Kapitel 12 WAIPAKA-ARBORETUM

28. OKTOBER, 23:00 UHR

Die Studenten purzelten in der Papiertüte von einer Seite zur andern. Jede Bewegung Alysons wurde verstärkt. Jedes Mal, wenn sie an dem Papier entlangschrammten, war ein lautes, kratzendes Geräusch zu hören. Peter war noch nie aufgefallen, dass gewöhnliches braunes Papier so rau sein konnte. Auf seiner Haut wirkte es fast wie Schmirgelpapier. Er sah, dass die anderen alle mit dem Rücken zur Außenhülle saßen, um sich ihre Gesichter bei diesem Herumrutschen nicht wund zu scheuern. Sie waren irgendwohin gefahren, und das hatte eine lange Zeit gedauert, aber wo waren sie jetzt gelandet? Und was würde mit ihnen geschehen? Es war schwer, miteinander zu sprechen, wenn man ständig in alle möglichen Richtungen fiel, und ebenso schwierig, einen Plan zu entwickeln, wenn alle gleichzeitig redeten. Der Mann von Nanigen, Jarel Kinsky, wiederholte immer wieder, dass das Ganze ein Irrtum sein müsse. »Wenn ich nur mit Mr. Drake sprechen könnte«, jammerte er.

»Finden Sie sich endlich damit ab«, fuhr ihn Karen King an.

»Aber ich kann einfach nicht glauben, dass Mr. Drake uns einfach so … umbringen würde«, sagte Kinsky.

»Oh, tatsächlich?«, sagte Karen.

Kinsky gab keine Antwort.

Viel schlimmer war, dass sie nicht wussten, was Vin oder Alyson vorhatten. Wo waren sie jetzt? Sie waren lange Zeit in einem Auto herumgefahren worden, aber wo hatte dieses schließlich angehalten? Das Ganze ergab keinen Sinn. Dann schienen Vin und Alyson eine Vereinbarung zu treffen (was genau sie sagten, konnten sie nicht verstehen), und Alyson trug die Tüte nach draußen in die Dunkelheit.

»Was ist das?«, sagte Karen beunruhigt. »Was geht hier vor?«

Sie hörten ein dröhnendes Geräusch. Bei genauerem Hinhören war es ein Schniefen. Alyson Bender.

»Ich habe das Gefühl, dass sie uns retten will«, sagte Peter Jansen.

»Vin wird das niemals zulassen«, gab Karen zu bedenken.

»Ich weiß.«

»Ich glaube, wir sollten die Sache selbst in die Hand nehmen«, sagte Karen. Sie holte ihr Messer heraus und klappte es auf.

»Sachte, sachte«, rief Danny Minot. »Das ist eine Entscheidung, die wir alle gemeinsam treffen müssen.«

»Da bin ich mir nicht sicher«, entgegnete Karen. »Immerhin habe ich das Messer.«

»Sei nicht kindisch«, sagte Minot.

»Sei nicht feige. Entweder wir handeln selbst, oder sie nehmen uns das Handeln ab und bringen uns um. Was zieht ihr vor?« Sie wartete nicht auf Dannys Antwort, sondern wandte sich Peter zu. »Wie hoch über dem Boden sind wir deiner Meinung nach im Moment?«

»Ich weiß nicht, vielleicht viereinhalb Fuß …«

»Das sind genau hundertsiebenunddreißig Zentimeter«, sagte Erika Moll. »Und wie groß ist unsere Masse?«

Peter lachte. »Nicht sehr groß.«

»Ihr lacht!«, sagte Danny Minot erstaunt. »Ihr Leute seid verrückt. Verglichen mit unserer normalen Größe entspricht ein Sturz über einen Meter siebenunddreißig, äh …«

»… einer Höhe von hundertsiebenunddreißig Metern«, ergänzte Erika. »Das ist die Höhe eines fünfundvierzigstöckigen Gebäudes. Trotzdem wäre es nicht gleichbedeutend mit einem Sturz von einem fünfundvierzigstöckigen Gebäude.«

»Natürlich wäre es das«, sagte Danny.

»Ist es nicht großartig, wenn ein Doktorand der Wissenschaftsforschung überhaupt nichts von Wissenschaft versteht?«, spottete Erika.

»Der Luftwiderstand«, erklärte Peter.

