8 Zur Maid mit den sieben Streifen

Mat saß auf einem abgenutzten Hocker und stützte die Arme auf die dunkle Holztheke. Die Luft roch gut – nach Ale, Rauch und dem Lappen, mit dem kürzlich die Theke sauber gewischt worden war. Ihm gefiel das. Da war etwas Beruhigendes an einer guten, lärmenden Schenke, die man sauber hielt. Nun, zumindest so sauber, wie es angebracht war. Niemand mochte eine Schenke, die zu sauber war. Das erweckte bloß den Eindruck, dass der Laden neu war. Wie ein Mantel, der nie zuvor getragen worden war, und eine Pfeife, die man noch nie geraucht hatte.

Zwischen zwei Fingern der rechten Hand hielt er einen zusammengefalteten Brief. Dieser Brief aus dickem Papier war mit einem blutroten Wachssiegel verschlossen. Er besaß ihn erst kurze Zeit, aber er war bereits eine Quelle des Ärgers für ihn. Wie jede Frau. Nun, vielleicht keine Aes Sedai, aber wie die meisten anderen Frauen. Das wollte viel heißen.

Er klopfte den Brief gegen die Theke. Sollte man Verin doch zu Asche verbrennen, weil sie ihm das angetan hatte! Sie hielt ihn durch seinen Eid wie einen Fisch an der Angel.

»Nun, Meister Scharlachrot?«, fragte die Wirtin. Das war der Name, den er im Moment benutzte. Es war besser sicherzugehen. »Wollt Ihr nun noch einen Becher oder nicht?«

Die Wirtin beugte sich vor und verschränkte die Arme. Melli Craeb war eine hübsche Frau mit einem runden Gesicht und anziehenden kastanienbraunen Locken. Normalerweise hätte Mat ihr sein bestes Lächeln geschenkt – ihm war noch keine Frau begegnet, die bei seinem besten Lächeln nicht dahinschmolz -, aber er war jetzt ein verheirateter Mann. Er konnte keine Herzen mehr brechen; das wäre nicht richtig gewesen.

Aber als sie sich vorbeugte, gestattete sie einen Blick auf einen üppigen Busen. Sie war eine kleine Frau, hatte aber den Platz hinter der Theke erhöht. Ja, in der Tat ein hübscher Busen. Es würde bestimmt Spaß machen, sie zu küssen, vielleicht in einer der Nischen im hinteren Teil der Schenke. Natürlich schaute er keine anderen Frauen mehr an, nicht auf diese Weise. Und sie sollte ja auch nicht ihn küssen. Aber vielleicht Talmanes. Er war so steif, ein ordentlicher Kuss und etwas schmusen würden ihm guttun.

»Nun?«, fragte Melli.

»Was würdet Ihr an meiner Stelle tun, Melli?« Vor ihm stand sein leerer Becher; am Rand klebte noch etwas Schaum.

»Noch eine weitere Runde bestellen«, sagte sie sofort. »Für die ganze Schenke. Das wäre wirklich großzügig von Euch. Die Leute mögen großzügige Burschen.«

»Ich meinte den Brief.«

»Ihr verspracht, ihn nicht zu öffnen?«, fragte sie. »Nun, nicht genau. Ich versprach, gesetzt den Fall, dass ich ihn öffnen sollte, würde ich genau das tun, was dort steht.«

»Ihr habt einen Eid geschworen, richtig?« Er nickte.

Sie riss ihm den Brief aus den Fingern, was ihm einen Aufschrei entlockte. Er griff danach, um ihn sich zurückzuholen, aber sie wich zurück und drehte ihn in den Fingern. Er unterdrückte das Verlangen, noch einmal danach zu greifen; er hatte mehr als nur ein paar solcher Spiele gespielt und keineswegs das Verlangen, als Trottel dazustehen. Einer Frau gefiel nichts mehr, als einen Mann sich winden zu lassen, und ließ man das zu, würde sie nur damit weitermachen.

Trotzdem brach ihm der Schweiß aus. »Also, Melli…«

»Ich könnte ihn für Euch öffnen«, sagte sie, lehnte sich gegen die Wand hinter der Theke und betrachtete den Brief. In der Nähe rief ein Mann nach einem weiteren Becher Ale, aber sie winkte nur ab. Der Mann hatte eine rote Nase und sah sowieso so aus, als hätte er bereits genug. Mellis Schenke war so beliebt, dass sie ein halbes Dutzend Mägde hatte, die sich um die Gäste kümmerten. Eine würde schon zu ihm gehen. »Ich könnte ihn öffnen«, fuhr sie fort, »und Euch verraten, was dort steht.«

Verdammte Asche! Wenn sie das machte, würde er tun müssen, was dort stand. Was auch immer verflucht noch mal dort stand! Er musste nur noch ein paar Wochen warten, und er würde frei sein. Das war alles. Das schaffte er. Gar kein Problem.

»Das würde nichts nutzen«, sagte er und setzte sich ruckartig auf, als sie den Daumen in die Falte des Briefes schob, als wollte sie ihn aufreißen. »Ich würde trotzdem tun müssen, was dort steht, Melli. Tut das nicht. Seid vorsichtig!«

Sie lächelte ihn an. Ihre Schenke Zur Maid mit den sieben Streifen war eine der besten im westlichen Teil von Caemlyn. Das Ale hatte einen kräftigen Geschmack, man konnte würfeln, wenn einem der Sinn danach stand, und es war nicht eine Ratte zu sehen. Vermutlich wollten sie keinen Ärger mit Melli haben. Beim Licht, diese Frau konnte einem Mann die Bartstoppeln von den Wangen becircen, ohne sich groß anstrengen zu müssen.

