Kapitel 25 FARNSCHLUCHT

30. OKTOBER, 8:30 UHR

Als der Morgen anbrach, rührten sich die sechs Überlebenden in ihrer Moostasche am Stamm eines Baums irgendwo am Fuß eines von Regenwald bedeckten Berghangs im Ko’olau Pali. Die Vögel sangen langsam und tief. Sie klangen wie Wale, die einander draußen in der Tiefsee rufen.

Peter Jansen streckte den Kopf aus ihrem Moosversteck im Ohia-Baum und schaute sich um. Unten auf dem Boden sah er die Überreste ihres Forts, das vom Hundertfüßer demoliert worden war. Der tote Skolopender selbst lag ganz in der Nähe. Ameisen waren dabei, ihn zu zerfleischen, und hatten bereits große Teile seines Kadavers weggeschleppt. Sie waren tatsächlich in einer Art von Tiefsee, überlegte sich Peter. Ein Dschungelmeer, das mindestens so tief war wie der Ozean.

Er legte den Kopf in den Nacken, um am Baumstamm emporzuschauen. Der Baum war noch jung und klein. In seiner Krone erstrahlten rote Blüten, als ob der Baum selbst in Flammen stünde. »Ich glaube, wir sollten versuchen, bis ganz nach oben zu klettern«, sagte Peter.

»Warum?«, fragte Rick.

Peter schaute auf die Uhr. »Ich möchte einen Blick auf den Parkplatz werfen. Um sicherzugehen, dass wir in die richtige Richtung unterwegs sind. Und um die Lage auf dem Parkplatz zu beobachten.«

»Das klingt vernünftig«, sagte Rick.

Peter und Rick zogen ihre Köpfe wieder ein. Die anderen kuschelten sich immer noch ins Moos. Mitten zwischen ihnen lag, eingewickelt in die silberne Rettungsdecke, Amar, der schließlich doch noch eingeschlafen war. An einer Seite seines Kopfes hatte sich ein Bluterguss gebildet, der sich über die ganze linke Schläfe erstreckte. Vielleicht war es wirklich nur eine Prellung, vielleicht jedoch das erste Anzeichen der Tensor-Krankheit. Auf jeden Fall entschieden sie, dass Rick bei Amar bleiben und sich um ihn kümmern würde, während die anderen versuchen wollten, den Baum zu erklimmen. Insgesamt verfügten sie über vier Funkheadsets. Eines behielt Rick, die Kletterer würden die anderen drei mitnehmen. »Wir sollten aber Funkstille halten, außer im Notfall«, meinte Peter.

»Glaubst du, jemand von Nanigen könnte uns hören?«, fragte Karen.

»Die Reichweite dieser Funkgeräte beträgt nur dreißig Meter. Aber wenn Drake vermutet, dass wir noch am Leben sind, könnte er uns abhören lassen. Und er ist zu allem fähig«, antwortete Peter.

Sie begannen, den Baum hinaufzuklettern. Peter ging voraus. Er legte den Gurt mit der Angelschnur an, die sie als Sicherungsseil benutzen konnten, und hängte sich die Strickleiter aus dem Rucksack über die Schulter.

Karen King hatte Rick Hutters Blasrohr und Pfeilkasten und die Laborflasche mit dem Curare dabei. Karen war zur Jägerin dieser Expedition bestimmt worden.

Das Baumklettern erwies sich als ausgesprochen leicht. Moose, Flechten und die raue Baumrinde boten genug Halt für Hände und Füße. In dieser Mikrowelt waren sie stark genug, ihren ganzen Körper an eine einzige Hand, ja sogar nur an ein paar Finger zu hängen. Und es war auch nicht weiter schlimm, wenn man herunterfiel. Das Fallen stellte keine wirkliche Gefahr dar. Man landete einfach unbeschadet auf dem Boden.

Sie wechselten sich in der Führung ab. Der Vorauskletterer wurde durch das Seil an dem Gurt weiter unten gesichert, während er ein Stück den Stamm emporkletterte, die Strickleiter um die Schulter. Diese befestigte er dann am Baum und ließ sie herunter, sodass die anderen an ihr nachklettern konnten.