»Nein, der spielt dabei keine Rolle«, sagte Danny mit zusammengebissenen Zähnen. Die Kritik hatte ihn offensichtlich schwer getroffen. »Gegenstände fallen nämlich in einem Gravitationsfeld unabhängig von ihrer Masse mit derselben Geschwindigkeit. Ein Pfennig und ein Klavier fallen gleich schnell und treffen zur selben Zeit auf dem Boden auf.«

»Ihm ist nicht zu helfen«, sagte Karen. »Und wir müssen jetzt eine Entscheidung treffen.«

In der Tüte war es jetzt viel ruhiger geworden, sie wurden nicht mehr so durcheinandergeschüttelt, da Alyson gerade ihre nächsten Schritte überlegte.

»Ich glaube nicht, dass die Distanz unseres Sturzes eine große Rolle spielt«, sagte Peter Jansen. Er dachte jetzt schon seit einiger Zeit über die physikalischen Gegebenheiten nach, die eine solch geringe Körpergröße mit sich brachte.

Es ging dabei um Schwerkraft. Und Trägheit.

Er dozierte also weiter: »Wichtig ist dabei Newtons Gleichung …«

»Genug! Ich bin dafür, dass wir springen«, unterbrach ihn Karen.

»Wir springen«, sagte Jenny.

»Springen«, sagte Amar.

»Oh Gott«, jammerte Danny. »Aber wir wissen doch nicht einmal, wo wir sind!«

»Wir springen«, sagte Erika.

»Das ist unsere einzige Chance«, sagte Rick Hutter. »Wir springen.«

»Wir springen«, sagte Peter.

»Okay«, sagte Karen. »Ich werde an dieser Papiernaht hier am Tütenboden entlanglaufen und sie aufschneiden. Versucht, eng beisammenzubleiben. Stellt euch vor, ihr wärt Fallschirmspringer. Spreizt also Arme und Beine wie ein menschlicher Drachen. Und jetzt loooos –«

»Nur noch einen Moment –«, brüllte Danny.

»Zu spät«, schrie Karen. »Viel Glück!«

Peter spürte, wie sie mit dem Messer in der Hand an ihm vorbeihastete. Einen Augenblick später öffnete sich die Papiertüte unter seinen Füßen, und er fiel in die Dunkelheit.

Die Luft war überraschend kühl und feucht. Und nach der langen Zeit in der stockfinsteren Tüte erschien ihm auch die Nacht relativ hell. Er konnte die Bäume in der Umgebung und den Boden sehen, auf den er jetzt zustürzte. Er fiel überraschend schnell – erschreckend schnell. Einen Moment lang fragte er sich, ob sie wegen ihres kollektiven Widerwillens gegen Danny vielleicht einen Rechenfehler gemacht haben könnten.

Sie wussten natürlich, dass ein Faktor der Geschwindigkeit von fallenden Objekten immer der Luftwiderstand war. Im täglichen Leben dachte man jedoch nicht darüber nach, weil die meisten Dinge, denen man dort begegnete, einen ähnlichen Luftwiderstand aufwiesen. Eine Fünf-Pfund-Hantel und eine Zehn-Pfund-Hantel fielen gleich schnell. Dasselbe galt für einen Menschen und einen Elefanten. Auch diese fielen mit etwa der gleichen Geschwindigkeit.

Die Studenten waren jetzt jedoch so klein, dass der Luftwiderstand eine Rolle spielte. Sie waren deshalb alle der Meinung gewesen, dass der Effekt des Luftwiderstands den Masseneffekt ausgleichen würde. Sie würden also nicht mit voller Geschwindigkeit zum Boden hinunterstürzen.

Das hofften sie wenigstens.

Der Wind pfiff Peter in die Ohren und trieb ihm Tränen in die Augen, während er nach unten fiel. Er biss die Zähne zusammen und wischte sich die Augen aus, um mitzubekommen, wohin er unterwegs war. Als er sich umschaute, konnte er keinen seiner Kameraden erkennen, die wie er immer noch durch die Luft stürzen mussten. Nur ein leises Stöhnen drang aus der Dunkelheit zu ihm herüber. Als er dann wieder in Richtung Boden schaute, merkte er, dass er direkt auf eine breitblättrige Pflanze zusegelte, die wie ein riesiges Elefantenohr aussah. Er versuchte, seine Arme ganz weit auszustrecken und durch Gewichtsverlagerungen dafür zu sorgen, dass er genau im Zentrum des Blattes auftraf.

Tatsächlich gelang ihm das hervorragend. Er landete mitten im Elefantenohr, das sich kalt, nass und glatt anfühlte. Er spürte, wie sich das Blatt unter ihm bog und sich danach wieder aufrichtete und ihn in einer schnellen Bewegung zurück in die Luft schleuderte. Er kam sich wie ein Akrobat auf einem Trampolin vor. In seiner Überraschung stieß er einen lauten Schrei aus. Als er wieder herunterkam, landete er auf dem äußeren Rand des Blattes. Von dort rutschte er auf der schlüpfrigen Oberfläche zur Blattspitze hinunter.

