Kapitel 16 STATION ECHO

29. OKTOBER, 10:40 UHR

Die sieben Forschungsstudenten versammelten sich am Eingang des Zeltes. Über dessen Tür hing ein Schild mit der Aufschrift VERSORGUNGSSTATION ECHO. EIGENTUM VON NANIGEN MICROTECHNOLOGIES. Sie standen immer noch unter Schock, und ihnen drehte sich der Magen um, wenn sie an Kinskys brutalen Tod dachten.

Im Übrigen waren sie äußerst erstaunt, wie schnell sie hatten rennen können. Danny Minot hatte seine Tasselloafers verloren. Die Schuhe waren ihm von den Füßen geflogen, als er einen atemberaubenden Sprint hingelegt hatte, der einem Olympiateilnehmer zur Ehre gereicht hätte. Danny stand jetzt mit schmutzigen nackten Füßen da und schüttelte den Kopf. Außerdem hatten alle gesehen, wie Karen King mit den Ameisen gekämpft hatte, wie sie ihnen ausgewichen war und diesen fantastischen Rückwärtssalto hingelegt hatte.

Allen war klar, dass sie in der Mikrowelt Dinge tun konnten, von denen sie vorher nicht einmal geträumt hätten.

Sie untersuchten die Versorgungsstation in aller Schnelle. Jederzeit konnte eine Beutejagdkolonne der Ameisen auftauchen. Unter dem Zeltdach standen mehrere Kisten auf einem Betonboden. In dessen Mitte war eine runde Stahlluke eingelassen, die mithilfe eines Drehrads zu öffnen war, wie man sie auch an den Schottentüren von U-Booten findet. Peter Jansen drehte das Rad auf und hob die Luke an. Darunter führte eine Leiter in die Dunkelheit hinunter. »Ich schaue mal nach.« Er setzte die Stirnlampe auf und schaltete sie an. Dann stieg er die Leiter hinunter.

An ihrem unteren Ende stand er in einem dunklen Raum. Als er mit der Lampe herumleuchtete, fiel deren Strahl auf Stockbetten und Tische. Dann erblickte er an einer Wand eine Schalttafel. Als er alle Schalter umlegte, ging das Licht an.

Der Raum war ein Betonbunker mit spartanischen Wohnquartieren. An zwei Wänden standen Doppelbetten und in der Raummitte lange Tische mit den wichtigsten Laborutensilien. Ein Essensbereich mit einem Tisch und ein Kochherd. Eine Tür führte zur Stromquelle des Bunkers, die aus zwei Taschenlampenbatterien der Größe D bestand. Sie mussten den Kopf in den Nacken legen, wenn sie zu deren oberem Ende hinaufschauen wollten. Hinter einer weiteren Tür lagen eine Toilette und eine Dusche. In einer Kiste waren Beutel mit gefriergetrockneten Mahlzeiten gelagert. In diesem Bunker war man vor Beutegreifern sicher. Er war eine Art Luftschutzraum in einer gefährlichen biologischen Umgebung.

»Das da draußen ist kein Disneyland«, sagte Peter Jansen, der zusammengesackt an einem Bunkertisch saß und dem seine Erschöpfung deutlich anzumerken war. Er konnte nicht mehr klar denken. Die Bilder von Kinskys Tod spukten in seinem Kopf herum.

Karen King lehnte sich an die Wand. Sie war immer noch von oben bis unten von Insektenblut durchnässt. Das Blut war zähflüssig und hell, mit einem leicht gelblichen Farbstich. Es trocknete allerdings rasch.

Danny Minot hatte sich hinter den Esstisch verkrochen. Er hatte wieder damit begonnen, ständig mit den Fingerspitzen in seinem Gesicht und an seiner Nase herumzufummeln.

Auf dem Labortisch stand ein Computer. »Vielleicht erfahren wir etwas, das wir noch nicht wissen«, sagte Jenny Linn und schaltete ihn ein. Der Computer fuhr zwar hoch, aber dann erschien eine Passwortmaske. Natürlich kannten sie dieses Passwort nicht. Und Jarel Kinsky konnte ihnen nicht mehr helfen.

