Kapitel 43 KO’OLAU-BERGE

31. OKTOBER, 23:10 UHR

In einer Höhe von gut sechshundert Metern über dem Meer richtete Danny Minot die Nase seines Mikroflugzeugs nach oben. Er wollte genug Höhe gewinnen, um sicherzugehen, dass er über die Seiten des Tantalus-Kraters hinwegkam. Dessen Rand war von schwarz drohenden Bäumen gesäumt, in denen sich sein Flugzeug verfangen konnte. Er tauchte in den Krater hinein und verließ ihn dann wieder durch eine kleine Lücke. Dahinter zog er wieder nach oben. Er wollte auf keinen Fall in einer Hochspannungsleitung landen. Er schaute sich um, ob ihm irgendwelche Mikroflugzeuge folgten. Nichts dergleichen zu sehen. Er gewann immer weiter an Höhe.

Das war leichter als ein Videospiel. Die Mikroflugzeuge waren fast absturzsicher konstruiert. Hatte die Maschine eigentlich Positionslichter? Er fand einen Schalter, und die Positionslichter leuchteten tatsächlich auf, rot und grün an den Enden der Tragflächen und ein weißes, das nach hinten gerichtet war. Er schaltete sie wieder ab, damit ihm keine anderen Flugzeuge folgen konnten. Nach einer kleinen Weile schaltete er sie jedoch wieder ein. Es verschaffte ihm irgendwie ein besseres Gefühl, die blinkenden Lichter an den Flügeln zu sehen.

Unter ihm dehnte sich jetzt Honolulu aus. Die Hotels von Waikiki erhoben sich beinahe in den Himmel. Sie erschienen ihm auf fast unmögliche Weise riesig. Autoschlangen mit ihren roten und weißen Lichtern bewegten sich die Boulevards entlang. Im Hafen hatte ein Kreuzfahrtschiff angedockt. Der Ozean selbst war eine tiefschwarze weite Fläche jenseits der Stadt. Nur der tief am Himmel hängende Mond warf eine funkelnde Lichtstraße über das Wasser. Links von Waikiki Beach erstreckte sich eine dunkle Masse. Das war der Diamond Head. Von oben sah man, dass es sich um einen riesigen ringförmigen Krater handelte. In dessen Zentrum brannten ein paar Lichter. Danny konnte auch die Umrisse des eigentlichen »Diamantenkopfs« erkennen, eines kleinen Bergblocks, der aus dem oberen Kraterrand herausragte. Er sah jedoch nirgends Blinklichter. Nur die dunklen Umrisse des Diamond Head. Wo war dieser Leuchtturm?

Er drückte den Gashebel nach vorne und flog Richtung Diamond Head.

Plötzlich kippte sein Flugzeug, wurde seitlich abgetrieben und rollte wieder und wieder über seine Längsseite. Er schrie vor Angst. Er hatte die Passatwinde erreicht, die über die Berge wirbelten. Er fluchte und kämpfte mit dem Steuerknüppel, während das Flugzeug durch die Windstrudel taumelte. Aber dann stabilisierte sich die Maschine wieder und flog geradeaus und mit hoher Geschwindigkeit ruhig im Wind. Er war in die laminare Strömung geraten. Es war, als ob man von der Hauptströmung eines Flusses fortgetragen wurde. Er schaute nach unten. Der Wald bewegte sich immer noch unter ihm. Eigentlich bewegte er sich ja über ihn hin. Der Höhenmesser zeigte, dass er auf über neunhundert Meter aufgestiegen war. Im Mondlicht bot sich eine fantastische Sicht.

Hinter ihm lag windwärts die Senke des Tantalus-Kraters. Der Krater gähnte dunkel wie eine Höhle. Nichts war aus dieser Höhe von Rourkes Festung oder der Tantalus-Basis zu sehen. Direkt unter ihm schlängelten sich Straßen über die Flanken der Bergkette. Entlang der Straßen brannten Lichter. Vor ihm kamen die Hochhäuser der City näher, bis sie sich zu unglaublicher Höhe auftürmten. Ihre Tausende von erleuchteten Fenstern schienen sie mit Energie aufzuladen. Einen Moment lang hatte er das Gefühl, in die Hauptstadt eines fernen galaktischen Imperiums hineinzufliegen. Tatsächlich war es jedoch nur Honolulu. Den Diamond-Head-Leuchtturm konnte er allerdings immer noch nicht sehen.

Der Wind trug ihn den Hotels am Waikiki Beach entgegen. Er versuchte, einen westlicheren Kurs einzuschlagen, der ihn zum Diamond Head führen würde. Er experimentierte mit dem Steuerknüppel und dem Gashebel. Er drehte nach links ab und erhöhte das Tempo. Dann schaute er sich um.

