Kapitel 24 HONOLULU

30. OKTOBER, 11:30 UHR

Lieutenant Dan Watanabe saß in einem Lokal namens Deluxe Plate im Stadtzentrum von Honolulu und hielt ein Stück Spam-Sushi in den Fingern. Dieses besondere Sushi bestand aus einem Kloß aus gebratenem Reis, der zwar, wie es sich gehörte, mit getrocknetem Seetang umwickelt war, in dessen Innerem jedoch ein Stück Spam steckte. Spam war eine Dosenfleischsorte, die in Hawaii sehr beliebt war. Er biss hinein. Der Seetang, der gebratene Reis und das gepökelte Schweinefleisch verbanden sich in seinem Mund zu einem Geschmack, den es so nur in Hawaii gab.

Um es zu genießen, kaute er ganz langsam. Im Zweiten Weltkrieg kamen ganze Schiffsladungen Spam in Hawaii an, um die Truppen zu ernähren. Die amerikanischen Soldaten fochten diesen Krieg mithilfe von Spam aus. Spam und die Atombombe garantierten den amerikanischen Sieg. Zur selben Zeit hatten die Einwohner von Hawaii eine Leidenschaft für dieses Dosenfleisch entwickelt, eine Liebe, die nie vergehen sollte. Dan Watanabe hielt Spam sogar für Gehirnnahrung. Er glaubte, dass er mit seiner Hilfe besser über einen Fall nachdenken konnte.

Im Moment dachte er über den vermissten Technischen Leiter von Nanigen nach. Dieser Manager namens Eric Jansen war offenbar am Makapu’u Point ertrunken, als der Motor seines Bootes ausgesetzt hatte und es daraufhin in der schweren Brandung gekentert war. Allerdings hatte man seine Leiche bisher nicht gefunden. Dann wiederum gab es im Molokai Channel, der Meerenge zwischen dem Makapu’u Point und der Insel Molokai, viele Weiße Haie, die den Leichnam gefressen haben konnten. Der Körper hätte eigentlich in der Nähe von Koko Head angeschwemmt werden müssen, da die vorherrschenden Winde und Strömungen ihn dorthin treiben würden. Stattdessen war er verschwunden. Dann tauchte kurz nach Erics Verschwinden dessen Bruder Peter Jansen in Hawaii auf.

Und dann verschwand auch noch Peter.

Die Honolulu Police hatte einen Anruf des Sicherheitschefs von Nanigen, Donald Makele, erhalten, in dem dieser meldete, dass sieben Forschungsstudenten aus Massachusetts zusammen mit der Finanzchefin von Nanigen namens Alyson F. Bender vermisst würden. Einer dieser Studenten war nun ausgerechnet Peter Jansen. Die Studenten hatten gerade mit Nanigen über ihre Anwerbung gesprochen. Alle acht Personen, einschließlich dieser Ms. Bender, gingen abends aus und kehrten nie mehr zurück.

Die Vermisstenabteilung des Honolulu Police Department hatte Don Makeles Anruf entgegengenommen. Sie hatte einen Bericht verfasst, der dann in das Bulletin der wichtigsten Tagesereignisse aufgenommen wurde, das jeden Morgen durch das ganze Department zirkulierte. Dadurch hatte auch Watanabe davon erfahren. Also gab es jetzt zwei vermisste Nanigen-Manager, Eric Jansen und Alyson Bender. Plus sieben Studenten.

Neun Leute mit Verbindungen zu Nanigen waren einfach so verschwunden.

Natürlich verschwanden immer wieder Menschen in Hawaii, vor allem junge Touristen. Die Brandung konnte sehr gefährlich sein. Oder sie gingen auf eine Sauftour, oder sie dröhnten sich so mit Marihuana voll, dass sie sich nicht einmal mehr an ihren eigenen Namen erinnern konnten. Manche flogen mal schnell nach Kauai und gingen an der Na Pali Coast wandern, ohne jemand davon zu erzählen. Aber neun Leute, die alle etwas mit Nanigen zu tun hatten, aus ganz unterschiedlichen Orten stammten und unterschiedlichen Beschäftigungen nachgingen – und die verschwinden alle?

Nanigen.

Dan Watanabe nahm noch einen Schluck Kaffee und aß den Rest seines Sushi. Er verspürte ein unbehagliches Gefühl, gemischt mit einer gehörigen Portion professioneller Neugier. Er konnte es fast riechen. Der Hauch eines Anfangsverdachts. Und der Geruch eines unaufgedeckten Verbrechens.

»Darf ich noch etwas nachschenken?«, fragte ihn Misty, die Kellnerin, die eine große Kaffeekanne in der Hand hielt.

»Danke, gern.« Es war Kona-Kaffee, der stark genug war, um ihn durch den Nachmittag zu bringen.

»Nachtisch, Dan? Wir haben schönen Haupia-Pie.«

Watanabe tätschelte sich den Bauch. »Du meine Güte! Nein danke, Misty. Der Spam war schon überreichlich.«

Misty legte die Rechnung auf den Tisch, und er schaute aus dem Fenster. Draußen tippelte gerade eine betagte Chinesin vorbei, die einen Korb auf Rollen mit ihrem Tageseinkauf hinter sich herzog, zu dem auch ein in Zeitungspapier eingewickelter Fisch gehörte, von dem nur noch der Schwanz herausschaute. Ein Schatten jagte jetzt die Straße entlang und verdunkelte kurzzeitig die Passanten. Es war eine schnell vorbeiziehende Wolke, die von grellem Sonnenlicht und einem weiteren Wolkenschatten abgelöst wurde. Wie gewöhnlich trieben die Passatwinde Regen und Sonnenschein über Oahu. Regen und Sonne zogen in unendlichem Wechsel über die Insel. Wenn man dann in Richtung der Berge schaute, sah man oft mehrere Regenbögen gleichzeitig.