»Hier sind wir nicht sicher«, sagte Rick Hutter. »Drake könnte jeden Moment auftauchen.«

Amar Singh stimmte ihm zu. »Wir sollten uns mit Essen und Ausrüstung versorgen und sofort von hier abziehen.«

»Ich möchte nicht mehr da raus«, sagte Erika Moll mit bebender Stimme, während sie sich auf ein Feldbett setzte. Warum hatte sie überhaupt die Münchner Universität verlassen? Sie sehnte sich nach der sicheren Welt der europäischen Forschung. Die Amerikaner spielten mit dem Feuer. Wasserstoffbomben, megastarke Laser, Killerdrohnen, Mikromenschen … Die Amerikaner tanzten mit dem Teufel. Sie weckten technologische Dämonen, die sie nicht kontrollieren konnten, schienen aber die Macht zu genießen, die sie ihnen verschafften.

»Wir können nicht hierbleiben«, entgegnete ihr Karen mit sanfter Stimme. Sie konnte sehen, wie verängstigt Erika war. »Der gefährlichste Organismus, mit dem wir es hier zu tun haben, ist kein Insekt. Er ist ein Mensch.«

Das war ein gutes Argument. Peter Jansen schlug vor, sich an den ursprünglichen Plan zu halten: Sie würden zum Parkplatz gehen, versuchen, auf den Nanigen-Lkw zu kommen und dann irgendwie in den Nanigen-Generator zu gelangen. »Wir müssen so bald wie möglich zu unserer gewöhnlichen Größe zurückkehren. Wir haben nicht viel Zeit.«

»Wir wissen doch gar nicht, wie man diesen Generator bedient«, sagte Jenny Linn.

»Kommt Zeit, kommt Rat.«

»Wir haben ein paar gute Gerätschaften, um auf den Lkw zu kommen, einschließlich der Strickleiter, die wir in diesem Rucksack gefunden haben«, sagte Rick. Nachdem er einige Zeit in den Versorgungskisten herumgekramt hatte, zog er zwei weitere Funkheadsets heraus. Das bedeutete, dass sie jetzt über vier Funkgeräte verfügten.

»Uns bleibt nur eines übrig«, murmelte Danny Minot. »Wir müssen um Hilfe rufen.« Er hielt ein Radioheadset empor.

Rick war da ganz anderer Meinung. »Wenn du Nanigen anrufst, wird Drake hierherkommen, um uns zu suchen, und das nicht mit einem Vergrößerungsglas, sondern mit seiner Stiefelsohle.«

Peter schlug vor, dass sie außer im Notfall Funkstille einhalten sollten, falls Drake die Funkfrequenzen abhörte.

»Ich bleibe dabei«, beharrte Danny. »Wir müssen Hilfe anfordern.«

Jenny Linn beteiligte sich nicht an dieser Diskussion. Stattdessen öffnete sie alle Schränke und durchsuchte sie sorgfältig. Sie fand ein Laborjournal und blätterte es durch. Auf den ersten Seiten hatte jemand ein paar handschriftliche Notizen hinterlassen, hauptsächlich Wetterbeobachtungen und die Protokolle von Probensammlungen. Zuerst schienen sie nicht besonders nützlich zu sein, bis sie auf diese Karte stieß.

»Schaut mal, Leute«, sagte Jenny und legte das Laborjournal auf den Tisch.

Auf einer Seite hatte jemand einen groben Plan des Manoa-Tals gezeichnet. Die Skizze zeigte die Standorte von elf Versorgungsstationen, die über die Farnschlucht und den Berg hinauf bis zum Tantalus-Gipfel verteilt waren, wobei die Abstände zwischen ihnen mit zunehmender Entfernung von den Gewächshäusern und dem Parkplatz immer größer wurden. Die Stationen wurden durch die Buchstaben des NATO-Alphabets bezeichnet, von Alpha, Bravo, Charlie bis zu Kilo. Ein Pfeil wies den Weg zur TANTALUS-BASIS – GROSSER FELSEN. Weder Tantalus-Krater noch die Basis waren jedoch auf dem Plan verzeichnet.

So grob und unvollständig die Karte war, so enthielt sie doch wertvolle Informationen. Sie zeigte das gesamte System der Versorgungsstationen. Deren jeweilige Lage wurde durch Merkmale beschrieben, die in ihrer Nähe lagen, wie etwa Bäume, große Steine oder Moospolster, die es möglich machten, die Station zu finden, zumindest wenn es einem gelang, diese Wegweiser zu lokalisieren. Auch in der Nähe des Parkplatzes lag eine Station. Die Station Alpha lag gemäß dieser Karte unter einer Gruppe weißer Ingwerpflanzen.

