Kapitel 8 KALIKIMAKI-INDUSTRIEGELÄNDE

28. OKTOBER, 18:00 UHR

Auf dem Weg zum Nanigen-Hauptquartier durfte Karen King das Bentley-Cabrio steuern, in das sich sämtliche Studenten mit einiger Mühe hineingezwängt hatten, während Alyson Bender und Vin Drake den Sportwagen benutzten. Sie waren noch nicht weit gekommen, als sich Danny Minot, der ja gerade seinen Doktor in Wissenschaftsforschung machte, plötzlich räusperte. Es war klar, dass er zu einem seiner gefürchteten Vorträge ansetzen wollte. Dabei musste er jetzt sogar den Fahrtwind übertönen. »Ich glaube, dass Drakes Aussagen über giftige Pflanzen strittig sind.«

»Strittig« war eine von Minots Lieblingsvokabeln.

»Tatsächlich? Und wieso?«, fragte Amar, der von allen Minot wohl am wenigsten leiden konnte.

»Nun, ›Gift‹ ist semantisch ja ein ziemlich unklarer Begriff«, fuhr Minot fort. »Wir bezeichnen jeden Stoff als Gift, der uns schadet. Oder von dem wir denken, dass er uns schadet. In Wirklichkeit ist er vielleicht gar nicht so schädlich. Immerhin wurde Strychnin noch im 19. Jahrhundert als anerkannte Medizin verabreicht. Es galt damals als Stärkungsmittel. Auch heute noch wird es bei akuter Alkoholvergiftung angewandt, glaube ich. Außerdem würde sich der Baum wohl kaum die Mühe machen, Strychnin zu produzieren, wenn dieser Stoff keinen Zweck für ihn erfüllen würde, wobei es wahrscheinlich um Selbstverteidigung geht. Auch andere Pflanzen wie etwa der Nachtschatten stellen ja Strychnin her. Es muss also zu etwas gut sein.«

»Ja«, sagte Jenny Linn, »und zwar nicht gefressen zu werden.«

»Das ist die Sicht der Pflanze.«

»Unsere auch, denn wir essen sie ja auch nicht.«

»Von uns Menschen mal abgesehen«, sagte Amar zu Minot, »willst du wirklich behaupten, dass Strychnin nicht schädlich ist? Dass es also nicht wirklich ein Gift ist?«

»Genau das. Es ist eben ein fließender Begriff. Man könnte ihn sogar als nicht determiniert bezeichnen. Der Begriff ›Gift‹ bezieht sich also überhaupt nicht auf etwas Feststehendes oder Spezifisches.«

Im ganzen Auto herrschte jetzt allgemeines Stöhnen.

»Könnten wir bitte das Thema wechseln?«, sagte Erika.

»Ich habe nur gesagt, dass die Vorstellung von dem, was man als Gift bezeichnet, strittig ist.«

»Danny, bei dir ist immer alles ›strittig‹.«

»Im Wesentlichen stimmt das sogar«, sagte er und nickte feierlich. »Ich teile eben nicht die wissenschaftliche Weltsicht von feststehenden, unveränderlichen Wahrheiten.«

»Das tun wir doch auch nicht«, sagte Erika. »Aber einige Dinge sind eben wiederholt verifizierbar und rechtfertigen deshalb unseren Glauben an sie.«

»Wäre es nicht schön, wenn es so wäre? Aber das ist nur eine selbstwertdienliche Einbildung, die die meisten Wissenschaftler über sich haben. In Wahrheit sind das alles Machtstrukturen«, dozierte Minot weiter. »Und du weißt das auch. Wer immer in einer Gesellschaft die Macht hat, bestimmt, was untersucht werden kann, legt fest, was beobachtet werden kann, und legt fest, was gedacht werden kann. Die Wissenschaftler passen sich einfach den herrschenden Machtstrukturen an. Das müssen sie auch, denn die Machtstrukturen zahlen die Rechnung. Wenn du dich den Machtstrukturen widersetzt, kriegst du keine Forschungsgelder mehr, bekommst du keinen guten Posten, wirst du nicht mehr publiziert. Kurz: Du zählst überhaupt nichts mehr. Du bist erledigt. Du könntest genauso gut tot sein.«

Im Wagen herrschte allgemeines Schweigen.