»Ihr habt mir nicht verraten, wer ihn geschrieben hat«, sagte Melli und drehte den Brief um. »Eine Geliebte, richtig? Sie hat Euch eingewickelt?«

Letzteres war durchaus richtig, aber eine Geliebte? Verin? Das war so lächerlich, dass er lachen musste. Verin zu küssen hätte etwa so viel Spaß gemacht, wie einen Löwen zu küssen. Von den beiden hätte er den Löwen gewählt. Bei dem wäre das Risiko geringer gewesen, dass er ihn zu beißen versuchte.

»Ich habe einen Eid geleistet, Melli«, sagte er und bemühte sich, seine Nervosität zu verbergen. »Offnet ihn bloß nicht.«

»Ich habe keinen Eid geleistet«, sagte sie. »Vielleicht lese ich ihn und verrate Euch nicht, was darin steht. Mache nur gelegentlich ein paar Andeutungen, um Euch zu ermutigen.«

Sie musterte ihn, die vollen Lippen zu einem Lächeln verzogen. Ja, sie war wirklich hübsch. Allerdings nicht so hübsch wie Tuon mit ihrer schönen Haut und den großen Augen. Aber Melli war durchaus hübsch, vor allen Dingen ihre Lippen. Als verheirateter Mann durfte er nicht auf diese Lippen starren, aber er schenkte ihr sein schönstes Lächeln. Dieses Mal war das unbedingt nötig, auch wenn es ihr das Herz brechen konnte. Er durfte nicht zulassen, dass sie diesen Brief öffnete.

»Es ist das Gleiche, Melli« sagte er einnehmend. »Wenn Ihr diesen Brief öffnet und ich nicht das tue, was dort steht, dann ist mein Eid so viel wert wie Spülwasser.« Er seufzte, als er erkannte, dass es eine Möglichkeit gab, den Brief zurückzubekommen. »Die Frau, die ihn mir gab, war eine Aes Sedai, Melli. Ihr wollt doch keine Aes Sedai verärgern, oder?«

»Aes Sedai?« Plötzlich sah Melli äußerst interessiert aus. »Ich habe schon oft daran gedacht, nach Tar Valon zu gehen und zu sehen, ob sie mich aufnehmen.« Sie betrachtete den Brief, als wäre sie jetzt noch neugieriger auf den Inhalt.

Beim Licht! Diese Frau war verrückt. Er hatte sie für vernünftig gehalten. Er hätte es besser wissen müssen. Er schwitzte stärker. Kam er an den Brief heran? Sie hielt ihn nahe an den…

Sie legte ihn genau vor ihn auf die Theke. Legte einen Finger darauf, genau auf die Mitte des Siegels. »Wenn Ihr diese Aes Sedai das nächste Mal trefft, stellt Ihr mich ihr vor.«

»Wenn ich sie sehe, solange ich in Caemlyn bin«, sagte er. »Ich verspreche es.«

» Kann ich darauf vertrauen, dass Ihr Euer Wort haltet?«

Er schenkte ihr einen verzweifelten Blick. »Melli, worum ging es bei dieser verdammten Unterhaltung eigentlich?«

Sie lachte, drehte sich um und ließ den Brief auf der Theke liegen, um sich um den Mann zu kümmern, der noch immer nach mehr Ale brüllte. Mat schnappte sich den Brief und steckte ihn vorsichtig in die Manteltasche. Verdammte Frau. Die einzige Möglichkeit, sich aus den Intrigen der Aes Sedai herauszuhalten, bestand darin, ihn nie zu öffnen. Nun ja, sich ganz herauszuhalten war kaum möglich. Mat hatte genug Aes Sedai, die in seiner Umgebung Pläne schmiedeten; eigentlich kamen sie ihm aus den Ohren. Nur ein Mann mit Sägespänen im Hirn würde um eine mehr bitten.

Mat seufzte und rutschte auf seinem Hocker herum. Im Zur Maid mit den sieben Streifen drängte sich ein gemischtes Publikum. Caemlyn war voller als ein Löwenfisch an einem Schiffswrack, es platzte förmlich aus allen Nähten. Das sorgte für ein gutes Geschäft. In der Ecke würfelten Bauern in Arbeitsmänteln mit ausgefransten Kragen. Er hatte mit ihnen zuvor ein paar Runden gespielt und mit dem Gewinn seine Zeche bezahlt, aber er hasste es, um Kupferstücke zu spielen.

Der Mann mit dem kantigen Gesicht in der Ecke trank noch immer – vor ihm mussten mindestens vierzehn Becher stehen. Seine Gefährten trieben ihn lautstark an. Eine Gruppe Adliger saß etwas abseits, und er hätte sie um eine nette Würfelpartie gebeten, aber ihr Gesichtsausdruck hätte Bären verscheuchen können. Vermutlich waren sie auf der falschen Seite des Thronfolgekriegs gewesen.