Und wieder stürzte er nach unten.

Er kam auf einem Blatt weiter unten auf, das in dieser Dunkelheit jedoch kaum zu sehen war. Wieder rollte er bis zur Blattspitze hinunter. Er versuchte, sich an die schlüpfrige, grüne Oberfläche zu klammern und einen weiteren Sturz zu vermeiden. Aber es half alles nichts. Er fiel – schlug auf einem Blatt auf – fiel – und landete schließlich in einem weichen Moosbett auf dem Rücken. Da lag er nun, ängstlich und außer Atem, und schaute zum Blätterdach hoch über ihm empor, das den Ausblick auf den Himmel verstellte.

»Willst du einfach so liegen bleiben?«

Es war Karen King, die sich über ihn beugte.

»Bist du verletzt?«, fragte sie.

»Nein.«

»Dann steh auf!«

Mühsam rappelte er sich hoch. Er bemerkte, dass sie ihm nicht dabei half. Jetzt stand er wackelig im feuchten Moos. Das Wasser lief ihm von oben in die Turnschuhe. Seine Füße waren nass und kalt.

»Stell dich hierher«, sagte sie. Es war, als ob sie mit einem Kind spräche.

Er stellte sich neben sie auf ein Stück trockenen Boden. »Wo sind die anderen?«

»Irgendwo hier in der Gegend. Es wird eine Zeit dauern, sie zu finden.«

Peter nickte und schaute auf den Dschungelboden. Von seiner neuen Perspektive in 1,3 Zentimeter Höhe aus war dieser unglaublich schroff und zerklüftet. Moosbedeckte morsche Baumstümpfe stiegen wie Wolkenkratzer empor, und heruntergefallene Äste – tatsächlich waren es Zweige – bildeten unregelmäßige Bögen, die wie die Triumphbögen einer imaginären Armee wirkten. Selbst die toten Blätter am Boden waren größer als er. Wann immer er einen Schritt machte, bewegten sie sich um ihn herum und unter seinen Füßen. Es war, als ob man durch einen Müllhaufen voller verrottendem organischem Abfall gehen würde. Und natürlich war alles nass, schlüpfrig und oft sogar schleimig. Wo genau waren sie hier gelandet? Nach der langen Fahrt konnten sie überall auf Oahu sein, zumindest überall, wo es Wald gab.

Karen sprang auf einen großen Zweig hinauf, fiel fast wieder herunter, konnte am Ende aber doch die Balance halten. Schließlich saß sie auf ihm und ließ die Beine baumeln. Dann steckte sie die Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. »Den haben sie wohl alle gehört.« Sie pfiff noch einmal.

In diesem Augenblick brach etwas Massiges und Dunkelfarbenes aus dem Unterholz hervor. Zuerst konnten sie nicht erkennen, was es war. Im Mondschein zeigte sich dann jedoch ein riesiger, pechschwarzer Käfer, der sich trittsicher an ihnen vorbeibewegte. Seine Facettenaugen schimmerten schwach. Er trug einen schwarzen Gliederpanzer, und seine Beine waren gespickt mit stacheligen Haaren.

Karen zog respektvoll die Beine an, als der Käfer unter dem Zweig hindurchkroch, auf dem sie saß.

In diesem Moment tauchte Erika Moll aus einer Gruppe von dicht stehenden Pflanzenstängeln auf. Sie war klatschnass. »Das ist wahrscheinlich ein Metromenus«, erklärte sie unbeirrt. »Ein Bodenkrabbler, der nicht fliegen kann. Stört ihn nicht, er ist Fleischfresser, er hat starke Kieferzangen, und ich bin mir sicher, dass er auch über ein übles chemisches Spray verfügt.«

Sie wollten nicht mit Chemikalien besprüht oder des Käfers nächste Mahlzeit werden. Sie hörten zu sprechen auf und bewegten sich nicht, während das Insekt herumstöberte. Offensichtlich war es auf der Jagd. Plötzlich startete der Käfer mit erstaunlicher Geschwindigkeit einen Angriff und packte mit seinen Kieferzangen irgendetwas Kleines, das sich wehrte und hin und her zappelte. In der Dunkelheit konnten sie nicht erkennen, was der Käfer gefangen hatte, sie konnten jedoch ein knirschendes, mahlendes Geräusch hören, als er seine Beute zerstückelte. Plötzlich wehte ihnen etwas Scharfes und sehr Unangenehmes in die Nase.