Die zerfurchte Baumrinde war dicht mit Moosen und Lebermoosen bepackt, winzigen Pflanzen, von denen einige beinahe mikroskopisch klein waren. Den Mikromenschen erschienen sie als richtiges Gebüsch. Außerdem war der Baum von vielen Flechtenarten überkrustet, von denen manche gekräuselt, andere dagegen spitzenartig oder knotig waren. Die Blätter des Baumes waren gerundet und ledrig und die Äste schlangenförmig. Sie schafften einen Großteil des Baumes in weniger als einer Stunde.

Schließlich gab Danny Minot auf. »Das schaffe ich nicht«, sagte er und setzte sich in ein Flechtenpolster, das an einer warmen, sonnigen Stelle wuchs.

»Möchtest du hierbleiben, während wir anderen weiterklettern?«, fragte Peter.

»Eigentlich würde ich jetzt am liebsten im Algiers Coffeehouse am Harvard Square einen Espresso trinken und Wittgenstein lesen.« Danny grinste schwach.

Peter reichte ihm ein Headset. »Melde dich im Notfall.«

»Okay.«

Peter legte Danny die Hand auf die Schulter. »Alles wird gut.«

»Offensichtlich nicht.« Danny zog sich in sein Flechtenlager zurück.

»Wir können nicht einfach so aufgeben, Danny.«

Danny machte ein finsteres Gesicht, legte sich auf seine Flechten und setzte das Headset auf. »Test, Test«, sprach er in das Sendemikrofon. Seine Stimme krächzte ihnen überlaut in den Ohren.

»Hey – Funkstille«, warnte ihn Peter.

»Vin Drake! Hilfe! SOS! Wir stecken in einem Baum fest!«, schrie Danny in sein Mikrofon.

»Hör auf damit!«

»War doch nur Spaß!«

»Habe einen Funkspruch aufgefangen.« Johnstone hatte Kopfhörer auf und beugte sich über das Funkortungsgerät im Cockpit ihres Hexapods. Er lachte. »Diese Idioten. Sie rufen Drake um Hilfe.« Seine Augen wanderten nach oben und suchten das gesamte Blätterdach ab. »Sie stecken irgendwo über uns in einem Baum.«

Telius grunzte. Um seinen Hals hing ein Feldstecher. Telius stand auf und suchte damit die Baumkronen in der Umgebung nach irgendwelchen Bewegungen ab. Er lauschte auf jedes Geräusch. Die Spione waren irgendwo da oben. Sie würden nicht leicht aufzuspüren sein.

Er konnte nichts erkennen. Dann deutete er schweigend mit dem Finger in eine bestimmte Richtung.

Johnstone steuerte den Hexapod per Joystick schnell und glatt über den Waldboden. Der Laufroboter bewegte sich fast lautlos vorwärts. Nur die Motoren an den Beinen gaben ein helles Surren von sich.

Als sie an einem Baum, einer Pandane, ankamen, deutete Telius nach oben. »Da rauf«, sagte er kurz und knapp.

Johnstone betätigte einige Schalter. Die Klauen an den Füßen des Roboters zogen sich in die Beinummantelungen zurück. Am Ende jedes Beins kamen polsterartige Gebilde zum Vorschein, die mit extrem feinen Borsten bestückt waren. Nanohärchen, die den Spatula-Härchen an den Füßen eines Geckos ähnelten und an jeder Oberfläche, sogar Glas, fest anhafteten. Der Hexapod begann jetzt mit deren Hilfe den Baumstamm hinaufzusteigen. Die beiden im Cockpit festgeschnallten Männer schienen kaum zu bemerken, dass der Laufroboter jetzt senkrecht nach oben marschierte. Bei ihrer Größe konnten sie die Schwerkraft sowieso kaum spüren.

Die Kletterer erreichten die obersten Äste des Ohia-Baums. Auf der letzten Strecke ging Karen King voraus. Sie kroch und balancierte einen Ast entlang, bis sie zu einem im hellen Sonnenlicht stehenden Blattbüschel gelangte, von dem aus man eine großartige Aussicht hatte. Die anderen folgten ihr und stellten sich alle nebeneinander inmitten dieser Blätter auf einen Ast, der in der Brise ganz leicht hin und her schwang. Die roten Ohia-Blüten bedeckten wie hingesprüht die gesamte Baumkrone. Man fühlte sich an ein Feuerwerk erinnert. Die Blumen waren eine einzige gleißende Explosion von roten Staubgefäßen und dufteten ungeheuer süß.

