Kapitel 37 TANTALUS-KRATER

31. OKTOBER, 14:00 UHR

Die Solitärwespe war auf dem Rückweg zu ihren Kindern. Zwischen ihren Beinen baumelte eine gelähmte Raupe. Sie flog ein paarmal im Zickzack über ihr Nest, ging etwas tiefer und suchte den Lehmkamin ihres Baus.

Innerhalb kürzester Zeit hatte sie begriffen, dass jemand ihren Kamin zerstört hatte. Ihr Nest war beschädigt worden. Ein Eindringling.

Danny verkroch sich hinter seinem Stein und duckte sich unter eine Pflanze, wobei er so pflanzen- und steingleich wie möglich zu werden versuchte. »Du Idiotin!«, flüsterte er Karen zu. Sie hatte ihn in dieser Mikrowelt alleingelassen.

Die Mutter landete mit ihrer Raupe. Mit vibrierenden Flügeln rückte sie auf den Nesteingang vor. In diesem Moment fing sie den Sterbegeruch ihres toten Babys auf, der aus dem Loch herausdrang. Sie begann, wild mit den Flügeln zu schlagen. Die Luft war erfüllt von deren Donner. Sie ließ die Raupe fallen und stürzte mit dem Kopf voraus in das Loch.

Karen King hörte in der Erde über sich ein lautes Rumpeln und Poltern. Es war das tiefe Summen der Flügel, vermischt mit dem Klappern und Klirren des Außenskeletts einer sich durch einen Erdtunnel zwängenden Wespe.

»Danny«, rief sie in ihr Mikrofon. »Was passiert da?«

Keine Antwort.

»Sprich mit mir, Danny!«

Die Mutter war unterwegs zu ihr, ein giftiges, schwer gepanzertes Bündel mütterlichen Zorns.

Karen hörte die Wespe kommen. Sie kauerte in der Kammer am Fuß des senkrechten Schachts. Rick lag neben ihr auf dem Boden. Die Geräusche waren Furcht einflößend – und informativ. Ein scharfer Geruch wehte in den Raum – eine Vorauswelle der Wut einer Mutter.

Karen holte ihren Diamantschärfer heraus und begann, fieberhaft die Schneide ihrer Machete zu schleifen, zing, swisch, zing. »Halt durch, Rick«, flüsterte sie. Zing, swisch, zing. Sie bearbeitete den Stahl so lange, bis die Klinge eine äußerst scharfe Schneide besaß. Sie sollte eigentlich einen massiven bioplastischen Panzer durchschlagen können. Dann stellte sie sich an die Öffnung und hielt die Klinge über den Kopf. »Komm schon, komm schon«, murmelte sie.

Die Mutter erreichte den Boden des Schachts. Ein paar Sekunden lang geschah gar nichts.

Plötzlich tauchte der riesige, schwarz-gelb gestreifte Wespenkopf in der Öffnung auf.

Karen schlug die Machete mit aller Kraft der Wespe ins Gesicht.

Die Klinge prallte vom Auge der Wespe ab, auch wenn sie eine Kerbe hinterließ. Die Dame hatte gepanzerte Augen.

Die Wespe stieß jetzt ihren immer noch umgedrehten Kopf in die Kammer hinein, umklammerte die Machete mit ihren Mandibeln, riss Karen die Klinge aus der Hand und schleppte diese zurück in das Loch. Karen hörte knirschende Metallgeräusche. Die Wespe zermalmte gerade ihre letzte Waffe.

Plötzlich erzitterte und wackelte der ganze Raum. Die Wespe schlug mit ihren Flügeln an die Tunnelwände. Sie machte sich zum Angriff bereit. Karen hörte die Wespe keuchen.

Sie schaute über die Schulter, und der Strahl ihrer Stirnlampe glitt über Rick. Er wirkte wie tot.

Als sie ihren Kopf herumschwang, bemerkte sie das kleine Messer, das um ihren Hals hing. Sie hatte sich ja geschworen, es nie mehr in der Tasche zu tragen. Mein Messer. Sie zog die Schnur, an dem es hing, über den Kopf und klappte es auf.

Die Wespe hatte erneut ihren Kopf in die große Kammer gesteckt, und ihre Kiefer schnappten jetzt nach ihr. Um ihr auszuweichen, warf sich Karen auf den Boden, sodass sie mit dem ganzen Körper unter den umgedrehten Kopf des Insekts rutschte. Der Kopf war mit Borsten bedeckt. Karen klammerte sich daran fest. Der Kopf schnellte auf und ab und schlug sie auf den Boden. Die Wespe konnte sie sehen: Ihre drei kleinen Stirnaugen schauten auf sie herab.