Mat trug einen schwarzen Mantel mit Spitzenbesatz an den Ärmeln. Nur ein bisschen Spitze – und keine Stickereien. Den Hut mit der breiten Krempe hatte er zögerlich im Lager gelassen, und er hatte die Stoppeln ein paar Tage lang wachsen lassen. Sie juckten, als hätte er Flöhe, und er sah wie ein verdammter Narr aus. Aber das erschwerte es, ihn zu erkennen. Da jeder Schurke in der Stadt ein Bild von ihm hatte, war es besser, ein bisschen vorsichtig zu sein. Er wünschte sich, dieses eine Mal würde ihm ta’veren helfen, aber besser, man verließ sich nicht darauf. Soweit es ihn betraf, hatte ihm ein Ta’veren zu sein nur Ärger eingebracht.

Er hielt das Halstuch niedrig und den Mantel zugeknöpft, der hohe Kragen reichte ihm beinahe bis ans Kinn. Einmal war er bereits gestorben, da war er sich ziemlich sicher, und er hatte es nicht eilig, es noch einmal zu versuchen.

Eine hübsche Schankmagd ging an ihm vorbei, schlank und mit breiten Hüften, das lange schwarze Haar trug sie offen. Er rutschte ein Stück zur Seite und erlaubte seinem leeren Becher, offensichtlich und einsam auszusehen, und sie kam lächelnd heran, um ihn aufzufüllen. Er grinste sie an und gab ihr ein Kupferstück Trinkgeld. Er war ein verheirateter Mann und konnte es sich nicht leisten, sie zu umgarnen, aber er konnte sich für seine Freunde umsehen. Thom würde sie vielleicht gefallen. Zumindest konnte ihn ein Mädchen vielleicht dazu bringen, nicht dauernd Trübsal zu blasen. Er betrachtete das Gesicht des Mädchens eine Weile, um sie auch bestimmt wiederzuerkennen.

Er trank einen Schluck von seinem Ale, berührte mit der Hand den Brief in seiner Tasche. Er spekulierte nicht über den Inhalt. Denn dann würde er nur einen Schritt davor stehen, ihn aufzureißen. In gewisser Weise hatte er Ähnlichkeit mit einer Maus, die eine Falle mit einem Stück schimmeligen Käse anstarrte. Er wollte diesen Käse gar nicht haben. Soweit es ihn anging, konnte er vergammeln.

Vermutlich würde ihn der Brief nur instruieren, etwas Gefährliches zu tun. Und Peinliches. Aes Sedai ließen Männer nur allzu gern wie Narren aussehen. Beim Licht, er hoffte, sie hatte ihm keine Instruktionen hinterlassen, jemandem zu helfen, der in Schwierigkeiten steckte. Aber in diesem Fall hätte sie sich sicher selbst darum gekümmert.

Er seufzte und nahm noch einen Schluck Ale. In der Ecke kippte der Trinker endlich um. Sechzehn Becher. Nicht schlecht. Mat stellte das Ale zur Seite, legte ein paar Münzen für die Zeche auf die Theke, dann nickte er Melli zum Abschied zu. Von einem Burschen in der Ecke sammelte er seinen Wettgewinn für den Trinker ein. Er hatte auf siebzehn Becher gesetzt, was nahe genug dran war, um etwas zu gewinnen. Dann war er auf dem Weg, zog seinen Gehstock aus dem Ständer neben der Tür.

Der Rausschmeißer Berg musterte ihn. Bergs Gesicht war hässlich genug, um selbst seine Mutter zusammenzucken zu lassen. Der Schulterklopfer mochte ihn nicht, und nach der Art und Weise zu urteilen, wie er Melli ansah, nahm er vermutlich an, dass Mat seiner Frau schöne Augen machte. Ganz egal, dass Mat erklärt hatte, dass er verheiratet war und solche Dinge nicht mehr tat. Manche Männer waren eifersüchtig, ganz egal, was man ihnen sagte.

Selbst zu dieser späten Stunde herrschte auf den Straßen von Caemlyn viel Betrieb. Das Kopfsteinpflaster war noch feucht von dem kurzen Regenschauer eben, obwohl diese Wolken weitergezogen waren und den Himmel bemerkenswerterweise offen gelassen hatten. Er ging nach Norden in Richtung einer anderen Schenke, die er kannte, in der man um Silber und Gold spielte. Er verfolgte an diesem Abend kein besonderes Ziel, er schnappte bloß Gerüchte auf und verschaffte sich ein Gefühl für Caemlyn. Seit seinem letzten Besuch hatte sich viel verändert.

Unterwegs konnte er nicht verhindern, immer wieder über die Schulter zu blicken. Diese verdammten Bilder hatten ihn nervös gemacht. Viele der Leute auf den Straßen erschienen verdächtig. Ein paar Murandianer gingen an ihm vorbei und schienen so betrunken zu sein, dass er ihren Atem hätte anzünden können. Er blieb auf Distanz. Nach seinen Erlebnissen in Hinderstab konnte er nicht vorsichtig genug sein. Beim Licht, er hatte Geschichten gehört, nach denen Pflastersteine Menschen angegriffen hatten. Wenn ein Mann nicht einmal den Steinen unter seinen Füßen vertrauen konnte, worauf konnte er dann noch vertrauen?

Schließlich erreichte er die Schenke, ein einladender Schuppen namens Des toten Mannes Atem. Vor der Tür standen zwei Schläger, die Keulen hielten und immer wieder in die gewaltigen Pranken klatschen ließen. Im Augenblick wurden viele zusätzliche Rausschmeißer eingestellt. Er würde darauf achten müssen, nicht zu große Gewinne einzustreichen. Schankwirte mochten keinen Mann, der zu viel gewann, denn das konnte Kämpfe provozieren. Es sei denn, der Mann gab seinen Gewinn für Essen und Trinken aus. Dann konnte er gewinnen, so viel er wollte, vielen Dank auch.