»Wir riechen gerade die chemischen Abwehrstoffe des Käfers«, kommentierte Erika Moll. »Es handelt sich um Ethansäure – das ist Essig – und vielleicht noch etwas Decylacetat. Ich glaube, der bittere Geruch ist Benzochinon. Die chemischen Stoffe werden in Drüsen im Hinterleib des Käfers gespeichert und zirkulieren vielleicht auch in dessen Blut.«

Sie sahen zu, wie der Käfer in der Dunkelheit verschwand und dabei seine Beute mit sich schleppte. »Das ist ein überlegenes evolutionäres Design. Besser als unseres, zumindest für diesen Ort hier«, fügte Erika hinzu.

»Panzer, Kieferzangen, chemische Waffen und viele Beine«, sagte Peter.

»Genau, viel mehr Beine.«

»Die meisten Tiere, die auf unserer Erde herumlaufen, haben wenigstens sechs Beine«, sagte Erika. Sie wusste, dass diese zusätzlichen Gliedmaßen das Überwinden von unebenem und rauem Gelände einfacher machten. Alle Insekten hatten sechs Beine, und dabei gab es beinahe eine Million benannte Insektenarten. Viele Wissenschaftler vermuteten, dass eine weitere Million Insekten noch darauf wartete, benannt zu werden. Das machte sie zur variantenreichsten Lebensform auf dieser Erde, wenn man einmal von mikroskopischen Organismen wie Viren und Bakterien absah. »Insekten waren bei der Kolonisierung der Landgebiete unseres Planeten unglaublich erfolgreich«, stellte Erika fest.

»Wir glauben, dass sie primitiv aussehen«, sagte Peter. »Wir glauben, dass weniger Beine ein Zeichen für Intelligenz sind. Weil wir auf zwei Beinen laufen, denken wir, dass uns das klüger und besser macht als die Tiere, die auf vier oder sechs Beinen laufen.«

Karen zeigte auf das Unterholz. »Bis wir es mit so etwas zu tun haben. Dann möchten wir auch mehr Beine haben.«

Sie hörten ein kratzendes Geräusch, und eine rundliche Gestalt arbeitete sich unter einem Blatt hervor. Sie sah wie ein Maulwurf aus und rieb sich jetzt mit beiden Händen heftig die Nase. »Das hier ist echt ätzend«, sagte sie und spuckte Dreck aus. Sie trug immer noch ihr Tweedjackett.

»Danny?«

»Ich habe nie zugestimmt, nur 1,3 Zentimeter groß zu sein. Okay, es kommt also doch auf die Größe an. Das wusste ich schon immer. Und, was machen wir jetzt?«

»Zuerst könntest du aufhören zu jammern«, sagte Karen und schaute Danny an. »Wir müssen uns auf einen Plan einigen. Und wir müssen eine Bestandsaufnahme machen.«

»Eine Bestandsaufnahme wovon?«

»Unserer Waffen.«

»Waffen? Was ist mit euch beiden los? Wir haben keine Waffen!«, sagte Danny, um dann laut zu rufen: »Wir haben nichts!«

»Das stimmt nicht«, sagte Karen ruhig. Sie schaute Peter an. »Ich habe einen Rucksack.« Sie sprang von ihrem Zweig herunter und hob den Rucksack auf, der bisher unten auf dem Boden gelegen hatte. »Ich habe ihn mir gegriffen, bevor Drake uns geschrumpft hat.«

»Hat Rick es geschafft?«, fragte jemand.

»Klar hat er das«, kam eine Stimme aus der Dunkelheit, irgendwo links von ihnen. »So etwas bringt mich doch nicht aus der Fassung. Schon gar nicht ein solcher Dschungel bei Dunkelheit! Als ich damals in Costa Rica Feldforschung betrieben habe –«

»Das ist Rick«, lachte Peter. »Sonst noch jemand?«

In diesem Moment hörte man von oben einen dumpfen Laut, dem ein wahrer Schauer von Wassertröpfchen folgte. Dann rutschte Jenny Linn ein Blatt hinunter und landete zu ihren Füßen.

»Du hast dir aber ganz schön Zeit gelassen«, sagte Karen.

»Ich habe mich in einem Ast verfangen. Etwa drei Meter weiter oben. Ich musste mich erst einmal freikämpfen.« Jenny saß kurz mit übergeschlagenen Beinen auf dem Boden, sprang dann jedoch sofort wieder auf. »Ähh. Alles ist nass.«

»Das hier ist ein Regenwald«, sagte Rick Hutter, als er aus dem trockenen Laub hinter ihnen auftauchte. Auch seine Jeans waren völlig durchnässt. »Alles okay mit euch?« Er grinste. »Und wie geht’s dir, Danny-Boy?«

»Leck mich am Arsch!«, knurrte Danny, der sich immer noch die Nase rieb.