Zwischen den Blüten öffnete sich ein Blick hinaus ins Manoa-Tal und auf die umliegenden Bergketten. Das Tal wurde von Berghängen umschlossen, die mit üppigem Grün bedeckt waren und von einzelnen Felsabstürzen durchbrochen wurden. Die Bergspitzen und Grate weiter oben waren in Wolken gehüllt. Aus Einschnitten in den bewaldeten Bergketten stürzten Wasserfälle in die Tiefe. Tantalus Peak, der kreisförmige Kraterrand eines erloschenen Vulkans, schaute von Norden her über das Tal. Jenseits des engen Taleingangs erhoben sich im Westen die Hochhäuser von Honolulu und zeigten, wie gering die Entfernung zwischen der Stadt und dem Tal tatsächlich war. Trotzdem hätte das jenseits von Pearl Harbor liegende Nanigen-Hauptquartier für sie auch eine Million Kilometer entfernt sein können.

Im Südosten sahen sie das Gewächshaus und den Parkplatz, eine unbefestigte Fläche, die mit Regenpfützen übersät war. Der Parkplatz schien leer und verlassen. Kein Anzeichen von irgendwelchen Menschen oder Fahrzeugen. Am engen Taleingang war der Tunnel deutlich sichtbar. Sie konnten auch das Sicherheitstor erkennen. Es war verschlossen.

Peter führte eine Kompasspeilung zum Parkplatz durch. »Der Parkplatz liegt in einer Peilrichtung von hundertsiebzig Grad Südsüdost«, teilte er den anderen mit. Dann schaute er auf die Uhr. Es war kurz nach elf Uhr morgens. Fast drei Stunden, bevor der Shuttle-Lkw eintreffen würde. Wenn er denn überhaupt kam. Im Moment war im ganzen Tal kein Mensch zu sehen.

Über ihren Köpfen donnerte etwas über die Baumkrone. Sie duckten sich instinktiv und klammerten sich an die Blätter. Peter warf sich sogar der Länge nach zu Boden. »Achtung!«, schrie er, und dann sauste ein – Schmetterling vorbei. Seine orange-gold-schwarz gemusterten Flügel verursachten diesen dröhnenden Lärm, während er unschuldig durch das Sonnenlicht tanzte. Das Insekt schien zu spielen. Schließlich landete es mit donnernden Flügeln auf einer Ohia-Blüte, in der Nektartröpfchen in der Sonne glänzten. Der Schmetterling rollte seinen Saugrüssel aus und senkte ihn tief in die Blüte hinein, bis seine Spitze ein Tröpfchen berührte. Sie hörten saugende, schmatzende Geräusche, als er ungeheure Mengen an Nektar in seinen Magen pumpte.

Peter hob langsam den Kopf.

Karen lachte. »Du solltest dich mal sehen, Peter. In Panik versetzt von einem Schmetterling!«

»Na ja, er ist ziemlich – eindrucksvoll«, sagte Peter verlegen.

Erika erzählte ihnen, dass es sich um einen Kamehameha-Schmetterling handelte, der größten Schmetterlingsart in Hawaii. Er sammelte jetzt aus anderen Blüten Nektar ein, während der Wind ihnen einen bitteren Gestank in die Nase trieb. Der Schmetterling war vielleicht schön anzuschauen, aber er stank entsetzlich.

»Das ist ein chemisches Verteidigungsmittel«, sagte Erika Moll. »Phenole, glaube ich. Die chemischen Verbindungen sind so bitter, dass ein Vogel davon brechen müsste.«

Der Schmetterling ignorierte die Menschen. Er stieg von einer Blüte auf und ließ sich vom Wind in den blauen Ozean der Lüfte davontragen.

Er hatte den Menschen jedoch eine Lektion erteilt. Die Blüten strotzten nur so von flüssigem Zucker. Genau das, was sie brauchten. Karen King kroch mit dem Kopf voraus in eine Blüte hinein. Sie schöpfte sich einen Nektartropfen mit beiden Händen in den Mund. »Hey, Leute, das müsst ihr probieren!«, drang ihre verklebt dumpfe Stimme aus der Blüte heraus. Sie konnte direkt spüren, wie ihr Körper mit jedem Schluck Nektar neue Energie tankte.