Im Inneren der Schenke war es dunkler als im Zur Maid mit den sieben Streifen. Die Männer beugten sich tief über ihre Becher oder Spiele, und es wurden nicht viele Mahlzeiten serviert. Nur starke Getränke. Die Theke wies Nägel auf, die etwa einen Fingerbreit hoch hervorstanden und einen in den Arm stachen. Mat vermutete, dass sie versuchten, sich selbst zu ziehen und abzuhauen.

Bernherd, der Wirt, war ein Tairener mit schmierigen Haaren und einem so kleinen Mund, dass es aussah, als hätte er seine Lippen aus Versehen verschluckt. Er roch nach Rettich, und Mat hatte ihn noch nie lächeln gesehen, nicht einmal, wenn er ein Trinkgeld bekam. Die meisten Wirte würden selbst den Dunklen König anlächeln, wenn es um Trinkgeld ging -

Mat hasste es, in einem Laden zu spielen und zu trinken, wo man eine Hand auf dem Geldbeutel halten musste. Aber er hatte Lust, heute Abend eine hübsche Summe zu gewinnen, und es liefen Würfelspiele und klirrten Münzen, also fühlte er sich irgendwie zuhause. Der Spitzenbesatz seines Mantels zog ein paar Blicke auf sich. Warum hatte er sich bloß dafür entschieden? Am besten ließ er ihn von Lopin entfernen, wenn er wieder im Lager war. Nun, nicht alles. Vielleicht einen Teil.

Weiter hinten im Raum fand er ein Spiel, das von drei Männern und einer Frau in Hosen gespielt wurde. Sie hatte kurzes blondes Haar und nette Augen; ihm fiel das bloß auf, weil er an Thom dachte. Auf jeden Fall hatte sie einen vollen Busen, und in letzter Zeit neigte sein Geschmack zu Frauen, die etwas schlanker in der Brust waren.

Wenige Minuten später würfelte er mit ihnen, und das beruhigte ihn etwas. Aber er behielt seinen Geldbeutel in Sichtweite, legte ihn vor sich auf den Boden. Nach kurzer Zeit wuchs der Münzstapel daneben; es war hauptsächlich Silber.

»Habt Ihr gehört, was drüben bei Schmiedsgrün passiert ist?«, fragte einer der Männer seine Gefährten, während Mat würfelte. »Schreckliche Sache.« Der Sprecher war ein hochgewachsener Bursche mit einem verkniffenen Gesicht, das aussah, als wäre er ein paarmal gegen eine Tür gelaufen. Er nannte sich Jäger. Vermutlich, weil Frauen nach einem Blick in dieses Gesicht die Flucht ergriffen und er ihnen hinterherjagen musste.

» Was?«, fragte Cläre. Sie war die blonde Frau. Mat schenkte ihr ein Lächeln. Er spielte nicht oft gegen Frauen, da die meisten behaupteten, Würfeln anstößig zu finden. Obwohl sie natürlich nichts dagegen hatten, wenn ein Mann ihnen von seinem Gewinn etwas Hübsches mitbrachte. Egal, Würfeln mit einer Frau war nicht fair, da sein Lächeln ihr Herz aufgeregt pochen ließ und sie weiche Knie bekam. Aber er lächelte Mädchen nicht mehr auf diese Weise an. Davon abgesehen hatte sie sowieso nicht auf sein Lächeln reagiert.

»Jowdry«, sagte Jäger, als Mat die Würfel schüttelte. »Man hat ihn heute Morgen tot aufgefunden. Die Kehle herausgerissen. Der Körper war blutleer, wie ein Weinschlauch voller Löcher.«

Mat war so überrascht, dass er die Würfel warf, aber nicht darauf achtete, wie sie fielen. »Was?«, wollte er wissen. »Was habt Ihr da gesagt?«

»Ach, das war nur jemand, den wir kannten«, sagte Jäger und musterte ihn. »Er schuldete mir zwei Kronen.«

»Blutleer«, sagte Mat. »Seid Ihr sicher? Habt Ihr die Leiche gesehen?«

»Was?« Jäger verzog das Gesicht. »Verdammte Asche, Mann! Ist das Euer Ernst?«

»Ich …«

»Jäger«, sagte Cläre. »Sieh dir das an.«

Der schlanke Mann schaute nach unten, genau wie Mat. Die Würfel, die er geworfen hatte – alle drei – waren gelandet und balancierten auf ihren Kanten. Beim Licht! Er hatte das schon mit Münzen geschafft, damit sie dann auf die Seite fielen, aber so etwas war ihm noch nie zuvor gelungen.

Und plötzlich in genau diesem Augenblick fingen in seinem Kopf die Würfel an zu klappern. Beinahe hätte er einen Satz bis zur Decke gemacht. Blut und verfluchte Asche! Diese Würfel in seinem Kopf bedeuteten nie etwas Gutes. Sie hörten erst auf, wenn sich etwas veränderte, für gewöhnlich etwas, das nichts Gutes für Matrim Cauthon bedeutete.

»Ich habe noch nie so etwas …«, sagte Jäger.

»Sagen wir, es ist ein Verlust.« Mat warf ein paar Münzen hin und sammelte den Rest seiner Gewinne ein.