»Wir könnten uns zur Station Alpha durchschlagen«, schlug Peter Jansen vor. »Vielleicht nicht, um dazubleiben, aber wenigstens könnten wir dort nach mehr Vorräten und Informationen suchen.«

»Warum sollten wir irgendwohin gehen?«, sagte Danny. »Kinsky hatte Recht. Wir müssen mit Vin verhandeln.«

»Wag das ja nicht!«, schrie ihn Rick an.

»Bitte, hört auf damit!«, sagte Amar Singh. Er hasste solche Auseinandersetzungen. Zuerst hatten sich Rick und Karen ständig gestritten, und jetzt gerieten Rick und Danny dauernd aneinander. »Rick, die Menschen ticken unterschiedlich. Du solltest gegenüber Danny mehr Toleranz zeigen …«

»Ach, hör doch auf, Amar. Der Junge wird noch unser aller Tod sein mit seinem dummen –«

Peter Jansen spürte, dass die Situation allmählich außer Kontrolle geriet. Was sie ganz bestimmt vernichten würde, wären ständige Streitigkeiten innerhalb der Gruppe. Sie mussten ein Team werden, dachte Peter, oder sie würden bald sterben. Irgendwie musste er dieser streitsüchtigen, starrköpfigen Gruppe von Intellektuellen verständlich machen, dass ihr Überleben von ihrer Zusammenarbeit abhing. Er stand auf, ging zum Kopf des Tisches hinüber und wartete, bis sich alle wieder beruhigt hatten und allgemeines Schweigen herrschte.

»Habt ihr euch genug gekabbelt?«, begann er. »Jetzt muss ich euch etwas sagen. Wir sind nicht mehr in Cambridge. In der akademischen Welt hat es eurer Karriere genützt, eure Rivalen niederzumachen und jedem zu beweisen, dass ihr klüger seid als alle anderen. In diesem Wald geht’s aber nicht darum, andere zu überflügeln, sondern zu überleben. Wir müssen kooperieren, wenn wir überleben wollen. Und wir werden alles töten müssen, was uns bedroht, oder wir werden selbst getötet werden.«

»Oh, also töten oder getötet werden«, sagte Danny verächtlich. »Eine überholte pseudodarwinsche Philosophie, die aus dem Viktorianischen Zeitalter stammt.«

»Danny, wir müssen alles tun, was unser Überleben gewährleistet. Denk einmal darüber nach, was es mit uns Menschen auf sich hat. Vor einer Million Jahren überlebten unsere Vorfahren in den Ebenen Afrikas, indem sie als Teams operierten. Gruppen, die auf Gedeih und Verderb zusammenhielten. Vor einer Million Jahren standen wir noch nicht an der Spitze der Nahrungskette. Alle möglichen Tiere machten auf uns Jagd: Löwen, Leoparden, Hyänen, Wildhunde und Krokodile. Wir Menschen hatten es sehr lange mit Fressfeinden zu tun. Wir überlebten aufgrund unseres Gehirns, unserer Waffen und unserer Kooperation – unserer Teamarbeit. Ich glaube, dass wir für diese Reise hier geschaffen sind. Betrachten wir das Ganze als die Chance unseres Lebens, unglaubliche Dinge in einer Natur zu sehen, die noch keiner vor uns gesehen hat. Aber für welche Vorgehensweise wir uns auch immer entscheiden, wir werden zusammenarbeiten müssen, oder wir werden sterben. Wir sind nur so stark wie das schwächste Mitglied unseres Teams.« Peter beendete seinen Vortrag und fragte sich, ob er etwa zu weit gegangen war und ob er für diese Forschungsstudenten zu moralisierend geklungen hatte.

Eine Zeit lang herrschte Schweigen, während alle Peters Rede verdauten.

