30. OKTOBER, 16:30 UHR
Das Ganze ist wirklich seltsam.« Dorothy Girt, die leitende forensische Wissenschaftlerin des Honolulu Police Department, schaute konzentriert durch die Okulare ihres Zeiss-Stereomikroskops. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«
Sie stand auf, und Dan Watanabe setzte sich ans Mikroskop. Sie befanden sich in einem großen offenen Raum voller Labortische mit Prüfgeräten, Monitoren, Mikroskopen und Computern. Er justierte die Okulare und stellte das Mikroskop scharf.
Zuerst sah er … einen kleinen, metallisch schimmernden Gegenstand.
»Wie groß ist der?«, fragte er.
»Einen Millimeter.«
Also etwas größer als ein Mohnsamen. Aber es war eine Maschine. Zumindest sah es so aus.
»Was zum Teufel …?«, sagte er.
»Genau meine Worte.«
»Woher stammt das?«
»Aus Fongs Büro«, erklärte Dorothy Girt. »Die Kriminaltechniker haben das ganze Büro nach Fingerabdrücken abgesucht. Sie fanden diesen Gegenstand auf einem Fingerabdruckband, als sie ein Fenster in der Nähe des Fensterriegels untersuchten.«
Watanabe änderte den Fokus und schaute sich den Gegenstand von oben bis unten genau an. Er war beschädigt. Offensichtlich hatte ihn etwas zerdrückt. Er war mit einer dunklen, teerähnlichen Substanz bedeckt. Das Objekt ähnelte entfernt einem Staubsauger mit einem Gebläse oder Ventilator. Ventilatorflügel in einem runden Gehäuse. Wie eine Flugzeugturbine. Dann hatte es noch einen langen, flexiblen Metallfortsatz, einen Schwanenhals, aus dessen Ende zwei scharfe, flache Metallteile herausragten.
»Das muss aus einem Computer herausgefallen sein«, sagte er schließlich.
Dorothy Girt stand jetzt neben ihm und beugte sich über den Labortisch. Dann richtete sie sich wieder auf. »Ein Computer mit eingebauten Messern?«, sagte sie ruhig.
Er schaute noch einmal hin. Tatsächlich! Was er für zwei flache Metallteile gehalten hatte, die aus einem Schwanenhals herausragten, sah jetzt eher wie zwei Klingen aus. Gekreuzte Dolche am Ende eines beweglichen Metallarms. »Meinen Sie …?, begann er.
»Ich möchte wissen, was Sie meinen, Dan.«
Watanabe drehte am Zoomtrieb. Er vergrößerte die Dolche immer weiter. Sie wurden zu geschmiedeten und polierten Präzisionsinstrumenten. Jede Klinge erinnerte ihn an ein Tantō, ein japanisches Kampfmesser, das die Samurai einst benutzten. An den Klingen klebte eine dunkle, schmutzige Substanz. Dann sah er die Zellen. Getrocknete rote Blutkörperchen. Die Zellen waren vermischt mit Fibrin.
»Da ist Blut drauf«, sagte er.
»Das habe ich auch bemerkt.«
»Wie lang sind eigentlich diese Klingen?«
»Weniger als ein halber Millimeter«, antwortete Girt.
»Dann passt das nicht«, sagte er. »Die Opfer sind an bis zu zwei Zentimeter tiefen Schnittwunden verblutet. Sogar ihre Halsschlagadern wurden durchtrennt. Diese Klingen sind viel zu klein, um damit jemand die Kehle durchzuschneiden. Das wäre, als wollte man einen Wal mit einem Taschenmesser töten. Läuft nicht.«
Die beiden schwiegen einen Moment.
»Außer an Geburtstagen«, sagte Watanabe plötzlich.
»Wie bitte?«
»Wenn man ein Geburtstagsgeschenk einpackt, schneidet man das Papier mit einer …?«
»Schere!«
»Die Klingen funktionieren wie eine Schere«, sagte er. »Sie hätten große, tiefe Wunden in die Opfer schneiden können.«
Er suchte den Gegenstand ganz genau nach irgendwelchen Erkennungszeichen ab – eine Seriennummer, ein aufgedrucktes Wort oder ein Firmenzeichen. Fand aber nichts dergleichen. Wer immer dieses Gerät gebaut hatte, hatte keinerlei Erkennungszeichen hinterlassen, oder er hatte sie sorgfältig entfernt. Wer immer dieses Gerät hergestellt hatte, wollte also, dass es nicht zurückverfolgt werden konnte.