»Ach komm«, sagte Rick, »lass dich doch auf das Ganze hier ein!« Er deutete auf das Mondlicht, das durch das Blätterdach hoch über ihren Köpfen hindurchschimmerte. »Das hier ist angewandte Wissenschaftsforschung! Ist das nicht der perfekte Joseph-Conrad-Moment? Eine existenzielle Konfrontation des Menschen mit der rauen Natur, das echte Herz der Finsternis, vollständig unberührt von falschen Glaubensvorstellungen und literarischen Konzepten –?«

»Jemand soll ihm sagen, er soll endlich den Mund halten!«

»Rick, lass den Jungen in Frieden –«, sagte Peter.

»Nein, nein, nicht so schnell«, fuhr Rick fort. »Das hier ist nämlich wichtig. Was an der Natur macht dem modernen Geist eigentlich so viel Angst? Warum ist sie ihm so unerträglich? Weil die Natur grundsätzlich gleichgültig ist. Sie ist unerbittlich und teilnahmslos. Es ist ihr vollkommen egal, ob du lebst oder stirbst, Erfolg hast oder scheiterst, Vergnügen oder Schmerz verspürst. Das ertragen wir einfach nicht. Wie können wir in einer Welt leben, die sich so wenig um uns schert? Also definieren wir die Natur um. Wir nennen sie ›Mutter Natur‹, obwohl sie doch dem, was wir sonst unter diesem Begriff verstehen, in keiner Weise entspricht. Wir bevölkern die Bäume, die Luft und das Meer mit Göttern und nehmen sie in unseren Haushalt auf, damit sie uns beschützen. Wir benötigen diese menschlichen Götter für viele Dinge, für Glück, Gesundheit, Freiheit, vor allem jedoch für eine Sache – ein Grund steht über allen anderen: Wir brauchen die Götter, um uns vor der Einsamkeit zu bewahren. Aber warum ist Einsamkeit für uns so unerträglich? Wir ertragen es nicht, einsam zu sein – aber warum nicht? Weil die Menschen Kinder sind, deshalb.

All das sind Dinge, mit denen wir die eigentliche Natur verhüllen. Danny erzählt uns ja immer wieder, dass das Wissenschaftsnarrativ von den herrschenden Machtverhältnissen bestimmt wird. Dass es nur für die Machthaber objektive Wahrheiten gibt. Die Macht erzählt die Geschichte, und jedermann akzeptiert sie dann als Wahrheit, weil gerade das eben das Wesen der Macht ist.« Er holte Atem. »Aber wer übt im Moment die Macht aus, Danny? Kannst du es fühlen? Atme einmal tief durch. Fühlst du es? Nein? Dann werde ich es dir erzählen. Die eigentliche Macht liegt in den Händen der Sache, die am Ende immer die Machtverhältnisse bestimmt, nämlich der Natur. Die Natur, Danny. Nicht wir. Alles, was wir tun können, ist, da mitzuspielen und uns anzupassen.«

Peter legte den Arm um Rick und führte ihn ein Stück beiseite. »Das reicht jetzt, Rick.«

»Ich hasse diesen Scheißtyp«, zischte Rick.

»Wir haben alle ein bisschen Angst.«

»Ich nicht«, sagte Rick. »Ich bin absolut cool. Ich mag es, nur 1,3 Zentimeter groß zu sein. Das ist gerade mundgerecht für einen Vogel, ich bin also ein kleines Vogelhäppchen. Eine tolle Vorspeise für einen Maina. Meine Chancen, die nächsten sechs Stunden zu überleben, stehen etwa eins zu vier, vielleicht eins zu fünf …«

»Wir müssen einen Plan ausarbeiten«, sagte Karen mit ruhiger Stimme.

In diesem Moment trat Amar Singh hinter einem links von ihnen liegenden Stück Holz hervor. Er war von oben bis unten mit Schlamm verschmiert und sein Hemd völlig zerrissen. Er wirkte bemerkenswert ruhig und gelassen. »Alles okay?«, fragte ihn Peter.

Er nickte mit dem Kopf.

»Der Nanigen-Mann«, sagte Peter. »Hey, Kinsky! Sind Sie hier irgendwo?«

»Schon eine ganze Weile«, antwortete Jarel Kinsky leise. Er saß mit angezogenen Beinen regungslos unter einem Blatt. Bisher hatte er nichts gesagt, sondern nur die anderen beobachtet und ihnen zugehört.