Jetzt krochen auch die anderen in die Blüten und tranken so viel Nektar wie möglich.

Während sie sich noch den Nektar einverleibten, erregte eine Bewegung am Horizont Peters Aufmerksamkeit. »Da kommt jemand«, rief er.

Sie hörten zu trinken auf und beobachteten, wie in der Ferne ein Fahrzeug die aus Honolulu kommende Serpentinenstraße hochfuhr. Ein schwarzer Pick-up. Er brauste den letzten Aufstieg zum Taleingang hinauf und hielt am Tor vor dem Tunnel an. Jetzt stieg der Fahrer aus. Peter beobachtete die Szene mit dem Fernglas. Er sah, wie der Mann ein gelbes Schild von der Ladefläche seines Pick-ups holte und am Sicherheitstor anbrachte.

»Er hat ein Schild aufgehängt«, sagte Peter.

»Was steht drauf?«, fragte Karen.

Peter schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht erkennen.«

»Ist das der Shuttle-Lkw?«

»Warte einen Moment.«

Der Mann fuhr den Pick-up durch das Tor, das sich danach hinter ihm schloss. Augenblicke später kam er aus dem Tunnel heraus, fuhr ins Tal hinunter und hielt auf dem Parkplatz an. Nach ein paar Sekunden stieg der Mann aus.

Peter schaute immer noch durch sein Fernglas. »Ich glaube, das ist derselbe Mann, der die Versorgungsstationen ausgegraben hat. Ein muskulöser Kerl im Alohahemd. Auf dem Pick-up steht NANIGEN SECURITY.«

»Das klingt nicht nach Shuttle-Lkw«, sagte Karen.

»Nein.«

Jetzt ging der Mann auf dem Parkplatz herum, schaute immer wieder auf den Boden und tippte manchmal etwas mit seiner Schuhspitze an. Dann kniete er sich hin und fuhr mit der Hand unter einer Gruppe weißer Ingwerpflanzen hin und her.

»Er sucht den Boden am Rand des Parkplatzes ab«, sagte Peter.

»Nach uns?«, fragte Karen.

»Sieht so aus.«

»Das ist aber gar nicht gut.«

»Jetzt spricht er in sein Handfunkgerät. Oh-oh.«

»Was ist?«

»Er schaut genau in unsere Richtung.«

»Ach was, er kann uns doch gar nicht sehen«, spöttelte Karen.

»Er deutet aber auf uns. Und er spricht mit jemand über sein Funkgerät. Sieht so aus, als wüsste er, wo wir sind.«

»Das ist unmöglich«, sagte Karen.

Jetzt ging der Mann wieder zu seinem Pick-up hinüber und holte ein großes Sprühgerät von der Ladefläche, das er sich auf den Rücken schnallte. Er ging den äußeren Rand des Parkplatzes entlang und besprühte die Vegetation. Am Schluss besprühte er auch noch die Oberfläche des Parkplatzes selbst.

»Was soll das denn?«, wunderte sich Erika.

»Ich wette, das ist Gift«, antwortete Karen. »Sie wissen, dass wir noch leben. Sie haben sich ausgerechnet, dass wir versuchen werden, auf den Shuttle-Lkw zu kommen, deshalb vergiften sie jetzt den ganzen Parkplatz. Und ich wette, dass kein Lkw mehr hier vorbeikommen wird. Sie versuchen, uns im Tal einzuschließen. Weil sie glauben, dass wir hier nicht überleben können.«

»Beweisen wir ihnen das Gegenteil«, sagte Peter.

Karen blieb skeptisch. »Und wie?«

»Wir ändern unseren Plan.«

»Und wie?«, blieb Karen beharrlich.

»Wir werden zum Tantalus gehen«, antwortete Peter.

»Tantalus? Das ist absolut verrückt, Peter.«

»Da oben ist eine Nanigen-Basis«, erklärte Peter. »Vielleicht sind noch Leute in dieser Basis. Sie würden uns vielleicht helfen, man kann ja nie wissen. Und Jarel Kinsky hat uns von diesen Fluggeräten im Tantalus erzählt. Er nannte sie Mikroflugzeuge.«

»Mikroflugzeuge?«, sagte Karen.