»Ihr wisst, dass ich recht habe«, sagte Minot. »Ihr wollt es nur nicht zugeben.«

»Apropos sich den Machtstrukturen anpassen«, sagte Rick Hutter, »schaut mal da rüber. Ich glaube, wir kommen gleich im Kalikimaki Industrial Park und am Nanigen-Hauptquartier an.«

Als sie aus dem Wagen kletterte, nahm Jenny Linn ein kleines, voll isoliertes Gore-Tex-Kästchen, das gerade einmal die Größe ihrer Hand hatte, und befestigte es sorgfältig am Gürtel. Als Karen King das bemerkte, fragte sie: »Was ist das denn, etwa Anschauungsmaterial?«

»Ja«, bestätigte Jenny. »Wenn sie uns wirklich Jobs anbieten sollten, dachte ich mir, nun …« Sie zuckte die Achseln. »Da drin sind alle meine extrahierten und gereinigten flüchtigen Verbindungen. Und was hast du mitgebracht?«

»Benzo, Baby«, antwortete Karen. »Benzochinon in einer Sprühdose. Es verursacht Blasen auf der Haut und brennt in den Augen. Es mag von Käfern stammen, aber es ist das ideale Selbstverteidigungsmittel. Sicher, kurzfristig wirksam und organisch. Es würde sich bestimmt gut verkaufen.«

»Natürlich musstest du ein kommerziell nutzbares Produkt mitbringen«, sagte Rick Hutter zu Karen.

»Ich habe eben nicht deine Skrupel, Rick«, wehrte sich Karen. »Und außerdem – du willst uns doch nicht wirklich erzählen, dass du nichts mitgebracht hast?«

»Habe ich nicht.«

»Lügner.«

»Na ja, okay, ich geb’s zu.« Er klopfte auf seine Hemdtasche. »Ich habe einen Latex-Extrakt von meinem Baum dabei. Wenn man ihn aufträgt, tötet er alle verborgenen Parasiten unter deiner Haut.«

»Das hört sich für mich wie ein wirtschaftlich nutzbares Produkt an«, sagte Karen, während sie den Bentley um eine Haarnadelkurve herumsteuerte. »Vielleicht verdienst du damit eine Milliarde Dollar, Rick.« Sie ließ für einen Augenblick die Straße aus dem Auge und schenkte ihm ein kurzes, boshaftes Lächeln.

»Nein, nein, ich möchte nur die zugrunde liegenden biologischen Mechanismen untersuchen –«

»Erzähl das den Kapitalanlegern.« Karen schaute Peter an, der auf dem Vordersitz neben ihr saß. »Und was ist mir dir? Du hast gerade den Kopf ziemlich voll. Hast du trotzdem etwas mitgebracht?«

»Das habe ich tatsächlich«, sagte Peter.

Als er die CD in seiner Jackentasche betastete, fühlte Peter Jansen, wie ihm ein nervöser Schauder durch den ganzen Körper fuhr. Kurz bevor er das Nanigen-Gebäude betrat, wurde ihm klar, dass sein Plan nicht voll durchdacht war. Irgendwie musste er Bender und Drake dazu bringen, vor der ganzen Gruppe ein Geständnis abzulegen. Wenn er ihnen allen Jorges Aufnahme des Telefongesprächs zwischen Alyson Bender und Vin Drake vorspielte, würde das genau diesen Effekt haben, hoffte er. Und wenn alle Studenten ein solches Geständnis hörten, konnte Drake auch nichts mehr gegen ihn unternehmen. Sie waren immerhin zu siebt. Er konnte sie nicht alle auf einmal attackieren.