Er wollte nicht in die City geweht werden. Das wäre sein sicherer Tod. Er würde vom Verkehr zerschmettert oder von der Klimaanlage eines Gebäudes eingesaugt werden. Deshalb erhöhte er die Kraftzufuhr auf das NOTFALL-MAXIMUM, während er den Kurs in Richtung Diamond Head beibehielt. Plötzlich tauchte auf einem Bildschirm eine Warnung auf: ÜBERMÄSSIGE BATTERIEENTLADUNG. Verbleibende Flugzeit: 20:25 Minuten … 18:05 Minuten … 17:22 Minuten … Die verbleibende Flugzeit fiel wie ein Stein. Er würde in ein paar Minuten keinen Strom und damit keine Antriebskraft mehr haben.

Er schaute auf den Geschwindigkeitsmesser. Als Fluggeschwindigkeit wurden 11,4 km/h angegeben. Er fand das Funkgerät und schaltete es ein. »Mayday. Mayday. Hier ist Daniel Minot. Ich bin in einem kleinen Flugzeug. Einem sehr kleinen Flugzeug. Hört mich jemand? Mr. Drake, sind Sie da? Ich kann Diamond Head nicht erreichen … ich werde in die City geweht … oh mein Gott.«

Direkt vor ihm ragte ein Hotel wie ein riesiger Raumkreuzer aus einer fernen Galaxie auf. Er sah zwei Riesen auf einem Balkon stehen, einen Mann und eine Frau, die Drinks in den Händen hielten. Der Wind trieb sein Flugzeug unkontrollierbar direkt auf sie zu. Ihre Köpfe waren größer als die des Mount Rushmore. Der Mann setzte seinen Drink ab, streckte seine Hand aus und zog der Frau den Träger ihres Kleids von der Schulter. Dabei enthüllte er eine kolossale Brust, deren aufgerichtete Brustwarze mindestens zwei Meter hervorragte. Der Mann streichelte sie mit Händen von erschreckender Größe. Ihre Gesichter trafen sich zu einem Kuss … Als sein Flugzeug mit ihnen zu kollidieren drohte, schrie er und kämpfte mit der Steuerung. Im letzten Moment gelang es ihm unter Einsatz des Notfall-Maximums und eines rasend schnell rotierenden Propellers unter ihren Nasen durchzutauchen. Danach wurde das Flugzeug von einem Windstoß erfasst, bog um die Ecke des Gebäudes und verschwand in der Dunkelheit.

Der Mann und die Frau stoben auseinander. »Was zum Teufel –«

Sie hatte etwas vollkommen Irres gesehen. Ein winziger Mann flog ein winziges Flugzeug, auf dessen Flügeln Lichter blinkten. Der winzige Mann hatte geschrien. Sie hatte sein insektengleiches Wimmern ganz deutlich zusammen mit einem hohen Motorsummen gehört. Und sie hatte den offenen Mund und die entsetzt dreinschauenden Augen deutlich gesehen … Das war völlig unmöglich. Einer dieser Wachträume. »Die Insekten hier draußen sind schrecklich, Jimmy.«

»Das sind diese fliegenden Kakerlaken, die sie hier auf Hawaii haben. Sie haben Flügel.«

»Lass uns reingehen.«

Als der Wind nachließ, gewann Danny die Kontrolle über sein Flugzeug zurück. Er überflog die Kalakaua Avenue, wo er auf die Menschenmassen hinunterschaute, die dort einen netten Abend verbringen wollten. Er bemerkte, dass er nicht mehr seitlich abgetrieben wurde. Er kam jetzt wieder gut voran. Er drehte in Richtung Nordosten ab, flog am Waikiki Beach entlang und direkt auf den Diamond Head zu.

Als er im Mondlicht gerade nach der berühmten Formation auf dem Kraterrand Ausschau hielt, sah er ein blinkendes Licht. An, aus, Dunkelheit. An, aus. Das war der Leuchtturm.

»Ich bin gerettet!«

Er nahm die Geschwindigkeit etwas zurück und begnügte sich mit der VOLLEN REISEGESCHWINDIGKEIT. Was für eine Katastrophe, wenn die Batterie ausgerechnet jetzt ihren Geist aufgeben würde. Langsam hatte er den Bogen raus. Alles eine Frage der Technik.

