Kapitel 45 ROURKES FESTUNG

1. NOVEMBER, 1:30 UHR

Karen und Rick hatten sich im Innern des Magneten zusammengerollt und warteten, dass die Nacht endlich zu Ende ging.

»Wir sind jetzt die Letzten«, sagte Karen.

Rick lächelte dünn. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir das beide zusammen durchstehen würden, Karen.«

»Was hast du denn gedacht?«

»Nun, ich dachte, du würdest überleben. Ich nicht«, antwortete er.

»Wie fühlst du dich?«, fragte sie ihn.

»Ausgezeichnet.« Das war eine Lüge. Sein Gesicht war voller Blutergüsse, und seine Gelenke schmerzten entsetzlich.

Als Karen Ricks Blutergüsse betrachtete, fragte sie sich, wie sie selbst wohl aussah. Wahrscheinlich als ob mich jemand überfallen hätte, dachte sie. »Du musst unbedingt in den Generator, Rick.«

Er schaute ihr im Schein des Feuers ins Gesicht. »Du auch.«

»Hör mal, Rick –« Wie sollte sie ihm nur beibringen, wozu sie sich entschlossen hatte? Einfach mit der Tür ins Haus, das war das Beste. »Ich komme nicht mit zurück.«

»Was?«

»Ich glaube, ich packe das schon hier.«

»Was?«

»Ich fliege nicht mit ins Nanigen-Hauptquartier. Ich werde mein Glück hier versuchen.«

Sie saßen, in Decken gewickelt, Schulter an Schulter und schauten in das langsam verglimmende Feuer. Sie spürte, wie sich sein Körper anspannte. Er drehte sich um und sah sie an. »Was redest du da, Karen?«

»Da gibt es nichts, wohin ich zurückkehren möchte, Rick. Ich war so unglücklich in Cambridge. Ich war so unglücklich, dass ich es nicht einmal gemerkt habe. Aber hier – hier bin ich glücklicher, als ich es je in meinem Leben gewesen bin. Es ist gefährlich, aber es ist eine ganz neue Welt. Sie wartet nur darauf, erforscht zu werden.«

Rick spürte, wie sich ihm ein Schmerz in die Brust bohrte. Er konnte nicht sagen, ob es die Tensor-Krankheit oder seine Gefühle waren … »Was zum –? Hast du dich in Ben verliebt, oder was?«

Sie lachte. »Ben? Machst du Witze? Ich liebe überhaupt niemand. Ich muss auch niemanden lieben. Ich kann allein sein und frei. Ich kann die Natur studieren … und Dingen einen Namen geben, die bisher noch keinen hatten –«

»Himmel noch mal, Karen!«

Nach einer kleinen Pause sagte sie: »Schaffst du’s allein zu Nanigen? Ben würde wahrscheinlich mit dir fliegen.«

»Das kannst du doch nicht machen!«

Das Feuer knallte und knisterte. Rick spürte, wie eine riesige Enttäuschung sein Inneres ergriff, als ob sich eine Faust um ihn schließen würde. Er versuchte, das Gefühl zu ignorieren. Er schaute zu ihr hinüber und beobachtete, wie der Feuerschein ihr rabenschwarzes Haar zum Glänzen brachte. Vor allem konnte er seine Augen nicht von dem Schatten eines Blutergusses auf ihrem Hals wenden. Dieser Bluterguss machte ihm Angst. Hatte er den verursacht? Als er sie an der Kehle gepackt hatte? Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er sie verletzt haben könnte … »Karen«, sagte er.

»Ja?«

»Bitte bleib nicht hier. Du könntest hier sterben.«

Sie nahm seine Hand und drückte sie. Und ließ sie wieder los.

»Mach das nicht!«, fuhr er fort.

»Ich lasse es darauf ankommen.«

»Das reicht mir nicht.«

Sie blitzte ihn an. »Das ist meine Entscheidung.«

»Aber mich betrifft sie auch.«

»Inwiefern?«

»Weil ich dich liebe.«

Ihr verschlug es fast den Atem. Sie wandte sich ab, und die Haare fielen ihr übers Gesicht, sodass er ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte. »Rick –«

»Ich kann’s nicht ändern, Karen. Irgendwann in den letzten drei Tagen habe ich mich in dich verliebt. Ich weiß nicht, wie es passiert ist, aber es ist passiert. Als dich dieser Vogel verschluckt hat, dachte ich, du seist tot, Karen. In diesem Augenblick hätte ich mein Leben hergegeben, um dich zu retten. Dabei wusste ich nicht mal, dass ich dich liebe. Und als ich dich dann zurückbekam und du nicht geatmet hast – das hat mir solche Angst gemacht – ich konnte es nicht ertragen, dich zu verlieren.«

»Rick, bitte, nicht jetzt –«

»Also, warum hast du mich eigentlich gerettet?«

»Weil ich es musste«, antwortete sie mit gepresster Stimme.

»Weil du mich liebst«, widersprach er.

»Hör endlich damit auf –«

Er war wohl zu weit gegangen. Wahrscheinlich liebte sie ihn nicht und mochte ihn nicht einmal. Vielleicht sollte er einfach den Mund halten. Aber er konnte nicht. »Ich werde bei dir bleiben. Wir werden die Tensor-Krankheit zusammen bekommen. Wir werden das gemeinsam durchstehen, so wie wir alles andere durchgestanden haben.«

»Rick, ich bin niemand, bei dem man bleiben sollte. Ich bin im Grunde – allein.«

Er legte die Arme um sie und fühlte, wie sie zitterte. Er strich ihre Haare beiseite, fand ihren Wangenknochen mit seinen Fingerspitzen und drehte ihren Kopf ganz sanft zu sich her. »Du bist nicht allein.« Er zog ihren Mund an sich heran und küsste sie – und sie versuchte nicht, ihn daran zu hindern. Und dann küsste sie ihn heftig zurück, umarmte ihn und drückte ihn ganz fest an sich. In diesem Moment spürte er, wie weh es ihm tat, sie zu küssen. Jeder Teil seines Körpers war von einem tiefen, diffusen Schmerz erfüllt, der in seinen Gelenken und Knochen begann und sich dann wie eine verschüttete Flüssigkeit überallhin auszubreiten schien. Waren das innere Blutungen? Auch sie zuckte plötzlich zurück. Er fragte sich, ob sie wohl ähnliche Schmerzen empfand. »Bist du okay?«

Sie stieß ihn weg, ohne zu antworten. »Bleib nicht!«

»Warum? Sag mir einen einzigen Grund!«

»Ich liebe dich nicht. Ich kann niemand lieben.«

»Karen –«

Ihr Gespräch wurde unterbrochen. Die Deckenlichter gingen aus und versetzten den Raum in ein Halbdunkel, das nur durch das letzte Glühen des Herdfeuers etwas erhellt wurde. Fast gleichzeitig drang durch die Tunnel ein eigentümlicher Geruch herein. Es roch wie in einer Tankstelle. Der Gestank wurde immer stärker.

Ben Rourke rannte auf sie zu. »Benzin!«, rief er. »Wir müssen sofort hier raus!«

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