Kapitel 49 KALIKIMAKI-INDUSTRIEGELÄNDE

1. NOVEMBER, 3:40 UHR

Drake hatte im Dunkeln auf einem Stuhl hinter einem Computerregal gesessen. Er trug einen Ohrstöpsel und hielt in der rechten Hand eine Pistole. Eine belgische halb automatische FN-Pistole, an deren Abzugsbügel eine kleine Lampe angebracht war. Die Lampe bewegte sich jetzt hin und her. In seiner Linken hielt er eine Robotersteuerung. Er trug ein schwarzes Hemd, schwarze Jeans und schlammverkrustete Stiefel. Jetzt ging er in die Mitte des Raums und richtete seine Waffe direkt auf Erics Augen und dann auf seinen Unterarm. Der Lichtstrahl erfasste die beiden Flugzeuge.

»Kuckuck, ich sehe euch!«, lachte Drake.

Die beiden Mikromenschen konnten ihn mit ihren Headsets gut verstehen. Er benutzte den gleichen Spezialsender wie Eric. Rick rief Karen zu: »Los!«

Sie starteten den Flugzeugmotor und ließen sich von Erics Arm fallen, tauchten hinunter und fingen dann ihre Maschinen ab.

Drake schien es egal zu sein, was sie taten. Er stand zur Seite gedreht mit ausgestreckter Waffenhand da und zielte mit der Pistole und dem Lämpchen immer noch zwischen Erics Augen. Mit der anderen Hand hielt er die Robotersteuerung hoch, deren Display jetzt seinen ganzen Unterarm in ein seltsames Licht tauchte. Dann drückte er mit dem Daumen auf einen Knopf und sagte: »Übrigens, deine Fernbedienung funktioniert überhaupt nicht, Eric. Nur meine tut das.«

Rick legte sein Mikroflugzeug in die Kurve und kreiste über Erics Kopf. Er konnte Karen nicht sehen. Er rief sie über Funk: »Bleib in meiner Nähe!«

»Rick – kann Drake uns hören?«

»Natürlich kann ich euch hören«, erklang Drakes Stimme in ihrem Funkgerät. Plötzlich schwang er die Pistole herum, und der Strahl der Ziellampe tanzte über ihre Flugzeuge. Dabei konnten sie seine riesige, höhnisch grinsende Visage deutlich sehen. Einen Augenblick lang glaubte Rick, er würde auf sie schießen, aber dann wurde ihm klar, dass die Kugeln höchstwahrscheinlich ihre Flugzeuge verfehlen würden. Sie waren zu klein und bewegten sich viel zu schnell.

Drake richtete die Waffe weiterhin auf Erics Kopf. Er hielt die Robotersteuerung hoch und drückte eine Taste. »Das hätten wir«, sagte er.

»Was hast du gemacht?«, fragte Eric und blickte nach oben.

Drake schaute sich im ganzen Raum um und lächelte. »Ich habe die Roboter aktiviert.« Er trat einen Schritt nach hinten und wartete.

»Sie werden dich auch angreifen –«, sagte Eric.

»Das glaube ich nicht.« Drake holte aus und schlug Eric den Pistolengriff ins Gesicht. Eric fiel stöhnend auf die Knie.

»Was ist das nur mit euch Jansen-Brüdern? Ihr scheint regelmäßig eine Tracht Prügel zu benötigen«, höhnte Drake und trat Eric in die Rippen. Der schnappte nach Luft, fiel auf alle viere und begann, wegzukriechen.

»Wo willst du denn hin, Eric? Suchst du etwas?«

»Fahr zur Hölle!«

Drake trat ihm mit voller Wucht an die Schläfe. Eric sackte in sich zusammen und krümmte sich. Er schien das Bewusstsein zu verlieren, während das Licht von Drakes Pistolenlampe über ihn tanzte.