»Nun ja, ich habe schon ein sehr kleines Nanigen-Flugzeug gesehen. Und ihr habt das auch – erinnert ihr euch? Ich habe es im Auto meines Bruders gefunden. Es hatte Instrumente und ein Cockpit. Vielleicht könnten wir uns so ein Mikroflugzeug stehlen und wegfliegen.«

Karen starrte Peter an. »Das ist komplett, absolut, total verrückt. Du weißt doch gar nichts über diese Tantalus-Basis.«

»Also, wenigstens werden sie uns da nicht erwarten, das Überraschungsmoment wäre auf unserer Seite.«

»Aber schau dir doch diesen Berg an«, gab Karen zu bedenken und machte eine ausladende Handbewegung in dessen Richtung. Tatsächlich dominierte der Tantalus Peak, wenn man nach Norden blickte, das ganze Tal. Es war ein beeindruckender Klotz von einem Vulkankegel, dessen fast senkrechte Abhänge von dichtem Dschungel bedeckt waren. »Der ist sechshundert Meter hoch, Peter!« Sie machte eine Pause und dachte einen Moment nach. »Für uns ist das, als ob wir sieben Mount Everests besteigen würden.«

»Allerdings wird uns die Schwerkraft nicht behindern«, antwortete Peter mit ruhiger Stimme. Er schaute mit seinem Fernglas zum Tantalus hinüber. Er fand einen massiven Felsbrocken, der in offenem Gelände am Rand des Kraters lag. »Das könnte der Große Felsen sein. Laut Karte liegt die Tantalus-Basis direkt darunter.« Die Basis konnte er allerdings nicht erkennen. Sie war wohl auch nur ein bis zwei Meter im Durchmesser und deshalb aus dieser Entfernung nicht zu sehen. Er holte seinen Kompass heraus und peilte den Felsbrocken an. »Er liegt von hier aus in einer Peilrichtung von dreihundertdreißig Grad. Wir müssen also nur der Kompasslinie folgen –«

»Das wird Wochen dauern«, sagte Karen. »Wir haben allerhöchstens noch ein paar Tage, bis uns die Tensor-Krankheit erwischt.«

»Soldaten können am Tag fast fünfzig Kilometer zurücklegen«, wandte Peter ein.

»Peter, wir sind keine Soldaten«, stöhnte Erika.

»Wir könnten es zumindest versuchen«, sagte Karen. »Aber was ist mit Amar? Er kann doch nicht gehen.«

»Wir werden ihn tragen«, sagte Peter.

»Und was machen wir mit Danny? Manchmal kann er einem wirklich auf den Wecker gehen«, meinte Karen.

»Danny ist einer von uns. Wir werden gut auf ihn achtgeben«, sagte Peter mit Nachdruck.

Genau in diesem Moment piepste Peters Funkgerät. Nach einem kurzen Knistern war eine panische Stimme zu hören. Es war Danny.

»Wenn man vom Teufel spricht«, murmelte Karen.

Peter setzte das Headset auf und hörte, wie Danny schrie: »Hilfe! Oh Gott! Helft mir!«

Weiter unten am Baum war Danny Minot an seinem warmen Plätzchen eingeschlafen. Sein Mund stand offen, und er schnarchte. Er war nach der längsten und schrecklichsten Nacht seines Lebens völlig erschöpft. So hörte er auch nicht das ratternde Geräusch, das sich ihm näherte und über ihm schwebte. Während sie so auf der Stelle flog, betrachteten ihn ihre ausdruckslosen Augen. Sie war eine Wespe.

Sie landete und rückte ganz langsam vor. Ganz leicht berührte sie mit ihrem Fühler seinen Arm, dann klopfte sie mit dem Fühler vorsichtig über seinen Hals und seine Wangen und prüfte den Geschmack seiner Haut. Seine bleiche, weiße Haut erinnerte sie an eine Raupe. Ein Wirt! Vom Ende ihres Hinterleibs hing eine längliche Röhre wie ein Stück Gartenschlauch herab. Dieser Schlauch, tatsächlich war es ein Legebohrer, besaß an seinem Ende eine Bohrerspitze.