Zumindest war das seine Idee.

Gedankenverloren hielt er sich inmitten der Gruppe, als diese, geführt von Alyson Bender, das Firmengebäude betrat. »Hier entlang, bitte, und meine Damen und Herren …« Sie gelangten in den mit eleganten Ledermöbeln eingerichteten Empfangsbereich. »Ich möchte, dass Sie mir jetzt alle Ihre Handys, Kameras und sonstigen Aufnahmegeräte geben, die Sie dabeihaben. Wir werden sie hier aufbewahren. Sie bekommen sie zurück, wenn Sie das Gebäude verlassen. Und bitte unterzeichnen Sie auch die Geheimhaltungsvereinbarung.«

Sie teilte die entsprechenden Dokumente aus. Peter unterzeichnete sie geistesabwesend. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sie vorher durchzulesen. »Wer das nicht unterzeichnen möchte, kann hier warten, bis die Führung vorbei ist. Nein? Jeder will daran teilnehmen? Also gut. Folgen Sie mir bitte.«

Sie führte sie einen Gang hinunter zu einer Reihe von Biologielaboren, wo Vin Drake bereits auf sie wartete. Auf beiden Seiten des Gangs befanden sich rundum verglaste Labore, die auf den ersten Blick offenbarten, dass sie nach dem letzten Stand der Technik eingerichtet waren. Peter bemerkte, dass einige von ihnen eine erstaunliche Menge von elektronischen Geräten enthielten und fast wie ein Techniklabor wirkten. Da der Arbeitstag bereits seinem Ende entgegenging, war es im Nanigen-Gebäude ziemlich still. Die meisten Labore waren leer. Nur ein paar Wissenschaftler wollten offensichtlich noch ihre täglichen Untersuchungsreihen abschließen.

Während sie den Gang entlanggingen, rief ihnen Vin Drake immer wieder kurz zu, womit sich das entsprechende Labor beschäftigte: »Proteomik und Genomik … chemische Ökologie … Phytopathologie einschließlich der Untersuchung von Pflanzenviren … stochastische Biologie … elektrische Signalübertragung bei Pflanzen … Insekten-Ultraschalllabor … Phytoneurologie, da geht es um die pflanzlichen Neurotransmitter … Peter, das sind die Gifte und Toxine … flüchtige Verbindungen von Spinnen und Käfern … Verhaltensphysiologie, da geht es um exokrine Sekretion und soziale Regulierung, hauptsächlich bei Ameisen …«

»Und wofür braucht man die ganze Elektronik?«, fragte jemand.

»Für die Roboter«, antwortete Drake. »Sie müssen nach jedem Einsatz im Gelände neu programmiert oder repariert werden.« Er machte eine Pause und schaute auf die Gruppe. »Ich sehe einen Haufen erstaunte Gesichter. Ich glaube, wir sollten uns das einmal näher anschauen.«

Sie betraten das nächste, auf der rechten Seite liegende Labor. Es roch ganz schwach nach Erde, verrotteten Pflanzen und ausgetrockneten Blättern. Drake führte sie an einen Tisch, auf dem mehrere, jeweils dreißig Quadratzentimeter große Bodenprobenplatten lagen. Über jeder Probe hing an einem beweglichen Arm eine Videokamera. »Hier sind ein paar Beispiele für das Material, das wir aus dem Regenwald hierherbringen«, sagte er. »Jede Erdprobe wird im Rahmen unterschiedlicher Projekte untersucht. Die Roboter sind im Übrigen noch bei der Arbeit.«