»Was wisst Ihr über Jowdry?«, wollte Cläre wissen. Sie griff nach der Taille. Mat hätte Gold gegen Kupfer gewettet, dass sie dort ein Messer hatte, nach der Art zu urteilen, wie sie ihn anstarrte.

»Nichts«, sagte Mat. Nichts und doch zu viel. »Entschuldigt mich.«

Hastig durchquerte er die Schenke. Dabei fiel ihm auf, dass einer der muskulösen Türsteher mit Bernherd dem Wirt sprach und auf ein Blatt Papier in seiner Hand zeigte. Er konnte nicht erkennen, was dort stand, aber er konnte es sich durchaus vorstellen: sein Gesicht.

Fluchend trat er auf die Straße hinaus. Er nahm die erste Gasse, die kam, und lief los.

Die Verlorenen jagten ihn, ein Bild mit seinem Gesicht in der Tasche eines jeden Gauners in der Stadt und ein Ermordeter, dem man das Blut abgezapft hatte. Das konnte nur eines bedeuten. Der Gholam war in Caemlyn. Es erschien unmöglich, dass er so schnell hergefunden hatte. Andererseits hatte Mat gesehen, wie er sich durch ein kein zwei Handspannen breites Loch gequetscht hatte. Das Ding schien einfach nicht zu wissen, was möglich war und was nicht.

Blut und verdammte Asche, dachte er und nahm den Kopf herunter. Er musste Thom einsammeln und in das Lager der Bande außerhalb der Stadt zurückkehren. Er eilte die dunkle, regennasse Straße entlang. Das Pflaster spiegelte das Licht der Öllampen in der Höhe wider. Elayne sorgte stets dafür, dass der Königinnenweg nachts gut beleuchtet war.

Er hatte ihr eine Nachricht zukommen lassen, aber bis jetzt noch keine Antwort erhalten. Was war das für eine Dankbarkeit? Seiner Rechnung nach hatte er ihr zweimal das Leben gerettet. Einmal hätte ausreichen müssen, um sie zu tränenreichen Küssen zu veranlassen, aber er hatte nicht einmal einen Kuss auf die Wange bekommen. Nicht, dass er einen wollte; nicht von einer Königin. Denen ging man besser aus dem Weg.

Du hast eine verfluchte Hochlady der Seanchaner geheiratet, dachte er. Die Tochter der Kaiserin. Jetzt war es unmöglich, den Adel zu meiden! Das konnte er vergessen. Wenigstens war Tuon hübsch. Und sie konnte gut Steine spielen. Und sie war schlagfertig, man konnte sich gut mit ihr unterhalten, selbst wenn sie die meiste Zeit einfach nur schwierig …

Nein. Er durfte jetzt nicht an Tuon denken.

Davon abgesehen hatte er keine Antwort von Elayne erhalten. Er würde energischer sein müssen. Es ging nicht mehr nur um Aludra und ihre Drachen. Der verfluchte Gholam war in der Stadt.

Er trat auf eine große, geschäftige Straße hinaus, die Hände in die Manteltaschen geschoben. In seiner Eile hatte er den Stock in der Schenke vergessen. Er knurrte leise; eigentlich sollte er sich tagsüber entspannen, die Nächte in guten Gasthäusern mit Würfeln verbringen und morgens lange schlafen, während er darauf wartete, dass die dreißig Tage Wartezeit, die Verin verlangt hatte, verstrichen. Und jetzt das.

Mit diesem Gholam hatte er noch eine Rechnung zu begleichen. Die Unschuldigen, die er um Ebou Dar herum dahingeschlachtet hatte, waren schlimm genug, und Mat hatte keineswegs Nalesean und die fünf Rotwaffen vergessen, die ebenfalls ermordet worden waren. Verfluchte Asche, das Monstrum hatte sich bereits für genug zu verantworten. Dann hatte es sich Tylin geholt.

Er zog die Hand aus der Tasche und tastete nach dem Fuchskopf-Medaillon, das wie immer auf seiner Brust ruhte. Er war es leid, vor dem Ungeheuer fortzulaufen. In seinem Kopf nahm ein Plan Gestalt an, begleitet vom Klappern der Würfel. Er versuchte das Bild der Königin zu verdrängen, die dort in den Fesseln lag, die Mat selbst geknüpft hatte, den Kopf vom Körper gerissen. Dort musste so viel Blut gewesen sein. Der Gholam lebte von frischem Blut.

Er fröstelte und schob die Hand wieder in die Tasche, während er sich dem Stadttor näherte. Trotz der Dunkelheit konnte er die Spuren der Schlacht sehen, die dort stattgefunden hatte. Eine Pfeilspitze, die in der Tür eines Gebäudes zu seiner Linken steckte, ein dunkler Flecken an der Wand eines Wärterpostens, der das Holz unter dem Fenster beschmutzte. Dort war ein Mann gestorben, vielleicht während er von innen eine Armbrust abgefeuert hatte, dann war er über den Fensterrahmen gesackt, und sein Blut war ins Holz gesickert.

Diese Belagerung war vorbei, und eine neue Königin – die richtige Königin – saß auf dem Thron. Endlich hatte es einmal eine Schlacht gegeben, die er verpasst hatte. Dieser Gedanke hellte seine Stimmung etwas auf. Um den Löwenthron war ein erbitterter Krieg geführt worden, und nicht ein Pfeil, Klinge oder Speer in diesem Konflikt war auf Matrim Cauthons Herz gezielt gewesen.