Danny Minot sprach als Erster und schaute dabei Peter an. »Ich nehme an, mit dem ›schwächsten Mitglied‹ meinst du mich.«

»Das habe ich nicht gesagt, Danny –«

»Entschuldige, Peter, aber ich bin kein schlafflippiger Hominide mit Überaugenwülsten, der in seiner stark behaarten Faust einen Steinbrocken hält und damit freudig und vergnügt Leoparden den Schädel einschlägt. Tatsächlich bin ich ein gebildeter Mensch, der an eine städtische Umgebung gewöhnt ist. Aber da draußen liegt nicht der Harvard Square. Da draußen liegt eine grüne Hölle, in der Ameisen so groß wie Pitbulls herumlaufen. Ich werde in diesem Bunker bleiben und auf Hilfe warten.« Er klopfte an die Wand. »Die ist ameisensicher.«

»Niemand wird dir zu Hilfe kommen«, sagte Karen zu Danny.

»Das werden wir sehen.« Er ging weg und setzte sich allein in eine Ecke des Raums.

Amar wandte sich jetzt an alle anderen. »Peter hat recht.« Er schaute Peter an. »Ich bin im Team.« Er lehnte sich zurück und schloss die Augen, als ob er über etwas nachdenken würde.

Jetzt äußerte sich auch Karen: »Ich bin dabei.«

Schließlich stimmte auch Erika Moll zu. »Peter hat recht.«

»Ich denke, wir brauchen einen Anführer«, sagte Jenny Linn. »Ich bin der Meinung, dass das Peter sein sollte.«

»Peter ist wohl der Einzige, der mit jedem in der Gruppe auskommt«, sagte Rick und wandte sich direkt an Peter. »Du bist der Einzige, der uns anführen kann.«

Das wurde sofort durch eine Abstimmung besiegelt, an der Danny jedoch nicht teilnehmen wollte.

Jetzt mussten sie die weiteren Schritte der Gruppe planen.

»Zuerst müssen wir was essen. Ich habe tierischen Hunger«, sagte Rick.

Tatsächlich waren sie alle hungrig wie ein Wolf. Sie waren die ganze Nacht auf gewesen, ohne etwas zu essen. Dazu kam dann noch die wilde Flucht vor den Ameisen.

»Wir müssen eine Menge Kalorien verbrannt haben«, sagte Peter.

»Ich war noch nie in meinem ganzen Leben so hungrig«, sagte Erika Moll.

»Unsere Körper sind winzig. Wir verbrennen wahrscheinlich die Kalorien viel schneller als früher. Wie ein Kolibri, wisst ihr?«

Sie holten die Fertiggerichtpackungen heraus, rissen sie auf und verschlangen deren Inhalt mit Heißhunger. Es war nicht viel, und nach ein paar Augenblicken war alles verschwunden. Sie fanden dann noch einen riesigen Block Schokolade, den Karen mit ihrem Messer in sieben gleich große Stücke aufteilte. Auch die gesamte Schokolade war nach kurzer Zeit aufgegessen.

Als sie den Bunker nach etwas absuchten, das ihnen auf dem Marsch zum Parkplatz nützlich sein konnte, fanden sie unter dem Laborzubehör einige Plastikflaschen und -gefäße mit Schraubverschlüssen, die sie auf dem Tisch stapelten. Die Flaschen konnten sie als Wasserbehälter benutzen oder um chemische Verbindungen aufzubewahren, falls sie sich unterwegs welche beschaffen konnten. »Wir werden chemische Waffen brauchen, wie sie die Insekten und Pflanzen besitzen«, sagte Jenny Linn.

»Ja, und ich brauche ein Gefäß, in das ich mein Curare tun kann«, ergänzte Rick.

»Curare«, sagte Karen. »Genau.«

»Ein wirklich fieses Zeug«, sagte Rick.

»Wenn man weiß, wie man es herstellt.«

»Das weiß ich sehr wohl«, sagte Rick beleidigt.

»Wer hat dir das beigebracht? Ein Jäger?«

»Ich habe wissenschaftliche Arbeiten gelesen –«

»Wissenschaftliche Arbeiten über Curare.« Karen wandte sich etwas anderem zu, während Rick vor Wut schäumte.

In einer Kiste hatten sie drei Stahlmacheten gefunden. Zu jeder Machete gehörten ein Gürtel und ein Holster. In einer Gürteltasche steckte ein diamantener Messerschärfer. Peter Jansen holte die Klinge heraus und berührte deren Schneide mit dem Daumen. »Wow, die ist aber wirklich scharf.« Er hieb mit der Klinge auf den Rand eines Tisches. Sie drang in das Holz ein wie in einen Weichkäse. Diese Machete war schärfer als ein Skalpell.