»Wo?«, fragte Erika. »Ich sehe keine –«

Drake justierte das Licht und die Videokamera. Auf den seitlich angebrachten Bildschirmen sahen sie jetzt mehrfach vergrößert auf der Erdprobe einen winzigen weißen Gegenstand. »Wie Sie sehen, ist es eine mikroskopisch kleine Grabungs- und Sammelmaschine«, erklärte Drake. »Und sie hat viel zu tun, denn eine Bodenprobe wie diese enthält eine riesige, eng vernetzte Welt, die dem Menschen noch völlig unbekannt ist. Da gibt es Billionen von Mikroorganismen sowie Zehntausende von Bakterien- und Protozoenarten, von denen fast alle noch nicht katalogisiert sind. In einem Erdhaufen von dieser Größe kann es hauchdünne Pilzhyphen in einer Gesamtlänge von Tausenden von Kilometern geben. Außerdem findet man dort bestimmt eine Million Arthropoden und andere winzige Insekten, die für das bloße Auge unsichtbar sind. Es gibt Dutzende von Erdwürmern ganz unterschiedlicher Größe. Tatsächlich existieren in diesem kleinen Bodenquadrat mehr Kleinlebewesen, als es auf der ganzen Erdoberfläche große Lebewesen gibt. Darüber sollten Sie einmal nachdenken! Wir Menschen leben auf der Oberfläche. Wir glauben, dass dort das Leben sei. Wir denken in solchen Begriffen wie Mensch, Elefant, Hai oder einem Wald mit Bäumen. Aber unsere Vorstellungen sind falsch. Die Wahrheit des Lebens auf unserem Planeten sieht ganz anders aus. Das eigentliche, unsere Erde prägende Leben befindet sich mit all seinem Gewimmel hier unten, auf dieser Ebene, es gräbt sich durch den Boden, pflanzt sich fort und ist unermüdlich aktiv. Und hier werden auch die nächsten großen Entdeckungen gemacht werden.«

Es war eine faszinierende Rede. Drake hatte sie bereits öfter gehalten, und die Zuhörer hatten danach immer beeindruckt geschwiegen. Das galt jedoch nicht für diese Gruppe. Sofort meldete sich nämlich Rick Hutter zu Wort: »Und welchen Entdeckungen widmet sich dieser Roboter da?«

»Er untersucht Nematoden«, antwortete Vin Drake. »Mikroskopisch kleine Fadenwürmer, von denen wir glauben, dass sie wichtige biologische Eigenschaften besitzen. In einer Bodenprobe wie dieser gibt es etwa vier Milliarden Nematoden. Wir wollen jedoch nur diejenigen erfassen, die noch nicht entdeckt worden sind.«

Drake schaute durch eine Glaswand in ein Labor hinein, in dem eine Handvoll Wissenschaftler an großen Maschinenbänken arbeiteten. Es waren ganz offensichtlich hochkomplexe Maschinen. »In diesem Raum findet die eigentliche Untersuchungsarbeit statt«, erklärte Drake. »Wir untersuchen hier mit äußerster Schnelligkeit Tausende von Stoffen und Verbindungen. Wir bedienen uns dabei der Hochgeschwindigkeitsfraktionierung und Massenspektrometrie – das sind die Maschinen, die Sie dort sehen. Dabei haben wir bereits Dutzende von möglichen neuen Arzneimitteln gefunden. Und sie sind alle natürlich. Das Beste, was Mutter Natur zu bieten hat.«

Amar Singh zeigte sich äußerst beeindruckt von dieser Technik. Da gab es allerdings noch einiges, was er nicht verstand. Dazu gehörten vor allem die Roboter. Sie waren wirklich klein. Zu klein, als dass man einen Computer hätte in sie einbauen können, dachte er. »Wie können diese Roboter die Würmer untersuchen und die interessanten herausfischen?«, fragte er deshalb.

»Oh, das macht denen keine Probleme«, antwortete Drake.