Er wandte sich nach rechts, ging an der Stadtmauer vorbei. Hier gab es viele Schenken. In der Nähe von Stadttoren gab es immer Schenken. Nicht unbedingt die ansehnlichsten, aber so gut wie immer die profitabelsten.

Licht strömte aus Fenstern und Türen und malte goldene Pfützen auf die Straße. Dunkle Umrisse drängten sich in den Gassen, ausgenommen nur bei den Gasthäusern, die Männer eingestellt hatten, um die Armen fortzuhalten. Caemlyn hatte Probleme. Eine Flut von Flüchtlingen, die Kämpfe vor gar nicht so langer Zeit, die… anderen Sachen. Es gab zahllose Geschichten über die wandelnden Toten, über Nahrung, die urplötzlich verdarb, über weißgestrichene Wände, die unversehens dreckig waren.

Die Schenke, in der Thom auftrat, war ein Gebäude mit Giebeldach und Ziegelfassade, deren Schild zwei Äpfel zeigte, von denen der eine bis auf sein Kerngehäuse abgenagt war. Das machte ihn sehr hell, während der andere dunkelrot war die Farben der andoranischen Flagge. Die zwei Äpfel war eines der besseren Etablissements in dieser Gegend.

Er konnte die Musik schon von draußen hören. Er trat ein und entdeckte Thom auf einem kleinen Podest am anderen Ende des Gastraums, wo er Flöte spielte und seinen bunten Gauklerumhang trug. Er spielte mit geschlossenen Augen, sein Schnurrbart hing lang und weiß über beide Seiten des Instruments. Es war eine melancholische Melodie, »Die Heirat von Cinny Wade«. Mat hatte sie als »Wähle immer das richtige Pferd« kennengelernt und sich noch immer nicht an die langsame Weise gewöhnt, auf die Thom sie spielte.

Vor dem Gaukler lag eine kleine Sammlung von Münzen auf dem Boden verteilt. Die Wirtin erlaubte ihm, für Trinkgeld zu spielen. Mat blieb in der Nähe der Tür stehen und lehnte sich an, um zuzuhören. Niemand sprach im Gastraum, obwohl er so voll war, dass Mat allein mit den anwesenden Männern eine halbe Kompanie Soldaten hätte aufstellen können. Alle Blicke waren auf Thom gerichtet.

Mat war schon überall auf der Welt gewesen, hatte einen großen Teil auf den eigenen beiden Füßen bereist. In einem Dutzend verschiedener Städte hätte er fast seine Haut verloren, und er war in allen möglichen Gasthäusern abgestiegen. Er hatte Gaukler, Schauspieler und Barden gehört. Thom ließ den ganzen Haufen wie Kinder mit Stöcken aussehen, die auf Töpfen herumhämmerten.

Die Flöte war ein einfaches Instrument. Viele Adlige würden die Harfe vorziehen; in Ebou Dar hatte ein Mann Mat einmal erzählt, dass die Harfe »erhabener« war. Vermutlich wären ihm die Augen aus dem Kopf gefallen und der Mund offen stehen geblieben, hätte er Thom spielen gehört. Leise Triller, Molltöne und mächtige mutige Töne. Eine so klagende Melodie. Um wen trauerte Thom?

Das Publikum sah zu. Caemlyn war eine der größten Städte auf der Welt, trotzdem erschien die Vielseitigkeit einfach unglaublich. Kernige Illianer saßen neben aalglatten Domani, stämmigen Tairenern und ein paar Grenzländern. Man betrachtete Caemlyn als einen der wenigen Orte, wo man sowohl vor den Seanchanern wie vor dem Drachen sicher war. Hier gab es auch etwas zu essen.

Thom beendete das Lied und ging zum nächsten über, ohne die Augen zu öffnen. Mat seufzte, denn er störte Thoms Auftritt nur ungern. Leider war es Zeit, ins Lager zurückzukehren. Sie mussten über den Gholam sprechen, und Mat musste eine Möglichkeit finden, Elayne zu erreichen. Vielleicht würde Thom in seinem Namen zu ihr gehen.

Mat nickte der Wirtin zu – einer stattlichen, dunkelhaarigen Frau namens Bromas. Sie erwiderte den Gruß, ihre großen Ohrringe funkelten im Licht. Sie war etwas älter, als ihm sonst gefiel – andererseits war Tylin in ihrem Alter gewesen. Er würde sie im Kopf behalten. Natürlich für einen seiner Männer. Vielleicht Vanin.

Er erreichte die Bühne und fing an, die Münzen einzusammeln. Er würde Thom zum Ende kommen lassen und dann …

Seine Hand zuckte. Plötzlich war sein Arm mit der Manschette an die Bühne genagelt; ein Messer hatte den Stoff durchbohrt. Das schmale Stück Metall vibrierte noch. Er schaute auf. Thom spielte immer noch, allerdings hatte der Gaukler ein Auge einen Spaltbreit geöffnet, bevor er das Messer warf.

Thom spielte weiter, ein Lächeln auf den gespitzten Lippen. Mat riss grummelnd den Ärmel frei und wartete, bis Thom die Melodie beendete, die nicht so traurig wie ihre Vorgängerin war. Als der schmächtige Gaukler die Flöte senkte, brach stürmischer Applaus los.