»Sie ist so scharf wie ein Mikrotom«, sagte er. »Wir hatten eines in unserem Labor, um Gewebe in kleine Scheiben zu schneiden, wisst ihr noch?«

Peter fuhr mit dem Diamantschärfer über die Schneide der Machete. »Die Schneide ist sehr dünn, deshalb wird sie wahrscheinlich schnell stumpf. Aber wir können sie ja jederzeit schärfen.« Die Macheten würden ihnen helfen, sich einen Weg durch den Dschungel zu bahnen.

Karen King schwang eine der Macheten über dem Kopf. »Gute Balance«, sagte sie. »Eine ordentliche Waffe.«

Rick Hutter war erschreckt einen Schritt zurückgewichen, als Karen die Machete herumwirbelte. »Du könntest jemand den Kopf abhacken«, rief er.

Sie grinste ihn an. »Ich weiß, was ich tue. Bleib du bei deinen Beeren und Blaspfeilen.«

»Hör endlich auf, mich ständig anzumachen«, explodierte Rick. »Was willst du eigentlich von mir?«

Jetzt war es an Peter Jansen, sich einzumischen. Sie hatten sich zwar versprochen, als Team zusammenzuarbeiten, aber das war leichter gesagt als getan. »Bitte – Rick – Karen – wir würden es alle begrüßen, wenn ihr euch nicht ständig streitet. Das ist gefährlich für uns alle.«

Jenny Linn schlug Rick auf die Schulter und sagte: »Karen zeigt damit nur, dass sie Angst hat.«

Das kam zwar bei Karen überhaupt nicht gut an, aber sie sagte trotzdem kein Wort. Jenny hatte nämlich recht. Karen wusste ganz genau, dass diese Macheten einige Raubtiere nicht stoppen konnten. Zum Beispiel Vögel. Sie hatte gegen Rick gestichelt, weil sie Angst hatte. Dass sie ihre Furcht den anderen gezeigt hatte, beschämte sie. Sie kletterte die Leiter hinauf, öffnete den Lukendeckel und ging nach draußen, um sich wieder zu beruhigen. Sie begann die Kisten zu inspizieren, die unter dem Zeltdach standen. In einer fand sie Nahrungspakete, in einer anderen viele Ampullen mit wissenschaftlichen Proben, die wahrscheinlich ein Außenteam zurückgelassen hatte. Unter einer Plane entdeckte sie dann einen Stahlstab, der länger war als sie. An einem Ende hatte er eine Spitze, während das andere Ende verbreitert und abgeflacht war. Einen Moment lang konnte sie sich nicht vorstellen, was das für ein metallenes Ding sein sollte. Plötzlich machte es Klick in ihrem Kopf. Sie kletterte die Leiter hinunter und teilte den anderen mit, was sie gefunden hatte. »Eine Nadel!«, rief sie aufgeregt.

Es war unklar, was die Nadel in diesem Zelt sollte. Vielleicht hatte man mit ihr etwas an den Boden geheftet. Auf jeden Fall bestand sie aus Stahl und konnte in eine gute Waffe verwandelt werden. »Wir könnten sie mit dem Diamantschärfer abschleifen, um sie richtig scharf zu machen«, sagte Karen. »Und wir könnten in die Spitze eine Kerbe reinarbeiten, die als Widerhaken dienen würde. Eine Pfeilspitze mit Widerhaken ist tödlich. Sie dringt in das Beutetier ein und kann dann nicht mehr abgeschüttelt werden. Wie eine Harpune.«

Sie mussten die Nadel oben unter dem Zelt bearbeiten, da sie zu groß war, um sie die Leiter hinunterzubringen. Mit dem Diamantschärfer brachten sie den Stahl in die gewünschte Form. Zuerst sägten sie das abgeflachte obere Nadelende ab. Das machte sie kürzer und verlieh ihr eine bessere Balance, sodass eine einzige Person sie halten und werfen konnte. Abwechselnd feilten sie in die Spitze eine Kerbe als Widerhaken ein. Mit dem Diamantschärfer ließ sich der Stahl wirklich gut bearbeiten. Als sie fertig waren, hob Peter die Harpune auf und wog sie in der Hand. Obwohl sie aus massivem, glänzendem Stahl bestand, konnte er mit ihr umgehen, als ob sie fast überhaupt nichts wiegen würde. Trotzdem war ein Stück Stahl von dieser Größe in der Mikrowelt gerade schwer genug, um einem Insekt ernste Schäden zuzufügen. Dieser Stahl musste nur scharf genug sein und mit der nötigen Wucht geworfen werden.