»Und wie schaffen sie das?«

»Die Roboter verfügen über die Intelligenz, so etwas zu tun.«

»Aber wie soll das gehen?« Amar deutete auf eine Bodenprobe, auf der ein winziger Roboter fieberhaft im Dreck herumwühlte. »Diese Maschine kann nicht länger als acht oder neun Millimeter sein. Das ist doch nur so groß wie der Nagel meines kleinen Fingers. Sie können doch in einer solch kleinen Hülle nicht die nötige Rechenleistung installieren.«

»Doch, das können wir.«

»Und wie?«

»Gehen wir in den Konferenzraum.«

Hinter Vin Drake glühten vier riesige Flachbildschirme. Sie zeigten Bilder in tiefem Blau und Violett, die ein wenig an Ozeanwellen erinnerten, wie man sie von einem Flugzeug aus sieht. Drake ging vor den Bildschirmen hin und her. Seine Stimme wurde von einem Knopflochmikrofon verstärkt, das er sich an sein Jackett gesteckt hatte. Er deutete auf die violetten Monitore. »Was Sie hier sehen, sind Konvektionsmuster in Magnetfeldern mit einer Stärke von fast sechzig Tesla. Das sind die stärksten Magnetfelder, die bisher von Menschen generiert wurden. Um Ihnen einen Vergleich zu geben: Ein Sechzig-Tesla-Magnetfeld ist zwei Millionen Mal stärker als das Erdmagnetfeld. Diese Felder werden von kryogenen Supraleitern erzeugt, die aus Niob-Legierungen bestehen.«

Er machte eine kleine Pause, um diese Informationen einsinken zu lassen. »Man weiß bereits seit fünfzig Jahren, dass Magnetfelder lebendes Gewebe in vielfältiger Weise beeinflussen. Sie kennen ja alle die Magnetresonanztomografie oder MRT. Sie wissen auch, dass Magnetfelder die Knochenheilung fördern, Parasiten neutralisieren, über eine Beeinflussung der Blutplättchen das Blutbild verändern und so weiter. Dies sind jedoch nur kleinere Effekte, die von schwachen Feldern ausgelöst werden. Eine völlig andere Situation ergibt sich bei extrem hohen Feldstärken, wie wir sie erst seit Kurzem erzeugen können – bis vor Kurzem wusste auch niemand, was unter diesen Bedingungen passieren würde. Wir nennen solche Magnetfelder Tensorfelder, um sie von den gewöhnlichen Magnetfeldern zu unterscheiden. Tensorfelder haben ultrahohe Feldstärken. In einem Tensorfeld können dimensionale Änderungen auch materiell evident werden. Die Materie ändert also ihre Dimensionen.

Es gab jedoch bereits einen Hinweis auf dieses Phänomen, eine heiße Spur, wenn Sie so wollen. Sie kam von einem Forschungsprojekt, das in den 1960er-Jahren von einer Firma namens Nuclear Medical Data durchgeführt wurde, die die Gesundheit von Arbeitern in kerntechnischen Anlagen untersuchte. Die Forscher dieses Unternehmens fanden heraus, dass die Arbeiter im Allgemeinen bei guter Gesundheit waren. Darüber hinaus stellten sie jedoch fest, dass Arbeiter, die starken Magnetfeldern ausgesetzt waren, über einen Zeitraum von zehn Jahren sechs Millimeter kleiner geworden waren. Dieses Ergebnis wurde jedoch für ein statistisches Artefakt gehalten und ignoriert.«

Drake machte erneut eine Pause, um festzustellen, ob die versammelten Studenten verstanden, worauf das alles hinauslief. Allerdings schienen sie noch nichts dergleichen zu vermuten. »Es stellte sich jedoch heraus, dass es gar kein statistisches Artefakt war. Eine französische Untersuchung aus dem Jahr 1970 fand heraus, dass die Körpergröße französischer Arbeiter, die ihre Tätigkeit in starken Magnetfeldern verrichten mussten, um etwa acht Millimeter abgenommen hatte. Aber auch diese Studie erklärte das Ergebnis für unbrauchbar und nannte es ›trivial‹.