Während Drake Eric zusammenschlug, flog Rick auf die Tür zum Generatorraum zu. Er und Karen mussten möglichst bald da rein. Er legte sich in die Kurve und flog ganz nahe an der Tür vorbei. An ihrem oberen Ende bemerkte er einen kleinen, sehr schmalen Lüftungsschlitz. Er war vielleicht gerade groß genug, dass ein Mikroflugzeug durchpasste, aber genau konnte er das nicht sagen. Er flog so dicht an Karen heran, dass sich ihre Tragflächen fast berührten. Er schaltete das Funkgerät ab und rief ihr zu: »Selbst wenn wir schreien, kann er uns nicht hören. Flieg einfach auf die Tür zum Generatorraum zu. Ich glaube, wir kommen da durch.«

Dann flog er eine Kehre, und sie folgte ihm.

Derweil versuchte Eric vergeblich, wieder auf die Füße zu kommen.

»Nun, Eric, da gibt es etwas, was du nicht weißt. Die Roboter ignorieren meinen Körpergeruch. Sie machen Jagd auf alle, nur nicht auf mich.« Er kicherte. »Sie respektieren mich.«

Eric griff sich ins Gesicht. Als er die Hand wieder wegzog, war sie mit Blut gesprenkelt. Auf seiner Stirn hatte sich ein kleiner rasiermesserscharfer Schnitt geöffnet.

»Zu schade, Eric, aber ich glaube, einer hat dich schon gefunden.«

Eric kroch auf Drake zu, der sich ein paar Schritte zurückzog und lächelte. Eric schlug sich jetzt auf die Haare, auf die Ohren und schüttelte sich.

»Versuchst du, die Roboter abzuschütteln, Eric? Fühlst du, wie sie dir übers Gesicht kriechen? Bald werden sie in deiner Blutbahn sein. Keine Angst, es wird nicht wehtun. Du wirst dir nur selbst beim Verbluten zuschauen.«

Rick Hutter war über den Lüftungsschlitz hinaufgestiegen. Jetzt drückte er den Gashebel ganz nach vorn und tauchte zu dem Schlitz hinunter. Seine Flügel stießen ganz leicht an, als er die schmale Öffnung passierte. Karen folgte ihm einen Moment später nach. Auf der anderen Seite, im Generatorraum, musste Rick das Flugzeug erst einmal wieder unter Kontrolle bringen. Dann flog er über das Sechseckmuster auf dem Boden hinweg, bis er das Zentrum der Generatorkammer erreicht hatte. Er suchte sich das Sechseck direkt in der Raummitte heraus und begann, über ihm zu kreisen. Dabei schaute er angestrengt nach unten. Plötzlich konnte er einen kleinen weißen Kreis erkennen, der die Steuerungskontrolle markierte. Er bemerkte, dass Karen direkt neben seinem rechten Flügel flog. »Ich werde neben dem Kreis landen«, rief er zu ihr hinüber, in der Hoffnung, dass seine Stimme den lauten Fahrtwind übertönen würde.

In diesem Moment hörten sie Drakes Stimme in ihren Headsets. »Ich weiß, was ihr versucht«, sagte er. »Ich habe euch in den Generatorraum fliegen sehen. Vielleicht wird es euch interessieren, dass die Roboter da drinnen euch sehen können. Und riechen können sie euch auch.«

Jetzt sahen sie Drakes Riesengesicht durch das Fenster blicken. Seine Augen bewegten sich, während sie ihre Flugbahn verfolgten. Drake hielt wieder einmal seine Robotersteuerung in die Höhe, damit sie sie gut sehen konnten, und drückte auf eine Reihe von Knöpfen. »Und los geht’s!«, sagte er und schaute zur Decke des Generatorraums hinauf.

Karen folgte seinem Blick. Da sah sie sie: glitzernde Punkte, die über die ganze Decke verteilt waren. Die Punkte begannen, sich zu bewegen. Sie fielen wie winzige Regentropfen nach unten. Noch während sie fielen, fächerten sie sich auf und flogen selbstständig. Sie sah, wie einer von ihnen auf Rick aufmerksam wurde und sich an die Verfolgung machte. Als Rick daraufhin in einen Sturzflug überging, stürzte der Roboter ihm nach. Er wurde von einer Propellerturbine angetrieben und hatte einen schlangenartigen Hals, an dessen Ende Messer zu sehen waren. Als er auf seiner Verfolgungsjagd an ihr vorbeisauste, sah sie die Augen. Der Roboter hatte Komplexaugen wie die Insekten, ein autonomes Bildverarbeitungssystem. Zwei Augen bedeuteten, dass er über ein binokulares Sichtfeld, also Tiefenwahrnehmung verfügte, wurde ihr klar.