Die Wespe nahm Danny ganz sanft in ihre Vorderbeine und setzte ihre Bohrerspitze an seiner Schulter an. Dann stach sie den Legebohrer in sein Fleisch und gab ein Anästhetikum ab, ein Betäubungsmittel. Danach trieb die Wespe ihren Bohrer tief in Dannys Schulter hinein.

Sie begann zu keuchen und erzeugte Laute, die auf unheimliche Weise an eine Frau in den Wehen erinnerten.

Danny träumte. Der Traum wandelte sich plötzlich. Er hielt ein wunderschönes Mädchen in den Armen. Sie war nackt und stöhnte vor Lust. Sie küssten sich. Er fühlte, wie ihre Zunge tief in seine Kehle drang … er schaute zu ihr hoch – und sah Facettenaugen, die sich aus einem Frauengesicht herauswölbten … sie umschlang ihn und wollte einfach nicht mehr loslassen … er schreckte aus dem Schlaf auf …

»Jach!«

Er schaute in die Augen einer riesigen Wespe. Die Wespe hielt ihn fest, hatte ihn mit ihren Beinen gepackt und ihren Stachel in seine Schulter versenkt. Er spürte jedoch überhaupt nichts. Sein Arm war völlig taub.

»Nein!«, schrie er, packte den Stachel mit beiden Händen und versuchte, ihn herauszuziehen. Aber dann zog die Wespe ihren Stachel selbst heraus, ließ Danny los und flog davon.

Er rollte sich auf den Rücken und griff sich an den Arm. »Aah! Au! Hilfe!« Der Arm war zu einem Nichts geworden, das von seiner Schulter herabhing, eine Totlast ohne jedes Gefühl, als ob man ihn mit Novocain vollgepumpt hätte. Er bemerkte in seinem Hemd ein kleines Loch, aus dem eine dunkle Flüssigkeit austrat und sich über den ganzen Hemdstoff verbreitete – Blut! Er riss sein Hemd auf und betrachtete das Loch in seiner Schulter. Es war so akkurat und rund wie ein Bohrloch, und Blut strömte heraus. Dabei verspürte er keinerlei Schmerz.

Er griff nach dem Headset und schrie: »Hilfe! Oh Gott! Helft mir!«

»Danny?«, meldete sich Peter.

»Etwas hat mich gestochen … Oh mein Gott!«

»Was hat dich gestochen?«

»Ich kann ihn nicht spüren. Er ist tot.«

»Wer ist tot?«

»Mein Arm. Sie war so groß …« Seine Stimme ging in ein panisches Wimmern über.

Jetzt war Rick Hutters Stimme zu hören. »Was ist los?« Er funkte aus der Mooshöhle weiter unten am Baum, wo er mit Amar Singh zurückgeblieben war.

»Danny ist gestochen worden«, berichtete Peter. »Danny – bleib, wo du bist. Ich komme zu dir runter.«

»Ich habe sie vertrieben.«

»Gut.«

Danny beugte sich vornüber, weil er nicht mehr auf seine Schulter schauen wollte. Das Blut sickerte immer noch in sein Hemd. Er griff sich an die Stirn. Hatte er Fieber? Stand er kurz vor dem Delirium? Er begann vor sich hin zu murmeln: »Kein Gift … Mir geht’s gut … Kein Gift. Kein Gift, kein Gift …«

Peter griff sich den Verbandskasten. Der Abstieg war leicht und schnell. Er kletterte Hand über Hand nach unten. Als er ankam, hatte sich Danny in die Embryonalstellung eingerollt. Aus seinem Gesicht war jede Farbe gewichen. Sein linker Arm war völlig schlaff.

»Ich kann meinen Arm nicht spüren«, wimmerte er.

Peter öffnete ihm das Hemd und inspizierte die Wunde an seiner Schulter. Es war eine kleine, runde Einstichwunde. Er säuberte sie mit einem Jodtupfer. Eigentlich hätte er erwartet, dass Danny dabei ein Brennen spüren würde, aber der fühlte überhaupt nichts.

Peter suchte nach Anzeichen für eine Vergiftung. Er schaute Danny in die Augen, um nachzusehen, ob dessen Pupillen übermäßig verengt oder erweitert waren. Sie schienen aber völlig normal. Er fühlte Danny den Puls, beobachtete seine Atmung und achtete auf Änderungen der Hautfärbung oder seiner geistigen Verfassung. Danny schien nur völlig verängstigt. Dann untersuchte Peter Dannys Arm. Die Haut hatte ihre normale Farbe, aber der Arm war völlig gefühllos. Er kniff hinein. »Hast du das gespürt?«

Danny schüttelte den Kopf.