Wir wissen jedoch inzwischen, dass es ganz und gar nicht trivial war. Die Forschungsbehörde der US-Armee begann sich für diese Untersuchungen zu interessieren und führte angeblich Testreihen mit kleinen Hunden durch, wobei sie diese in einem Geheimlabor in Huntsville, Alabama, hohen Feldstärken aussetzte. Das waren die stärksten, die man zu dieser Zeit erzeugen konnte. Es gibt keine offiziellen Aufzeichnungen über diese Versuche außer ein paar vergilbten Faxkopien, die einen Pekinesen von der Größe eines Radiergummis erwähnen.«

Plötzlich waren seine Zuhörer hellwach und schauten einander verblüfft an. Einige rutschten aufgeregt auf ihren Stühlen hin und her.

»Anscheinend fiepte der Hund mitleiderregend und starb nach ein paar Stunden, wobei der Verlust eines winzigen Blutstropfens bereits zu seinem Verbluten führte«, fuhr Drake fort. »Im Allgemeinen waren die Ergebnisse jedoch uneindeutig und nicht beweiskräftig. Das Projekt wurde dann auf Anordnung des damaligen Verteidigungsministers Melvin Laird aufgegeben.«

»Warum?«, fragte Erika.

»Er hatte Angst, dass diese Forschungen das Verhältnis zwischen den USA und der Sowjetunion destabilisieren könnten«, erklärte Drake.

»Wieso denn das?«

»Das wird Ihnen gleich klar werden. Der entscheidende Punkt ist, dass wir jetzt extrem hohe magnetische Feldstärken erzeugen können, nämlich diese sogenannten Tensorfelder. Außerdem wissen wir jetzt, dass unter dem Einfluss eines Tensorfelds sowohl organische als auch anorganische Materie so etwas wie einen Phasenwechsel durchmacht. Als Folge davon wird die Materie in diesem Feld blitzschnell um den Faktor zehn hoch minus eins bis zehn hoch minus drei komprimiert. Die Quanteninteraktionen bleiben größtenteils symmetrisch und invariant, sie ändern sich also nicht, sodass die geschrumpfte Materie auf ganz normale Weise mit regulärer Materie interagiert – zumindest meistens. Diese Transformation ist metastabil und unter umgekehrten Feldbedingungen reversibel. Haben Sie das so weit verstanden?«

Die Studenten hatten zwar aufmerksam zugehört, aber ihre Gesichter zeigten ganz unterschiedliche Reaktionen: Skepsis, völlige Ungläubigkeit, Faszination, bei einigen sogar starke Verwirrung. Drake sprach eben über Quantenphysik und nicht über Biologie.

Rick verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. »Also worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«, sagte er ziemlich laut.

Drake antwortete ihm ruhig und gelassen: »Gut, dass Sie gefragt haben, Mr. Hutter. Sie sollten sich das jetzt selbst ansehen.«

Die riesigen Bildschirme hinter Drake wurden dunkel. Kurz darauf begann auf dem mittleren Monitor ein HD-Video zu laufen.

Es zeigte ein Ei.

Das Ei lag auf einer flachen schwarzen Oberfläche. Hinter dem Ei sah man etwas, das wie ein gelber gefalteter Vorhang aussah.

Das Ei bewegte sich. Offensichtlich hatte der Schlüpfvorgang begonnen. Ein kleiner Schnabel durchstieß die Eierschale. Der Sprung wurde immer länger, bis die Spitze des Eis abbrach. Ein kleines Küken kämpfte sich heraus, piepste, stand noch ganz wackelig auf und wedelte mit seinen kleinen Flügelstummeln.

Die Kamera begann zurückzufahren.