»Sind Sie in Ordnung?«, fragte ihn Peter.

»Sie sollten leiser reden«, sagte Kinsky und meinte dabei die ganze Gruppe. »Die können besser hören als wir.«

»Die?«, fragte Jenny.

»Die Insekten.«

Plötzlich herrschte eine große Stille.

»Schon besser«, sagte Kinsky.

Ab jetzt unterhielten sie sich im Flüsterton. Peter fragte Kinsky: »Irgendeine Ahnung, wo wir sind?«

»Ich glaube, ja«, antwortete Kinsky. »Schauen Sie dort hinüber.«

Als sie sich umdrehten, sahen sie in dieser Richtung einen entfernten Lichtschein, der durch das Laub der Bäume ganz schwach zu ihnen herüberdrang. Es war eine Lampe, die die Ecke eines hölzernen Gebäudes beleuchtete und sich in einigen Glasscheiben spiegelte.

»Das ist das Gewächshaus«, erklärte Kinsky. »Wir sind im Waipaka-Arboretum.«

»Oh Gott«, entfuhr es Jenny Linn. »Wir sind Kilometer von Nanigen entfernt!« Als sie sich auf ein Blatt niedersetzte, spürte sie, wie sich etwas unter ihren Füßen bewegte und sie immer wieder ganz leicht anstupste. Schließlich kletterte etwas Kleines ihr Bein hinauf. Sie packte es und warf es in die Dunkelheit. Es war eine Bodenmilbe, eine achtfüßige Kreatur und völlig harmlos. Sie bemerkte, dass der Boden voller winziger Organismen war, die alle ihren Geschäften nachgingen. »Die Erde unter unseren Füßen ist lebendig«, sagte sie.

Peter Jansen kniete sich hin, wischte sich einen kleinen Wurm vom Knie und wandte sich Jarel Kinsky zu: »Was wissen Sie darüber, wie es ist, in einem solchen Schrumpfzustand zu existieren?«

»Der korrekte Fachausdruck lautet ›dimensionale Änderung‹«, antwortete Kinsky. »Ich bin noch nie dimensional verändert worden. Das ist jetzt das erste Mal. Natürlich habe ich mit den Außenteams gesprochen.«

Rick Hutter mischte sich jetzt ein. »Ich würde nichts von dem glauben, was dieser Typ erzählt. Er steht immer noch loyal zu Drake.«

»Warte«, sagte Peter in ruhigem Ton. »Was sind das, diese ›Außenteams‹?«, fragte er Kinsky.

»Nanigen schickt schon seit einiger Zeit solche Teams in die Mikrowelt. Jedes Team besteht aus drei Personen«, antwortete Kinsky im Flüsterton. Er schien wirklich Angst zu haben, ein zu lautes Geräusch zu verursachen. »Sie sind dimensional verändert und wie wir im Moment 1,3 Zentimeter groß. Sie bedienen die Grabungsmaschinen und sammeln Proben. Sie leben in den Versorgungsstationen.«

»Sie meinen die kleinen Zelte, die wir neulich gesehen haben?«, fragte Jenny Linn.

»Ja. Die Teams bleiben aber nie länger als achtundvierzig Stunden hier. Wenn man länger in diesem veränderten Zustand bleibt, wird man allmählich krank.«

»Krank? Was meinen Sie damit?«, fragte Peter.

»Sie bekommen die Tensor-Krankheit«, antwortete Kinsky.

»Die Tensor-Krankheit?«

»Das ist eine Krankheit, die Menschen befällt, die dimensional verändert wurden. Die ersten Symptome zeigen sich nach etwa drei oder vier Tagen.«