Danny Minot weigerte sich, bei irgendeiner dieser Arbeiten mitzuhelfen. Er saß mit verschränkten Armen und angezogenen Knien im Bunker auf einem Bett und sah ihnen zu. Peter Jansen tat er schließlich leid. Er ging zu ihm hinüber und sagte ruhig: »Bitte komm mit uns. Du bist hier nicht sicher.«

»Du hast doch selbst gesagt, ich sei der Schwächste hier«, erwiderte Danny.

»Wir brauchen deine Hilfe, Danny.«

»Das wäre Beihilfe zum Selbstmord«, sagte er bitter und blieb auf seinem Bett sitzen.

Rick Hutter machte sich daran, Blasrohrpfeile herzustellen. Er wagte sich einige Schritte aus dem Zelt heraus, um mehrere Grashalme abzuschneiden. Er hatte eine Machete dabei, um sich notfalls gegen Ameisen wehren zu können. Zurück im Bunker, schnitt er einen Halm der Länge nach auf und holte die härteren holzigen Fasern heraus. Das Gras schien so stabil wie Bambus zu sein. Er stellte aus dem Halmmaterial zwei Dutzend Pfeile her. Diese mussten jetzt nur noch gehärtet werden. Er ging zum Herd hinüber und machte eine Herdplatte an. Danach erhitzte und härtete er die Pfeilspitze, indem er sie über die heiße Platte hielt. Als er damit fertig war, riss er eine Matratze auf und holte etwas Füllung heraus.

Er musste eine Art Quaste aus weichem Material am hinteren Ende des Blasrohrpfeils befestigen, sodass der Pfeil vom Atem eines Menschen durch das Rohr hindurchgepustet werden konnte. Um diese Quaste, die die normale Befiederung ersetzen musste, am Pfeilschwanz anbringen zu können, brauchte er einen Faden. »Amar, hast du noch was von dieser Spinnenseide?«

Amar schüttelte den Kopf. »Ich habe alles verbraucht, als wir Peter vor dieser Schlange gerettet haben.«

Kein Problem. Rick stöberte herum und fand eine Seilrolle. Er schnitt ein kurzes Stück ab. Dann löste er das Seilstück mit den Fingern in seine einzelnen Stränge und Fasern auf. Auf diese Weise konnte er einen Haufen starker Fäden herstellen. Er hielt etwas Füllstoff aus der Matratze ans Pfeilende und wickelte einen Faden darum herum. Damit blieb die Quaste fest an ihrem Platz. Jetzt besaß er einen perfekten Blasrohrpfeil mit einer gehärteten Spitze und einer Schwanzquaste als Befiederung. Fehlte nur noch das Gift.

Trotzdem würde es kein Wissenschaftler bei der Annahme belassen, dass dieser Pfeil wirklich funktionierte. Er musste ihn einem Test unterziehen. Ein hohler Grashalm diente ihm als Blasrohr. Rick steckte den Pfeil in das Grasrohr, zielte auf den hölzernen Rand eines Feldbetts und blies. Der Pfeil zischte durch den Raum, traf das Feldbett … und prallte ab.

»Scheiße«, murmelte er. Er wusste jetzt, dass der Pfeil Holz nicht durchdringen konnte. Das bedeutete auch, dass er niemals das Außenskelett eines Insekts durchschlagen würde.

»Test nicht bestanden«, bemerkte Karen.

»Der Pfeil braucht eine Metallspitze«, sagte Rick.

Aber wo sollte er dieses Metall finden?

Besteck! Edelstahlbesteck! Rick holte sich eine stählerne Gabel aus der Küche und bog einen ihrer Zinken nach hinten. Diesen schnitt er dann mit der Schneide eines Diamantschärfers ab und schliff ihn zu einer äußerst scharfen Spitze. Die brachte er dann an einem Graspfeil an, den er wieder auf den Bettrand schoss. Dieses Mal drang er tief in das Holz ein und blieb mit einem ermutigenden »Pock« zitternd darin stecken. »So, das sollte für einen Käfer reichen«, sagte Rick. Nacheinander schnitt er von allen Gabeln im Bunker die Zinken ab und fabrizierte mehr als zwei Dutzend Pfeile und Blasrohre. Um sie trocken zu halten und vor Beschädigungen zu schützen, legte er die Pfeile in eine Plastikbox, die er im Labor gefunden hatte.