»Sind bei den Obduktionen noch mehr davon aufgetaucht? In den Wunden oder im Blut?«
»Nein«, sagte Girt. »Aber die Gerichtsmediziner hätten sie wahrscheinlich auch gar nicht bemerkt.«
»Was ist mit den Leichen passiert?«
»Fong wurde eingeäschert. Rodriguez wurde begraben. Der unbekannte Asiate liegt immer noch im Kühlraum.«
»Den sollte man sich noch mal anschauen.«
»Wird gemacht.«
Watanabe stand vom Mikroskop auf, steckte die Hände in die Taschen und ging im Labor auf und ab. Er runzelte die Stirn. »Warum wurde dieser Apparat auf einem Fenster gefunden? Wenn er aus einem Körper kam, wie ist er dann zum Fenster gelangt? Und wie ist er überhaupt in diesen Körper gelangt?« Er kehrte zum Mikroskop zurück und studierte noch einmal das ventilatorähnliche Gehäuse. Aber klar doch: Das war ein Propeller! »Meine Güte, dieses Ding konnte fliegen, Dorothy.«
»Das ist jetzt aber reine Spekulation«, sagte Dorothy Girt trocken.
»Es konnte im Blut schwimmen.«
»Möglicherweise.«
»Können Sie die DNS des Blutes bestimmen, das an diesem Gerät klebt?«
Girt verzog den Mund ganz leicht zu einem Lächeln. »Ich kann die DNS aus einem Mückenschiss rausholen.«
»Ich hätte gerne gewusst, ob das Blut auf diesem Gerät mit dem Blut eines der Opfer übereinstimmt.«
»Das wäre interessant«, sagte Dorothy Girt. Ihre sonst so zynischen Augen leuchteten etwas auf.
»Sie stellen kleine Roboter her«, murmelte er.
»Was meinen Sie, Dan?«
Er stand auf. »Gute Arbeit, Dorothy.«
Dorothy Girt gönnte Lieutenant Watanabe ein schwaches Lächeln, das im Grunde überhaupt keines war. Was glaubte dieser Lieutenant eigentlich, was sie in diesem Forensiklabor mit ihrer Zeit anstellte? Alles, was sie hier tat, war gute Arbeit. Mit äußerster Sorgfalt hob sie das winzige Objekt mit einer Pinzette auf und legte es in ein Plastikfläschchen, das kleiner als ihr kleiner Finger war. Dieses schloss sie dann in einem Beweismittelschrank ein. Immerhin könnte es sich um eine Mordwaffe handeln.
Watanabe ging gedankenverloren nach draußen. Nanigen. Kleine Roboter. Jetzt schien es also eine Verbindung zwischen dem Willy-Fong-Schlamassel und Nanigen zu geben.
Höchste Zeit, um einmal mit dem Chef dieser Firma zu reden.
Vin Drake begab sich jetzt selbst ins Kommunikationszentrum. Er schickte die junge Frau hinaus und verschloss die Tür, dann setzte er sich an den 72-Gigahertz-Pinger. Er schaute auf einen Bildschirm, der eine dreidimensionale Geländekarte der nordwestlichen Felshänge des Manoa-Tals zeigte, vom Talgrund bis zu dem alles überragenden Tantalus-Krater sechshundert Meter höher. Im oberen Teil der Tantalus-Felsen, an der Basis des eigentlichen Kraters, bemerkte er einen Kreis mit darübergelegtem Fadenkreuz.
Das war der ungefähre Standpunkt des gestohlenen Hexapod. Er konnte sehen, dass es die Überlebenden inzwischen fast bis zu den unteren Hängen des Tantalus-Kraters geschafft hatten. Wenn sie weiterhin mit dieser Geschwindigkeit aufstiegen, würden sie die Tantalus-Basis vielleicht bereits morgen früh erreichen, falls sie nicht irgendein Raubtier vorher erwischte. Raubtiere konnte er nicht kontrollieren. Aber die Tantalus-Basis, die konnte er kontrollieren.
Drake holte sein verschlüsseltes Firmentelefon heraus und rief Don Makele an. »Der Hexapod ist fast da.«