»Und was passiert dann?«

»Nun, wir wissen einiges über diese Krankheit, aber nicht viel. Das Sicherheitspersonal hat am Anfang erst einmal Tiere im Tensorgenerator getestet. Zuerst haben sie Mäuse geschrumpft. Sie haben die geschrumpften Mäuse in winzigen Glaskolben gehalten und sie mit dem Mikroskop untersucht. Nach einigen Tagen sind alle Mäuse gestorben. Sie waren verblutet. Als Nächstes haben sie Kaninchen und schließlich Hunde geschrumpft. Auch diese starben an Blutungen. Nachdem man ihre normale Größe wiederhergestellt hatte, wurden sie obduziert. Dabei zeigte sich, dass selbst kleine Schnittwunden zu hohem Blutverlust geführt hatten. Außerdem wurden auch zahlreiche innere Blutungen festgestellt. Schließlich fand man heraus, dass dem Blut der Tiere Gerinnungsfaktoren fehlten. Die Tiere waren also eigentlich an Hämophilie, einer Störung der Blutgerinnung, gestorben. Wir glauben, dass die Dimensionsänderung beim Gerinnungsvorgang enzymatische Prozesse unterbricht, aber genau wissen wir das nicht. Wir wussten jetzt also, dass ein Tier eine gewisse Zeit in geschrumpftem Zustand leben konnte, wenn man es binnen einiger Tage wieder in den Normalzustand zurückversetzte. Wir sprachen von der Tensor-Krankheit, weil sie offensichtlich etwas mit dem Durchgang durch ein starkes Tensorfeld zu tun haben musste und an die Taucherkrankheit erinnerte. Wir konnten also das Fazit ziehen, dass das Tier gesund blieb, wenn es nur zeitlich begrenzt in diesem dimensional veränderten Zustand blieb.

Als Nächstes meldeten sich mehrere Freiwillige, darunter der Mann, der den Tensorgenerator entworfen hatte. Sein Name war Rourke, glaube ich. Es stellte sich heraus, dass auch Menschen einige Tage ohne schädliche Auswirkungen in dieser Mikrowelt leben konnten. Aber dann gab es einen … Unfall. Der Generator brach zusammen, und wir verloren drei Wissenschaftler. Sie waren in der Mikrowelt gefangen und konnten nicht zu ihrer normalen Größe zurückkehren. Einer der Toten war der Mann, der den Generator entwickelt hatte. Seitdem hatten wir noch weitere … Unfälle. Wenn eine Person großem Stress ausgesetzt ist oder eine größere Verletzung erleidet, kann die Tensor-Krankheit früher als gewöhnlich ganz plötzlich ausbrechen. Auf diese Weise haben wir noch … mehr … Mitarbeiter verloren. Darum hat Mr. Drake die Operationen so lange ausgesetzt, bis wir herausfinden, wie wir künftig das Sterben von Menschen in dieser Mikrowelt verhindern können. Sie sehen also, dass sich Mr. Drake wirklich um die Sicherheit seiner Mitarbeiter sorgt …«

»Und wie wirkt sich diese Krankheit bei Menschen aus?«, unterbrach ihn Rick.

Kinsky antwortete: »Es beginnt mit Blutergüssen, vor allem auf den Armen und Beinen. Wenn man sich schneidet, hört die Blutung nicht mehr auf. Wie bei der gewöhnlichen Hämophilie. Du kannst bereits aufgrund einer ganz kleinen Verletzung verbluten. So habe ich das zumindest gehört. Allerdings halten sie die näheren Einzelheiten geheim. Ich bediene ja auch nur den Generator.«

»Gibt es dafür irgendeine Behandlung?«, fragte Peter.

»Die einzige Therapie ist Dekompression. Man muss diesem Menschen so schnell wie möglich seine normale Größe wiedergeben.«

»Wir stecken in großen Schwierigkeiten …«, murmelte Danny.

»Wir müssen eine Bestandsaufname aller unserer Hilfsmittel machen«, sagte Karen entschlossen. Sie legte den Rucksack, den sie sich im Generatorraum verschafft hatte, auf ein totes Blatt. Im gedämpften Licht des Mondes schüttete sie dessen Inhalt auf dem Blatt aus, als ob dieses ein Tisch wäre, um den sich jetzt alle versammelten. Der Rucksack enthielt einen Verbandskasten, in dem sich unter anderem einige Antibiotika und Basismedikamente befanden; ein Messer; ein kurzes Stück Seil; eine Schnur, ähnlich einer Angelschnur, die an einem Gurt festgemacht war; ein Sturmfeuerzeug; eine silberne Rettungsdecke; ein dünnes wasserdichtes Zelt und eine Stirnlampe für Wasserwanderer. Außerdem gab es da noch zwei Kopfhörer mit angeschlossenem Kehlkopfmikrofon.

»Das sind Funksprechgeräte«, erklärte Kinsky. »Zur Kommunikation mit dem Hauptquartier.«

Darüber hinaus befanden sich darin eine Strickleiter sowie Schlüssel und Anlasserkontrollen für irgendeine unbekannte Art von Maschine. Karen packte alles außer der Lampe zurück in den Rucksack und zog den Reißverschluss zu.

»Ziemlich nutzlos«, kommentierte sie dann, sprang auf die Füße und setzte die Stirnlampe auf. Sie schaltete sie an. Der Lichtstrahl streifte bei jeder Bewegung über die Pflanzen und Blätter in ihrer Umgebung. »Wir brauchen wirklich Waffen.«

»Ihre Lampe – bitte schalten Sie die aus«, murmelte Kinsky. »Sie lockt – Dinge an.«

»Was für Waffen brauchen wir denn?«, wollte Amar wissen.

