehr hilfreich. Es lebte von seinen Touristen und hängte deshalb traditionell nur ungern an die große Glocke, wie viele Besucher durch Monsterwellen, die starke Brandung, abbröckelnde Wanderwege oder die anderen Attraktionen seiner wunderbaren Natur zu Tode kamen. Man würde sich ein paar Tage mit dieser Angelegenheit beschäftigen, vor allem da einige dieser Kids ja recht attraktiv waren. Danach würde man jedoch bald zu saftigeren Geschichten übergehen: die österreichische Großherzogin, die beim Heli-skiing am Mount Rainier tödlich verunglückt war, die Taucher, die vor Tasmanien auf Nimmerwiedersehen verschwanden, der texanische Millionär, der im Khumbu-Basislager an der Höhenkrankheit starb, verrückte Unfälle in den Cinque Terre oder der Tourist, der von einem riesigen Komodowaran aufgefressen wurde.

Es gab immer Nachrichten, die noch saftiger waren. Das Ganze würde also schnell in Vergessenheit geraten.

Natürlich würde es einige Schwierigkeiten innerhalb der Firma selbst geben. Eigentlich hätte dieser Besuch die Zahl der Nanigen-Mitarbeiter um einiges erhöhen sollen. Das wäre vor allem wegen der kürzlich erfolgten Personalverluste dringend nötig gewesen. Es hätte also seiner Firma einen bedeutenden Auftrieb gegeben. Er musste sich jetzt überlegen, wie er die ganze Angelegenheit mit der nötigen Finesse zu Ende brachte, ohne dass die Firma Schaden nahm.

Der Sportwagen holperte und rutschte über den Feldweg. Er musste das Lenkrad festhalten, damit es nicht verriss. Er fuhr nach Süden zum Kaena Point (»wo die Seele den Planeten verlässt«). An dieser Stelle wütete die Brandung auf beiden Seiten der Fahrbahn. Er machte sich im Geiste die Notiz, unbedingt das Salzwasser von seinem Auto und seinen Reifen zu waschen. Er würde am besten zur Autowaschanlage drüben in Pearl City fahren.

Er schaute auf die Uhr. Es war 3:30 Uhr.

Seltsamerweise hatte er es weder eilig, noch war er nervös. Es war genug Zeit, um auf die andere Inselseite nach Waikiki und zum Diamond Head zu fahren. Er hatte auch genug Zeit, um die Hotelzimmer der Studenten nach irgendwelchen Artefakten oder wissenschaftlichen Proben abzusuchen, die sie eventuell mitgebracht hatten.

Danach blieb immer noch eine Menge Zeit, um zu seinem eigenen Luxusapartment auf der Kahala-Seite zurückzukehren und dort ins Bett zu schlüpfen. Wenn er dann aufwachte, würde er schockiert von dem absurden Verhalten seiner Finanzchefin erfahren und die talentierten Studenten betrauern, die sie auf solche Abwege geführt hatte.

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