»Schwindelgefühle? Schmerzen?«, fragte Peter.

»Kein Gift … Kein Gift …«

»Ich glaube nicht, dass du vergiftet worden bist.« Wenn in dem Stachel Gift gewesen wäre, hätte er jetzt schwere Schmerzen, ihm wäre fürchterlich übel, oder er wäre jetzt schon tot. Aber alle seine Lebenszeichen waren stabil. »Ich glaube, du hast es vertrieben. Was war es eigentlich?«

»Eine Biene oder Wespe«, murmelte Danny. »Ich weiß es nicht.«

Wespen waren weit häufiger als Bienen. In Hawaii gab es wahrscheinlich Tausende unterschiedliche Wespenarten, von denen viele noch nicht identifiziert und benannt waren. Man konnte also nicht sagen, welche Wespenart Danny gestochen hatte – wenn es denn überhaupt eine Wespe gewesen war. Peter klebte ein Heftpflaster auf den Insektenstich. Dann riss er den Ärmel seines eigenen Hemdes ab und fertigte daraus eine provisorische Schlinge für Dannys Arm. Er fragte sich, wie man Danny zurück zum Boden bringen konnte. »Glaubst du, du kannst springen?«

»Nein. Vielleicht.«

»Es kann nichts passieren.« Dann funkte Peter Karen King und Erika Moll an, die immer noch in der Baumkrone warteten. »Danny und ich werden runterspringen. Ihr könntet eigentlich dasselbe tun.«

Karen und Erika beugten sich aus einem Blattbüschel heraus. Sie konnten den Boden nicht sehen. Karen schaute Erika an. Die nickte. »Okay, machen wir«, meldete Karen über Funk und stellte sicher, dass sie sich das Blasrohr fest auf den Rücken geschnallt hatte. »Eins, zwei, drei …« Erika sprang als Erste, Karen folgte ein paar Sekunden später.

Als sie in den freien Raum hinunterfiel, spreizte Karen Arme und Beine wie ein Fallschirmspringer. Sie ging in einen Gleitflug über. »Wow!«, schrie sie. Sie konnte sehen, wie Erika unter ihr in die Tiefe fiel. Auch sie schrie vor Begeisterung. Sie segelten durch die Luft und konnten das sogar steuern. Karen bewegte ihre Arme und Beine und legte sich in die Kurve. Sie fühlte, wie die Luft dick und weich unter ihrem Körper hindurchfloss und ihr ganzes Gewicht trug. Es war ein Gefühl wie beim Bodysurfen, nur eben in der Luft und nicht im Wasser. Sie prallte auf einen Ast, überstand den Zusammenstoß völlig unversehrt und purzelte weiter nach unten. Sie streckte wieder die Arme aus und surfte auf dem flüssigen Wind durch die Äste hindurch. Schräg unter ihr sah sie Erika noch schneller in Richtung Boden gleiten.

Karen wollte diesen Flug noch etwas länger genießen. Sie rollte ihren Körper zuerst nach rechts, dann nach links und nutzte ihre Arme und Beine, um den Sturz zu verlangsamen. »Wuuhuu«, jubelte sie. Dann waren da diese Blätter. Sie verlor Erika aus den Augen … sie hörte Erika schreien …

Sie stürzte durch die Blätter … und sah direkt vor sich ein Spinnennetz. Erika hatte sich darin verfangen. Im Versuch, sich zu befreien, federte sie auf und ab und schlug mit Armen und Beinen um sich. Eine blassgrüne Spinne lauerte am Rand des Netzes … eine Krabbenspinne … eine äußerst giftige Spinne …

Karen versuchte, sich blitzschnell an alles zu erinnern, was sie über diese Spinne wusste. Sie musste sich selbst in dieses Netz fallen lassen. Das war der einzige Weg, um Erika zu retten. Sie steuerte direkt darauf zu. Sie hatte keine Angst. Sie konnte es mit einer Krabbenspinne aufnehmen … Sie prallte ganz außen ins Netz und wurde von einem Geflecht von Fäden aufgefangen.