Die Wespe hämmerte Karen immer noch auf die Erde, um sie endlich abzuschütteln. Gleichzeitig versuchte sie, sie mit ihren Mandibeln zu erfassen und mittendurch zu schneiden. Karen krallte sich an dem Kopf fest, während dieser rotierte, sie gegen die Tunnelwände schlug und die Kieferzangen nach ihr schnappten. Sie bezog eine entsetzliche Tracht Prügel. Auf der Suche nach einem besseren Halt griff sie hinter den Kopf der Wespe. Es gelang ihr, ihre Fingerspitzen in die Okzipitalnaht zu zwängen, die Spalte zwischen der Kopfkapsel und dem Pleuron, der ersten gepanzerten Platte des Thorax. Das war sozusagen der Hals der Wespe, der an dieser Stelle auch nicht gepanzert war. Ihre Fingerspitzen fühlten weiches Gewebe in diesem Spalt.

Der Hals war so schmal, das sie ihn mit ihren Fingern umfassen konnte. Sie hatte jetzt einen festen Halt. Vielleicht konnte sie die Wespe sogar erwürgen.

In diesem Moment zog sich die Wespe schlagartig in den Tunnel zurück und schleppte dabei Karen mit sich. Die war jetzt in der engen Röhre eingeklemmt und lief Gefahr, von dem Kopf der Wespe zerschmettert zu werden, der immer noch gegen ihren Körper hämmerte. Plötzlich krümmte sich die Wespe. Karen begriff, dass sie versuchte, ihren Hinterleib nach vorn zu bringen und sie zu stechen. Schließlich drückte sie sie in die Kammer zurück und versuchte sie durch heftige Kopfbewegungen abzuschütteln. Aber Karen hielt sich eisern fest. Nachdem sie die Okzipitalnaht lokalisiert hatte, ließ sie eine Hand los, griff nach ihrem Messer und stieß dessen Klingenspitze in die Halsspalte. Danach folgte sie dieser mit ihrem Messer und schnitt einmal ganz um den Hals herum.

Der Kopf der Wespe fiel ab.

Er rollte auf Karen hinunter und dann in die Kammer hinein, wobei er eine Blutspur hinter sich herzog.

Die Mandibeln schnappten noch zweimal, um dann für immer zu erstarren. Der Körper blutete schnell aus, und das Blut ergoss sich aus dem durchtrennten Hals über Karen. Die Flügel des kopflosen Insekts donnerten eine Zeit lang weiter gegen die Tunnelwand. Dann wurden die Flügelschläge immer schwächer und langsamer, bis der Leichnam sich nicht mehr bewegte.

Karen ging in die Kammer zurück, kniete sich neben Rick und nahm seine Hand. Sie zitterte wie Espenlaub. »Ich hab’s geschafft.«

Aus den Augenwinkeln sah Rick, wie sich hinter ihr etwas bewegte. Er zwinkerte mit den Augen und rief in seinem Geist: Pass auf!

Das Haupthirn im Innern des abgeschlagenen Kopfs hatte den Kontakt mit den acht Nebenhirnen im Körper der Wespe verloren, aber diese Nervenknoten sandten immer noch Botschaften an den Rest des Körpers aus. Die Wespenbeine marschierten los und schleppten den kopflosen Körper in die zentrale Kammer hinein. Der Hinterleib krümmte sich unter dem Körper, stieß nach vorn, und der Stachel kam heraus.

Ein Geräusch hinter ihrem Rücken ließ Karen herumwirbeln. Sie sah den Stachel gerade noch rechtzeitig auf sie zukommen und sprang beiseite, wurde aber von dem Hinterleib an die Wand gedrückt. Sie war eingeklemmt und versuchte, sich zu befreien, während der Stachel ganz dicht an ihrem Gesicht vorbeischwenkte. Sie beobachtete, wie sich die beiden Stechborsten nur Zentimeter von ihren Augen entfernt gegeneinander bewegten. Die Stacheltaster fuhren aus, klopften leicht gegen ihre Wange und drangen dann in ihren Mund ein. Aber schließlich erstarrte auch der Stachel und berührte nur Karens Schlüsselbein, ohne irgendeinen Schaden zu verursachen. Aus der Stachelrinne trat ein größerer Gifttropfen aus und blieb einfach so hängen. Sie konnte das Spiegelbild ihres Gesichts in dem Gifttröpfchen sehen.

Sie arbeitete sich vorsichtig unter dem Stachel hervor und vermied dabei sorgfältig jeden Kontakt mit der Flüssigkeit und den Stechborsten. Dann kniete sie sich wieder hin und wischte Rick den Schmutz aus dem Gesicht. »Wie geht’s dir, großer Kämpfer?«

Er schien vollkommen gelähmt. Sein Gesicht sah wie eine Maske aus. Er konnte die Augen bewegen und mit ihnen blinzeln, aber seine Miene zeigte keinerlei Ausdruck. Die Muskeln in seinem Gesicht hatten den Dienst quittiert, und er hatte sich in die Hose gemacht. Wenigstens atmete er, und sein Herz schlug. Das Wespengift war trickreiches Zeug. Es hatte nur einen ganz bestimmten Teil seines Nervensystems außer Gefecht gesetzt. Versuchte er etwa zu reden? Es gab einen Weg, um das herauszufinden.