»Rick!«, rief sie. »Hinter dir!«

Er konnte sie nicht hören. Er war auf dem Weg zum Boden und dem weißen Kreis. Der Roboter kam ihm immer näher. Sie musste ihm diese Maschine vom Hals schaffen. Da sie nicht wusste, was sie tun sollte, ging sie jetzt selbst in den Sturzflug über und jagte dem Roboter und Rick hinterher. Aus den Augenwinkeln sah sie noch mehr fliegende Objekte. Als sie dann über die Schulter schaute, bemerkte sie, dass mindestens ein Dutzend, wenn nicht noch mehr Roboter hinter ihr herflogen. Sie schienen sie und Rick von allen Seiten in die Zange nehmen zu wollen. Einige der glänzenden Roboter flitzten an ihr vorbei, andere schienen kurzzeitig auf der Stelle zu schweben, um sich zu orientieren und danach ihre Jagd wieder aufzunehmen. Anscheinend konnten sie alle Objekte aufspüren, die sich bewegten. »Rick, hinter dir!«, rief sie noch einmal.

Jetzt drehte er sich um und bemerkte seinen Verfolger. Er zog sein Flugzeug sofort nach oben und flog eine enge Kurve, um den Roboter abzuschütteln. Aber der flog mindestens so gut wie er und kam ihm immer näher.

Jetzt beschleunigte Karen und setzte sich direkt hinter Ricks Jäger. Vielleicht konnte sie ihn zum Absturz bringen, wenn sie ihn mit der Nase ihres Flugzeugs rammte. Da ihr Propeller im Heck ihrer Maschine lag, konnte sie die Flugzeugnase als stumpfe Waffe benutzen. Sie fasste den Roboter ins Auge und drückte den Gashebel nach vorn. Kurz vor dem Aufprall kauerte sie sich in ihr Cockpit und zog den Kopf ein. Dann krachte ihr Flugzeug gegen den Roboter.

Es gab ein helles blechernes Geräusch, und ihr Flugzeug und der Roboter wurden in entgegengesetzte Richtungen geschleudert. Tatsächlich hatte der Zusammenstoß weder dem Flugzeug noch dem Roboter geschadet, sie waren einfach nur voneinander abgeprallt und kurzzeitig ins Trudeln geraten. Der Roboter stoppte jetzt mitten in der Luft, wirbelte herum und orientierte sich neu. Dann begann er, Karens Flugzeug zu verfolgen. Nachdem diese ebenfalls die Kontrolle über ihre Maschine wiedererlangt hatte, zog sie sich etwas zurück und beobachtete ihren Gegner. Der Roboter kam jetzt immer schneller auf sie zu und entfaltete dann plötzlich zwei Gliederarme.

Mit den Haftpolstern am Ende seines Arms packte er einen Flügel von Karens Flugzeug und hielt sich daran fest. Sie versuchte, ihn abzuschütteln, indem sie mit dem Steuerknüppel wild hin und her ruderte und die Maschine nach links und rechts abkippen ließ. Der Roboter hatte sie jedoch fest im Griff und wollte einfach nicht loslassen. Jetzt begann er sogar, mit seinen Klingen in ihre Tragfläche hineinzuschneiden.

Er war dabei, ihren Flügel zu zerstören. Zu allem Überfluss waren ihr jetzt noch fünf weitere Roboter auf den Fersen.

Rick drehte um, als er sah, wie sich der Roboter an Karens Flugzeug festklammerte. Sie war jetzt in ernsten Schwierigkeiten. Er flog auf sie zu und fragte sich dabei, was er tun konnte, um ihr Flugzeug aus dem Griff des Roboters zu befreien. Seine Maschine war ja nicht bewaffnet. Keine Gewehre, schon gar keine Bordkanonen, nichts. Aber warte mal – Rourke hatte seine Flugzeuge doch mit Macheten ausgerüstet! Irgendwo musste hier eine sein. Er tastete im Cockpit herum, bis er einen Griff spürte. Dann schoss er mit Höchstgeschwindigkeit auf Karens Flugzeug zu und schwang die Machete wie ein Kavallerist seinen Säbel. »Ajaa!«, rief er aus voller Kehle und schlug beim Vorbeiflug den Schwanenhals des Roboters mittendurch. Die Klingen und der Vorderteil des Halses trudelten zu Boden. Der enthauptete Roboter ließ Karens Flugzeug los und flog völlig desorientiert im Zickzack weiter. Karen gewann die Herrschaft über ihre Maschine zurück.