Jetzt musste er noch die benötigte Menge Curare herstellen, aber dafür fehlten noch ein paar Inhaltsstoffe. Wie eine feine Sauce benötigte gutes Curare eine Fülle von Zutaten, eine Chemie des Schreckens, sozusagen. Im Moment hatte er nur die eine Frucht des Paternosterbaums, die er oben im Zelt gelagert hatte. Niemand wollte eine solch giftige Beere im Bunker haben. Sie könnte Ausdünstungen von sich geben, die sie alle krank machen würden. Aus demselben Grund konnte er auch auf dem Herd kein Curare kochen. Ihm fehlten sowieso die nötigen Zutaten, und selbst wenn er sie hätte, könnte er alle vergiften, wenn er versuchen würde, Curare in einem geschlossenen Raum wie diesem Bunker herzustellen. Die Dämpfe würden sie wahrscheinlich alle töten.

Er musste sein Curare also im Freien über einem offenen Feuer kochen.

Sie fanden noch einen Feldstecher und zwei weitere Stirnlampen und packten sie in die Campingrucksäcke, die sie im Bunker entdeckt hatten. Amar Singh stieß dann noch auf eine Rolle Klebeband. »Wir werden in diesem Superdschungel auf keinen Fall ohne Klebeband überleben können«, juxte er.

Rick Hutter öffnete eine Kiste und rief: »Eine Goldmine!« Dann holte er eine Laborschürze, Gummihandschuhe und eine Schutzbrille heraus. »Genau das brauche ich, um Curare herzustellen. Ausgezeichnet, ausgezeichnet!« Er stopfte die Sachen in einen Rucksack. Jetzt fehlte ihm nur noch ein Gefäß, in dem er das Gift kochen konnte. In der winzigen Küchenabteilung des Bunkers fand er ganz hinten in einem Regal einen großen Aluminiumtopf. Er band ihn an seine Campingtasche und packte diese auf den Rücken, um ihr Gewicht zu prüfen. Er war überrascht. Obwohl die Tasche riesig aussah, fühlte sie sich ganz leicht an. »Ich bin so stark wie eine Ameise«, lachte er.

Jenny Linn entdeckte in einer Vorratskiste einen alten, abgenutzten Militärkompass, wie ihn die amerikanischen Soldaten im Koreakrieg verwendet hatten. Er konnte ihnen helfen, die festgesetzte Marschrichtung einzuhalten. Keiner konnte jedoch irgendwo in der Station ein GPS-Gerät finden.

»Das hat seinen Grund: Das GPS könnte uns gar nicht anzeigen, wo wir sind«, erklärte Peter. »Ein GPS-Gerät ist auf zehn Meter genau. Bei unserer winzigen Größe würde das einer Genauigkeit von einem Kilometer entsprechen. Mit anderen Worten: Das GPS könnte unsere Position im gegenwärtigen Maßstab nur mit einer Abweichungsmarge von einem Kilometer in jeder Richtung anzeigen. Für Leute unserer Größe ist also ein Kompass viel genauer.«

Nach dem Essen und der ganzen Arbeit überkam sie jetzt alle ein großes Schlafbedürfnis. Peter sah auf die Uhr. Kurz vor Mittag.

»Lasst uns unsere Sachen später fertig packen«, schlug Karen King vor. Sie hatten zwar in der Nacht zuvor keine Sekunde geschlafen, waren es aber gewohnt, im Labor auch mal eine ganze Nacht durchzuarbeiten. Gerade Karen war auf ihre Ausdauer stolz. Jetzt jedoch fielen ihr ständig die Augen zu. Warum bin ich nur plötzlich so müde?, fragte sie sich. Vielleicht hatte es etwas mit ihren kleinen Körpern und den vielen Kalorien, die sie verbrannten, zu tun … aber sie konnte sich auf keinen Gedanken mehr konzentrieren … Sie kroch auf ein Feldbett, wo sie sofort einschlief. Sie alle schliefen jetzt tief und fest.

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