Als sich die Szene verbreiterte, kam die Umgebung des Kükens ins Bild. Es stellte sich heraus, dass der seltsame gelbe Hintergrund in Wahrheit der riesige Krallenfuß eines Vogels war. Eindeutig der Fuß eines Huhns. Das Küken wackelte jetzt auf unsicheren Beinchen an diesem monströs großen Hühnerfuß entlang. Als sich die Kamera noch weiter zurückzog, wurde das ganze erwachsene Huhn sichtbar. Es schien riesig zu sein. Beim weiteren Herauszoomen der Kamera wurden das Küken und die Eierschalen zu Staubkörnchen, die zu Füßen des erwachsenen Vogels lagen.

»Das gibt’s doch nicht …«, stammelte Rick. Er konnte seine Augen nicht von dem Bildschirm wenden.

»Das ist die Technik der Firma Nanigen«, sagte Drake.

»Diese Transformation –«, begann Amar.

»Ist mit allen lebenden Organismen möglich. Ja, wir haben dieses Ei in einem Tensorfeld schrumpfen lassen. Der Hühnerfötus in seinem Innern wurde von diesem Dimensionswandel nicht beeinflusst. Das Küken ist ganz normal geschlüpft, wie Sie ja gesehen haben. Das beweist, dass selbst hochkomplexe biologische Systeme in einem Tensorfeld komprimiert werden können und danach noch die normalen Lebensfunktionen aufrechtzuerhalten vermögen.«

»Was sind das eigentlich für winzige Pünktchen auf dem Video?«, fragte Karen.

Tatsächlich waren auf dem Boden unter dem Riesenhuhn kleine Punkte zu sehen, von denen sich einige sogar bewegten.

»Das sind die anderen Küken. Wir haben das ganze Gelege einem Dimensionswandel unterzogen«, erklärte Drake. »Unglücklicherweise sind sie so klein, dass die Mutter bereits einige ihrer Küken zertreten hat, ohne das überhaupt zu merken.«

Ganz kurz herrschte allgemeines Schweigen. Amar äußerte sich als Erster. »Haben Sie das auch mit anderen Organismen gemacht?«

»Natürlich«, antwortete Drake.

»Das heißt … auch mit Menschen?«, hakte Amar nach.

»Ja.«

»Diese kleinen Roboterbagger, die wir im Arboretum gesehen haben«, fuhr Amar fort. »Sie meinten vorhin, dass man sie nicht mit künstlicher Intelligenz ausrüsten müsse.«

»Das müssen wir auch nicht.«

»Weil Sie sie von menschlichen Wesen bedienen lassen.«

»Genau.«

»Menschen, die einen Dimensionswandel durchgemacht haben.«

»Heilige Scheiße«, brach es aus Danny Minot heraus. »Wollen Sie mich verarschen?«

»Nein«, antwortete Drake trocken.

Jemand begann schallend zu lachen. Es war Rick Hutter. »Alles Schwindel«, murmelte er dann. »Der Mann zockt nur irgendwelche Narren ab.«

Auch Karen King konnte das Ganze nicht glauben. »Das ist doch absoluter Quatsch. Das ist völlig ausgeschlossen. Mit Videos kann man doch heutzutage alles machen.«

»Diese Technik gibt es, und sie wird von uns angewandt«, sagte Drake in ruhigem Ton.

Jetzt meldete sich wieder Amar Singh. »Sie behaupten also, dass Sie einen Menschen einem Dimensionswandel im Maßstab von zehn hoch minus drei unterziehen können.«

»Ja.«

»Das bedeutet, dass jemand, der normalerweise eins achtzig groß ist, danach etwas weniger als 0,2 Millimeter groß wäre.«

»Ganz genau«, bestätigte Drake.

»Himmel!«, rief Rick Hutter.

»Und bei zehn hoch minus zwei ist der Mensch ungefähr zwölf Millimeter groß«, erklärte Drake.

»Das würde ich mir gerne einmal in Wirklichkeit anschauen«, sagte Danny Minot.

»Natürlich«, sagte Drake. »Und das werden Sie auch.«

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