Für Karen schien das Netz einen Durchmesser von fünfzehn, vielleicht zwanzig Metern zu haben, viel größer als ein Sicherheitsnetz in einem Zirkus. Im Gegensatz zu diesem war das Spinnennetz jedoch klebrig. Seine Radialfäden waren mit zahlreichen Klebetröpfchen versehen. Sie spürte, wie der Klebstoff in ihre Kleidung einsickerte und sie an das Netz kettete, während sich Erika immer noch in blinder Panik zu befreien versuchte und um Hilfe schrie. Sie hatte sich in Fäden verfangen, die außerhalb Karens Reichweite waren. Die Krabbenspinne zögerte noch. Möglicherweise erkannte sie die Menschen nicht als Beute, dachte Karen. Aber sie würde sicherlich angreifen, und zwar bald. Der Angriff würde blitzartig erfolgen. »Halt still!«, rief sie Erika zu. Sie rollte sich herum, bis sie die Spinne direkt vor sich hatte. Sie zog ihre Machete. »Heee!«, schrie sie die Spinne an. Vielleicht würde sie das beeindrucken. Gleichzeitig ließ sie den Blick in Höchstgeschwindigkeit über das Netz gleiten. Sie suchte den Signalfaden, und dann sah sie ihn – ein Faden, der von einem der Spinnenbeine über die Spiralfäden hinweg bis zum Zentrum des Netzes verlief. Karen schwang sich ein Stück über das Netz und schnitt den Signalfaden durch.

Die Spinne spürte mit diesem Faden, ob sich irgendwelche Beutetiere im Netz verfangen hatten. Wenn man ihn kappte, war das, als ob man einen Nerv durchschneiden würde. Außerdem war es für die Spinne ein Alarmsignal.

Tatsächlich floh sie sofort. Sie lief davon und versteckte sich in einem zusammengerollten Blatt, ihrem eigentlichen Heim.

»Die meisten sind leicht zu erschrecken«, erklärte Karen Erika. Sie schnitt noch einen Faden durch, und die beiden Frauen fielen ins Freie, während Karen der Spinne nachrief: »Tut mir leid, Schatz!«

Sie landeten inmitten eines ganzen Gewirrs klebriger Seide auf dem Boden. Erika steckte der Schreck noch in den Knochen. »Ich dachte, ich würde sterben.«

Karen pickte ein paar Seidenfäden von ihr ab. »Das Ganze ist nicht weiter schlimm, wenn man die Struktur eines solchen Netzes kennt.«

»Aber ich bin mehr der Käfertyp«, antwortete Erika.

Peter und Danny landeten ganz in der Nähe auf ein paar Blättern. Schließlich erschien Rick, der Amar mithilfe des Seils auf den Boden heruntergelassen hatte. Sie versammelten sich am Fuß des Ohia-Baums, und Peter erklärte ihnen den neuen Plan. Sie würden sich zum Tantalus durchschlagen.

Sie brachen auf. Rick und Peter trugen Amar zwischen sich. Zehn Minuten später betraten sie einen Farnwald, ein scheinbar endloses Labyrinth von hohen Schwertfarnen, von denen die Feuchtigkeit herabtropfte. Die ausladenden Wedel bildeten regelrechte Tunnel, die in alle Richtungen führten. Zwischen den Farnen erhoben sich bis in die oberen Stockwerke des Waldes Koa- und Olopua-Bäume und immer wieder ein Weißer Kokio-Hibiskus.

Peter legte den Weg mit dem Kompass fest. »In diese Richtung«, sagte er, und sie begannen, eine lange, gewundene Passage zwischen den Farnen hinunterzulaufen. Hoch über ihren Köpfen bildeten die Farnwedel ein riesiges grünes Dach.

Danny schleppte sich gerade so vorwärts. Als er wieder einmal anhielt, schaute er Amar an und bekam große Augen: »Er – er blutet ja!«

Niemand hatte das bisher bemerkt. Rick ließ Amar herunter. Der sank auf die Knie. Aus einem seiner Nasenlöcher sickerte Blut, rann auf seine Oberlippe hinunter, tropfte auf die Erde herab.

»Lasst mich hier«, flüsterte Amar. »Die Tensor-Krankheit hat mich erwischt.«

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