Er gewann etwas an Höhe. Er wollte einen großzügigen Abstand zu den Gebäuden unter ihm halten. Wirklich seltsam, wie schnell sich das Leben ändern konnte. In einem Moment hielt man sich für verloren und tot, und im nächsten war man auf dem Weg zum besten Krankenhaus der Gegend und bewunderte den Waikiki Beach im Mondschein. Das Leben war richtig gut, dachte Danny.

Etwas tauchte vor ihm aus der Dunkelheit auf. Blitzartig sah er zwei Flügel. Er riss den Steuerknüppel in die andere Richtung und kam gerade so an diesem Ding vorbei.

»Blöder Nachtfalter! Pass auf, wo du hinfliegst.« Das war knapp gewesen. »Absolut kein Hirn«, murmelte er. Ein Zusammenstoß mit einer Motte könnte ihn ins Meer werfen, und er konnte die Brecher unter ihm sehr gut erkennen.

Plötzlich drangen seltsame Geräusche an sein Ohr. Eine Art nachhallendes Wisch-wing … Da war es schon wieder … Wisch-wing. Wumm … Wuuiemm… iii…iii… Was war das? Irgendetwas machte verrückte Geräusche in der Dunkelheit. Dann begann ein seltsames Trommeln: Pom-pom-pompompom. Er sah noch einen Nachtfalter und bemerkte, dass das Trommelgeräusch von ihm stammte … und dann war der Falter plötzlich verschwunden.

Etwas hatte die Motte vom Himmel gepflückt.

»Oh, Scheiße«, fluchte Danny.

Fledermäuse.

Sie orteten die Nachtfalter mit ihrem Sonar. Das war bestimmt mehr als eine einzige Fledermaus. Er war mitten in einen Fledermausausflug geraten. Das war gar nicht gut.

Er drückte den Gashebel nach vorn bis zum NOTFALL-MAXIMUM.

Er konnte in der Dunkelheit die Sonarimpulse hören, links, rechts, oben, unten, ganz nahe, weiter entfernt … aber er konnte die Fledermäuse nicht sehen. Das war das Schlimmste. Oben, unten und auf allen Seiten bewegten sich die Raubtiere dreidimensional um ihn herum. Er kam sich vor, als würde er um Mitternacht von hungrigen Haien umzingelt Wasser treten müssen. Er konnte überhaupt nichts sehen, aber er konnte ihnen beim Beutemachen zuhören. Wuu…wuum…wuuum…iii…iii…iii/ii/i… Wieder war ein Beutetier erlegt worden.

Und dann sah er es. Eine Fledermaus tötete direkt vor ihm einen Nachtfalter. Er konnte ganz kurz ihre spitzige Gestalt erkennen, als sie an ihm vorbeisauste und dabei solche Turbulenzen verursachte, dass das Flugzeug erzitterte und fast aus der Bahn geriet. Gott! Sie war viel größer, als er es sich vorgestellt hatte.

Er musste unbedingt runter. Nur landen, irgendwo, wenn’s sein muss, auf einem Hoteldach. Er ging in den Sturzflug über und raste mit Vollgas auf der Suche nach dem nächsten Hotel direkt nach unten … aber er flog auf den Strand zu … oh Scheiße! … er war zu weit vom nächsten Gebäude entfernt und zu nah am Wasser …

Die Fledermaustöne wurden lauter. Dann fuhr der Sonarstrahl voll über ihn hinweg und verschwand wieder. Eine kleine Pause … dann erfasste ihn der Strahl mit voller Kraft und ließ seine Brust erzittern – WUUM… IIP…IIP…III-III-III… Die Fledermaus machte sich mit einem Ultraschallstrahl ein Bild von ihm. Die Pings wurden kürzer und konzentrierter. Ein wahres Geräuschchaos hüllte ihn ein.

»Ich bin kein Falter!«, schrie er. Er drückte den Steuerknüppel hart nach links und ließ das Flugzeug steil nach unten abkippen. Mit seiner gesunden Hand klopfte er auf die Außenseite seines Cockpits, um das Abwehrtrommeln eines Nachtfalters zu imitieren. Vielleicht könnte er das Radar der Fledermaus stören …

Zu spät wurde ihm klar, dass dieses Klopfen der Fledermaus seinen genauen Standort mitteilte …

Plötzlich erblickte er braunes Fell mit silbern glänzenden Deckhaaren, ein Paar Flügel von ungeheurer Spannweite, die den Mond verdeckten, und ein weit geöffnetes Maul mit Reißzähnen, die riesigen Meißeln glichen …

Das Mikroflugzeug stürzte mit zerbrochenen Flügeln und leerem Cockpit in weiten Spiralen nach unten und landete im Schaumteppich in der Nähe des Strands, wo es auf Nimmerwiedersehen verschwand.

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