»Kannst du mit den Augen blinzeln?«, fragte sie ihn. »Wenn du blinzelst, heißt das Ja, und wenn du nicht blinzelst, heißt das Nein. Kannst du mich verstehen?«

Er blinzelte ein Mal. Ja. Dann zitterte etwas in seinem Gesicht.

»Rick! Ist das ein Lächeln?«

Ja. Zumindest ein Versuch.

»Das ist schon mal ein Anfang. Tut irgendetwas weh?«

Ja.

»Was tut weh? … schon gut, vergiss es. Ich werde dich tragen. Wird das wehtun?«

Er blinzelte nicht. Nein.

Sie packte Rick unter den Armen und zog ihn um die tote Wespe herum. Sie passte auf, dass ihre Körper nicht mit dem großen Gifttropfen in Berührung kamen, der immer noch am Stachel der Wespe hing. Als sie Rick durch die Kammer zog, konnte sie erkennen, wie schlimm sein Zustand war. Er würde nur überleben, wenn er wieder seine Muskeln bewegen konnte. Sein Nervensystem brauchte Hilfe. Dieses verdammte Gift – der Gifttropfen am Stachel schimmerte im Licht ihrer Stirnlampe –, dieses Gift hatte wie eine intelligente Bombe gewirkt und nur Teile des Nervensystems abgeschaltet. Ein schreckliches Gift, aber höchst raffiniert. Die Natur brachte chemische Wunder zustande, die kein menschliches Pharmaunternehmen auch nur entfernt nachahmen konnte.

Rick brauchte Hilfe, oder er würde sterben.

Als sie noch einmal diesen klaren Gifttropfen betrachtete, kam ihr eine Idee. Das Gift, das Rick gelähmt hatte, könnte ihn vielleicht auch retten.

Sie musste es auffangen. Sie tastete über ihre Taille und fand eine Wasserflasche, die an einer Schnur an ihrem Machetengürtel hing. Sie schüttete das Wasser aus und hielt dann die Flaschenöffnung an den Gifttropfen. Sie sah zu, wie die Flüssigkeit langsam in die Flasche tropfte. Sie schraubte den Deckel drauf und fertig.

»Ich habe einen Plan, Rick. Er ist verrückt, aber er könnte funktionieren.«

Rick starrte sie nur unverwandt an.

Sie hob ihn hoch und schleppte ihn durch den Tunnel. Danach presste sie ihre Knie an die Wände des Schachts, begann hinaufzuklettern und schob Rick dabei vor sich her nach oben. Sie fühlte sich wie Superwoman. So etwas hätte sie in der großen Welt nie geschafft. Trotzdem war es eine lange Klettertour. Sie musste immer wieder kleine Pausen einlegen. Sie war froh, dass sie so stark war wie eine Ameise. Schließlich kam sie am Eingang des Nests an.

Danny Minot hatte bereits jede Hoffnung aufgegeben. Er traute seinen Augen nicht, als Rick Hutter aus dem Loch herausfiel und gleich darauf eine ziemlich ramponiert aussehende Karen King aus der Erde auftauchte. »Ich habe ihn«, sagte sie in kämpferischem Ton und lud ihn sich auf die Schultern. Sie trug ihn über den Sand und ließ ihn neben Danny in den Schatten der Pflanze fallen.

Dann kniete sie sich wieder neben ihn und studierte ihn genau. Danny kauerte sich ganz in der Nähe hin und machte sich ganz klein, um nicht dem Wind ausgesetzt zu sein.

»Kannst du aufstehen?«, fragte sie Rick.

Der blinzelte ein Mal.

»Ja? Möchtest du’s versuchen?« Sie half ihm aufzustehen. Er schwankte, taumelte und fiel auf die Knie, dann fiel er vollends um und blieb auf dem Boden liegen.

Sie zeigte ihm die Feldflasche mit dem Wespengift. »Das könnte dich vielleicht retten, Rick. Garantieren kann ich das nicht. Dazu müssen wir aber jetzt« – sie schaute zu der sich hoch auftürmenden Bambusreihe jenseits des offenen Geländes hinüber – »in den Wald zurück.«

Sie dachte an den Tod dieses Heckenschützen und an den epileptischen Anfall, den der Mann durch das Spinnengift erlitten hatte. Der Tod dieses Mannes könnte ihnen die Information liefern, die sie benötigten, um Rick zu retten.

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