Er setzte seine Sonnenbrille auf und ging zurück zum Polizeihauptquartier. Er nahm sich Zeit, fuhr sich mit der Zunge über die Zähne und versuchte, ein Stück Spam aus einer Lücke zwischen seinen Backenzähnen herauszupulen. Watanabe hatte eine Entscheidung getroffen.

Er hatte sich entschieden, Ermittlungen in der Nanigen-Sache aufzunehmen.

Allerdings erst einmal im Stillen.

Die Sache war nämlich hochsensibel. Nanigen war ein reiches Unternehmen mit einem prominenten Chef. Die Firma hatte vielleicht auch politische Verbindungen, wer weiß. Um genug Zeit für die Nachforschungen über Nanigen zu haben, würde er die Ermittlungen in einem anderen, recht bizarren Fall zurückfahren müssen. Die drei toten Männer – der Anwalt Willy Fong, der Privatdetektiv Marcos Rodriguez und der nicht identifizierte männliche Asiate. Die Opfer waren aus zahlreichen Schnittwunden verblutet, während sie sich in Wongs von innen abgeschlossenem Büro aufgehalten hatten. Der Willy-Fong-Schlamassel, wie er es gerne nannte, würde warten müssen. Was diesen Fall anging, machte er sowieso keine Fortschritte.

Im Hauptquartier schaute er im Büro seines Chefs Marty Kalama vorbei. »Ich möchte diese Vermisstenfälle bei Nanigen näher untersuchen.«

»Warum, Dan?«, fragte Kalama, lehnte sich zurück und blinzelte schnell.

Watanabe wusste, dass Kalama niemals seine Methoden infrage stellen würde. Er wollte nur seine Absichten und Schlussfolgerungen erfahren. »Erst möchte ich noch etwas warten und schauen, ob die Vermissten nicht doch noch auftauchen«, erklärte Watanabe. »Wenn sie das nicht tun, werde ich eine Einsatzgruppe bilden. Bis dahin werde ich meine eigenen kleinen Ermittlungen anstellen – schön leise.«

»Ist irgendwas Kriminelles im Gang?«

»Bislang keine hinreichenden Verdachtsmomente. Aber irgendwie passt das alles nicht zusammen.«

»Okay«, sagte Kalama. »Raus damit.«

»Peter Jansen. Als ich ihm das Band von seinem ertrinkenden Bruder gezeigt habe, schien er auf dem Video eine Frau zu erkennen, die das alles beobachtet hat. Aber als ich ihn danach frage, druckst er rum und behauptet, er kenne diese Frau nicht. Ich glaube, er hat gelogen. Dann habe ich ein paar meiner Leute zu Nanigen geschickt, um mehr über Eric Jansen, diesen ertrunkenen Manager, zu erfahren. Meine Jungs haben dort den Unternehmenschef, einen gewissen Drake, getroffen. Drake war höflich und zuvorkommend, aber … meine Jungs meinten, der hätte sich wie bei einer Verkehrskontrolle benommen. Ziemlich nervös, obwohl es eigentlich keinen offensichtlichen Grund gab, warum er nervös sein sollte.«

»Vielleicht war Mr., äh –«

»Drake.«

»– Drake noch durcheinander, weil er einen seiner wichtigsten Mitarbeiter verloren hat.«

»Hat mehr wie ein Mann gewirkt, der eine Leiche im Kofferraum hat.«

Martin Kalama blinzelte wieder einmal hinter seiner randlosen Brille. »Dan, bisher habe ich nichts von irgendwelchen Beweisen gehört.«

Watanabe tätschelte seinen Bauch. »Bauchgefühl. Mein Spam spricht mit mir.«

Kalama nickte. »Aber seien Sie vorsichtig!«

»Womit?«

»Sie wissen doch, was Nanigen herstellt, oder?«

Watanabe grinste. Ups. Er hatte noch nichts über Nanigens Geschäfte in Erfahrung gebracht.

»Sie produzieren kleine Roboter«, fuhr Kalama fort. »Richtig kleine.«

»Okay, und?«

»Eine solche Firma hat Verträge mit der Regierung. Das gibt Ärger.«

»Wissen Sie etwas über Nanigen?«, fragte Watanabe seinen Boss.

»Ich bin nur ein Cop. Cops wissen einen Dreck.«

Watanabe grinste. »Ich werde Sie da raushalten.«

»Den Teufel werden Sie«, blaffte Kalama. »Und jetzt raus!« Er nahm seine Brille ab und polierte sie mit einem Kleenex, während er beobachtete, wie Watanabe sein Büro verließ. Dieser Junge war ruhig und klug, einer seiner besten Ermittler. Das waren genau diejenigen, die den meisten Ärger verursachten. Die Sache mit dem Ärger war nur, dass Marty Kalama ganz gerne mal welchen hatte.

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