Inzwischen schwebten jedoch Dutzende von Robotern um sie herum.

Rick flog mitten durch sie hindurch. Dabei klammerte sich einer von ihnen mit seinen Armen an Ricks Flugzeug und schüttelte es hin und her. Gleichzeitig begann er, mit seinen Scherenklingen eine Tragfläche abzuschneiden. Rick schlug mit der Machete in seine Richtung, konnte ihn aber nicht erreichen. Ricks Maschine trudelte nach unten. In diesem Moment erfasste ein anderer Roboter das Flugzeug und stoppte dessen Fall. Beide Roboter schwebten jetzt mitten in der Luft und hielten gemeinsam Ricks Flugzeug fest, als ob sie sich um ihre Beute streiten würden, während sie sie auseinanderschnitten.

Rick packte die Machete und sprang aus seiner Maschine ab. Während er langsam zu Boden segelte, drehte er sich auf den Rücken und konnte direkt über ihm Karens Flugzeug sehen. Roboter klammerten sich daran fest. Einer zerschredderte gerade dessen Propeller, während der andere die Seite des Flugzeugs aufriss. In diesem Moment landete Rick mit dem Rücken nach unten auf dem Boden. Er war völlig unverletzt und hielt immer noch seine Machete in der Hand.

Er stand auf. Von hier unten aus erschien der Generatorraum enorm groß. Er hatte keine Ahnung, wo genau diese Mikrosteuerung war. Nirgends konnte er den weißen Kreis erkennen. Der von unten beleuchtete Kunststoffboden war von golfballgroßen Staubkörnern übersät. Er schaute nach oben und fragte sich, was wohl mit Karens Flugzeug geschehen war. Er konnte es nirgends sehen. Der Boden war eine einzige Schmutzfläche.

Er hörte ein Geräusch, dass wie »Uff!« klang. Karen King war gefühlte dreißig Meter entfernt wie eine Katze auf beiden Füßen gelandet. Auch sie hatte beschlossen, aus ihrer Maschine auszusteigen. Sie hielt ihre Machete in der Hand und schaute zu den Robotern hinauf. Etwa ein Dutzend von ihnen zerlegten gerade hoch über ihren Köpfen ihre Flugzeuge in kleine Stücke. Deren Trümmerteile regneten auf sie herab. Im Moment schienen die Roboter noch vollauf mit diesem Flugzeugschlachtfest beschäftigt zu sein und sich um die beiden Menschen nicht zu kümmern.

»Da drüben!«, rief Karen und deutete mit ihrer Machete in eine ganz bestimmte Richtung.

Jetzt konnte auch er den weißen Ring erkennen. Er war erstaunt, wie weit entfernt er noch war. Sie rannten, so schnell es ging, zum Ring hinüber, ein regelrechter Hindernislauf, bei dem sie ständig über Trümmerteile und Schmutzpartikel springen mussten. Rick stolperte schließlich beim Sprung über ein menschliches Haar und fiel der Länge nach zu Boden.

Er rappelte sich wieder hoch, hatte jedoch Karen aus den Augen verloren. »Karen?«, rief er nach ihr.

Hoch über ihm hatten die Roboter die Flugzeuge endgültig zerstückelt. Jetzt flogen sie herum, schwebten manchmal auf der Stelle, um dann wieder loszustürmen und sich quer über den Raum zu verteilen. Sie schienen wieder auf der Suche zu sein. Rick fragte sich, ob die Roboter sie wohl sehen konnten, wenn sie hier auf dem Boden rannten. Immer noch fielen Roboter von den Wänden und der Decke herunter. Inzwischen mussten wenigstens hundert von ihnen auf der Jagd nach Eindringlingen sein. Ob sie wohl miteinander kommunizierten? Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sie finden würden.

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