Mat schenkte ihm einen finsteren Blick. »Soll man dich doch zu Asche verbrennen, Thom. Das ist einer meiner Lieblingsmäntel! «

»Sei froh, dass ich nicht auf die Hand zielte«, bemerkte Thom, wischte die Flöte ab und bedankte sich mit einem Nicken für den jubelnden Applaus der Schenkengäste. Sie riefen ihm zu, doch weiterzumachen, aber er schüttelte bedauernd den Kopf und verstaute die Flöte in ihrer Tasche.

»Beinahe wünschte ich mir, du hättest es getan«, sagte Mat, hob den Ärmel und steckte einen Finger durch das Loch. » Blut wäre auf dem Schwarz kaum zu sehen gewesen, aber das Geflickte wird offensichtlich sein. Nur weil du mehr Flicken als Umhang trägst, heißt das nicht, dass ich dir nacheifern will.«

»Und du willst kein Lord sein«, sagte Thom und bückte sich, um seinen Verdienst einzusammeln.

»Das bin ich auch nicht!«, erwiderte er. »Ganz egal, was Tuon sagte, verdammt. Ich bin kein verdammter Adliger.«

»Hast du je einen Bauern darüber jammern hören, dass seine Mantelnähte zu sehen sind?«

»Man muss kein Lord sein, um sich halbwegs vernünftig anziehen zu wollen«, murrte er.

Thom lachte, klopfte ihm auf den Rücken und sprang vom Podest. »Mat, es tut mir leid. Ich handle nach Instinkt, und mir war nicht klar, dass du das bist, bis ich das zu dem Arm gehörende Gesicht sah. Und da war das Messer bereits auf dem Weg.«

Mat seufzte. »Thom«, sagte er grimmig, »ein alter Freund ist in der Stadt. Der, der die Leute mit herausgerissener Kehle zurücklässt.«

Thom nickte und sah beunruhigt aus. »Während meiner Pause hörte ich, wie ein paar Gardisten davon sprachen. Und wir hängen in der Stadt fest, bis du dich entscheidest…«

»Ich öffne diesen Brief nicht«, sagte Mat. »Verin könnte mir den Befehl hinterlassen haben, auf den Händen bis nach Falme zu kriechen, und ich müsste es verdammt noch mal tun! Ich weiß, dass du die Verzögerung hasst, aber dieser Brief könnte für eine noch schlimmere Verzögerung sorgen.«

Thom nickte zögernd.

»Lass uns ins Lager zurückgehen«, sagte Mat.


Das Lager der Bande befand sich eine Meile außerhalb von Caemlyn. Thom und Mat waren nicht zu Pferd gekommen – Fußgänger waren weniger auffällig, und Mat würde keine Pferde in die Stadt bringen, bevor er einen vertrauenswürdigen Stall gefunden hatte. Der Preis für gute Pferde wurde lächerlich. Er hatte gehofft, das hinter sich lassen zu können, nachdem er die seanchanischen Länder hinter sich gelassen hatte, aber Elaynes Heere kauften jedes gute Pferd, das sie finden konnten, und die weniger guten auch. Darüber hinaus hatte er gehört, dass Pferde im Moment gelegentlich auch einfach verschwanden. Fleisch war Fleisch, und selbst in Caemlyn standen die Menschen kurz vor dem Hungertod. Das verschaffte Mat eine Gänsehaut, aber es war nun einmal die Wahrheit.

Er und Thom unterhielten sich auf dem ganzen Rückweg über den Gholam, entschieden kaum mehr, als alle zu alarmieren und Mat jede Nacht in einem anderen Zelt schlafen zu lassen.

Mat schaute über die Schulter, als sie einen Hügel erklommen. Caemlyn leuchtete im Licht der Fackeln und Lampen. Helligkeit hing wie Nebel über der Stadt, das Glühen erhellte die prächtigen Turmspitzen und Türme. Die alten Erinnerungen in seinem Kopf kannten diese Stadt – er erinnerte sich daran, sie angegriffen zu haben, bevor Andor überhaupt eine Nation gewesen war. Caemlyn hatte es keinem Angreifer leicht gemacht. Er beneidete die Adelshäuser nicht, die versucht hatten, es Elayne wegzunehmen.

Thom trat an seine Seite. »Es scheint eine Ewigkeit her zu sein, seit wir das letzte Mal hier waren, nicht wahr?«

»Verdammt, das tut es wirklich«, erwiderte er. »Was hat uns bloß dazu gebracht, diese albernen Mädchen zu jagen? Das nächste Mal können sie sich selbst retten.«

Thom musterte ihn. »Wollen wir nicht wieder das Gleiche tun? Wenn wir zum Turm von Ghenjei reisen?«

»Das ist etwas anderes. Wir können sie nicht bei ihnen lassen. Diese Schlangen und Füchse …«

»Ich beschwere mich nicht. Ich bin bloß nachdenklich.«

Das schien er in letzter Zeit oft zu sein. Blies Trübsal und liebkoste Moiraines abgenutzten Brief. Es war doch bloß ein Brief. »Komm schon«, sagte Mat und wandte sich wieder der Straße zu. »Du sprachst davon, wie wir reinkommen, um die Königin zu sehen?«

Thom ging auf der dunklen Straße an seiner Seite. »Es überrascht mich nicht, dass sie dir noch nicht geantwortet hat. Vermutlich hat sie alle Hände voll zu tun. Es ist davon die Rede, dass Horden von Trollocs in die Grenzländer eingefallen sind, und Andor hat sich von der Thronfolge noch nicht erholt. Elayne …«

»Kennst du auch gute Neuigkeiten? Erzähl sie mir, falls es möglich ist. Ich würde gerne auch mal so etwas hören.«

»Ich wünschte, Der Königin Segen wäre noch geöffnet. Gill hatte immer etwas zu erzählen.«

»Gute Neuigkeiten«, drängte Mat.