»Sagt mal«, unterbrach sie Danny, als ob ihm gerade erst etwas eingefallen wäre. »Gibt’s eigentlich Giftschlangen in Hawaii?«

»Nein«, sagte Peter. »Hier gibt es überhaupt keine Schlangen.«

»Auch nicht viele Skorpione, vor allem nicht im Regenwald«, fügte Karen King hinzu. »Da gibt es einen hawaiianischen Hundertfüßer, dessen Stiche für Menschen ziemlich unangenehm sind. Bei unserer gegenwärtigen Größe könnte er uns sicher töten. Tatsächlich könnten uns eine Menge Tiere töten. Vögel, Kröten, alle möglichen Insekten, Ameisen, Wespen und Hornissen –«

»Du hast über Waffen geredet, Karen«, erinnerte sie Peter.

»Wir brauchen irgendwelche Geschosswaffen«, sagte Karen, »etwas, das aus der Entfernung töten kann –«

»Ein Blasrohr«, schlug Rick vor.

Karen schüttelte den Kopf. »Nein. Das wäre ja nur zweieinhalb Millimeter lang. Das geht nicht.«

»Warte, Karen. Ich könnte mir ein hohles Stück Bambus besorgen, das so lang ist wie ich gerade …«

»Wir bräuchten einen passenden Holzpfeil«, sagte Peter.

»Sicher«, sagte Rick, »aber wie kriegen wir den spitz?«

»Hitze«, sagte Amar. »Aber was das Gift angeht –«

»Curare«, sagte Peter, stand auf und schaute sich um. »Ich wette, viele Pflanzen hier in der Umgebung –«

Rick unterbrach ihn. »Das ist mein Fachgebiet. Wenn wir ein Feuer machen könnten, könnten wir Rinde und anderes Pflanzenmaterial auskochen und daraus Gift extrahieren. Und wenn wir ein Stück Metall, am besten Eisen, finden könnten, um daraus eine Pfeilspitze herzustellen …«

»Wie wär’s mit meiner Gürtelschnalle?«, fragte Amar.

»Und dann was?«

»Wir erhitzen sie und probieren es dann aus.«

»Das würde aber ganz schön lange dauern.«

»Es ist der einzige Weg.«

»Wie wär’s, wenn wir die Haut eines Froschs verwenden würden?«, fragte Erika Moll. In dieser ganzen Nacht hatten sie überall um sich herum das Quaken von etwas gehört, das sie für Ochsenfrösche hielten.

Peter schüttelte den Kopf. »Wir haben hier nicht die richtige Art. Was ihr da hört, sind Erdkröten, so groß wie eure Faust. Na ja, so groß wie eure alte Faust. Sie sind grau und nicht bunt. Sie stellen unangenehme Hautgifte, sogenannte Bufotenine, her, aber nicht die auf Curare basierenden Verbindungen der mittelamerikanischen –«

»Um Himmels willen, das reicht jetzt!«, blaffte Danny.

»Ich erkläre ja nur …«

»Wir haben es alle kapiert!«

Erika legte Peter den Arm um die Schulter und nickte zu Danny hinüber. Der beschäftigte sich immer noch manisch mit seiner Nase und kratzte sie mit beiden Händen, die er dabei so gebogen hielt, dass sie wie kleine Pfoten aussahen.

Wie ein Maulwurf.

»Dreht der gerade durch?«, flüsterte Erika ängstlich.

Peter nickte.

»Also weiter: Du empfiehlst uns welches Gift?«, fragte Amar.

Ohne Danny aus den Augen zu lassen, antwortete Peter: »Wir schaben die Rinde vom Strychnos-toxifera-Baum, fügen Oleander hinzu, allerdings den Saft und nicht die Blätter, geben etwas Chondrodendron tomentosum bei, wenn verfügbar, und kochen die Mischung mindestens vierundzwanzig Stunden lang.«

»Lasst uns damit anfangen«, sagte Karen King.

»Wir könnten diese Pflanzen viel einfacher bei Tageslicht finden«, sagte Jenny Linn. »Wozu die Eile?«

»Der Grund für die Eile sind diese Halogenscheinwerfer dort hinten am Eingangstor. Genau jetzt könnte Vin Drake auf dem Weg hierher sein, um uns zu töten.« Sie schulterte ihren Rucksack und zog dessen Riemen straff. »Packen wir’s an!«

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