»In Ordnung. Nun, der Turm von Ghenjei befindet sich genau dort, wo Domon sagte. Ich habe es von drei anderen Schiffskapitänen gehört. Hinter einer Ebene mehrere Hundert Meilen nordwestlich von Weißbrücke.«

Mat nickte und rieb sich das Kinn. Er hatte das Gefühl, sich an etwas über den Turm erinnern zu können. Eine silbrige Struktur in der Ferne, irgendwie unnatürlich. Eine Fahrt in einem Boot, Wasser schlug gegen die Planken. Bayle Domons schwerer illianischer Akzent…

Diese Bilder blieben vage; seine Erinnerungen an diese Zeit hatten mehr Löcher als eines von Jori Congars Alibis. Bayle Domon hatte ihnen beschrieben, wo der Turm zu finden war, aber Mat hatte eine Bestätigung haben wollen. Die Art, wie Domon vor Leilwin kroch, machte ihn nervös. Keiner der beiden zeigte Mat große Zuneigung, obwohl er sie gerettet hatte. Nicht, dass er von Leilwin irgendwelche Zuneigung gewollt hätte. Sie zu küssen würde ungefähr so viel Spaß machen, wie die Rinde einer Steineiche zu küssen.

»Glaubst du, Domons Beschreibung wird ausreichen, dass jemand für uns ein Wegetor dorthin machen kann?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Thom. »Obwohl ich das für das geringere Problem halte. Wo sollen wir jemanden finden, der ein Wegetor erschaffen kann? Verin ist verschwunden.«

»Ich finde schon eine Möglichkeit.«

»Wenn nicht, kostet es uns Wochen, um zu diesem Ort zu gelangen«, sagte Thom. »Mir gefällt nicht, dass …«

»Ich finde ein Wegetor für uns«, sagte Mat energisch. »Vielleicht kehrt Verin ja zurück und erlöst mich von diesem verfluchten Eid.«

»Es wäre besser, wenn sie wegbleibt«, meinte Thom. »Ich traue ihr nicht. Irgendetwas an ihr ist merkwürdig.«

»Sie ist eine Aes Sedai. Bei denen ist immer etwas merkwürdig, sie sind wie Würfel, wo sich die Augen nicht addieren. Aber irgendwie mag ich Verin – für eine Aes Sedai. Und ich kann Charaktere gut einschätzen, das weißt du.«

Thom hob nur eine Braue. Mat sah ihn finster an.

»Wie dem auch sei, wir sollten dich besser von Wächtern begleiten lassen, wenn du die Stadt besuchst«, sagte Thom dann.

»Gegen den Gholam helfen auch keine Wächter.«

»Nein, aber was war mit den Schlägern, die dich vor drei Nächten auf dem Rückweg ins Lager überfielen?«

Mat fröstelte. »Das waren wenigstens gute, ehrliche Diebe. Sie wollten bloß meinen Geldbeutel, alles ganz normal und natürlich. Keiner von ihnen hatte das Bild in der Tasche. Und sie waren auch nicht von der Macht des Dunklen Königs dazu verflucht, bei Sonnenuntergang den Verstand zu verlieren oder dergleichen.«

»Trotzdem«, beharrte Thom.

Mat widersprach nicht. Vielleicht hätte er wirklich ein paar Soldaten mitnehmen sollen. Zumindest ein paar der Rotwaffen.

Das Lager befand sich genau vor ihnen. Einer von Elaynes Sekretären, ein Mann namens Norry, hatte der Bande die Erlaubnis gegeben, in unmittelbarer Nähe von Caemlyn zu lagern. Sie hatten sich bereiterklären müssen, täglich nie mehr als hundert Mann in die Stadt zu schicken und mindestens eine Meile von der Stadtmauer entfernt zu lagern, abseits von allen Dörfern und auf keinem Ackerland.

Das Gespräch mit dem Sekretär bedeutete, dass Elayne von Mats Anwesenheit wusste. Aber sie hatte keinen Gruß geschickt, hatte nicht zu erkennen gegeben, dass sie Mat ihr Leben schuldete.

Nach einer Straßenbiegung zeigte Thoms Laterne eine Gruppe Rotwaffen am Straßenrand. Gufrin, der Sergeant der Abteilung, stand auf und salutierte. Er war ein stämmiger Mann mit breiten Schultern. Nicht besonders klug, aber mit scharfem Blick.

»Lord Mat!«, sagte er.

»Gibt es etwas Neues, Gufrin?«, fragte Mat.

Der Sergeant runzelte die Stirn. »Nun«, sagte er dann, »ich glaube, da gibt es etwas, das Ihr wissen wollt.« Beim Licht! Der Mann sprach langsamer als ein betrunkener Seanchaner. » Heute sind die Aes Sedai zurück ins Lager gekommen. Während Eurer Abwesenheit, mein Lord.«

»Etwa alle drei?!«

»Ja, mein Lord.«

Mat seufzte. Falls noch Hoffnung bestanden hatte, dass sich dieser Tag anders als schlecht entwickelte, war sie dahin. Er hatte gehofft, sie wären noch ein paar Tage in der Stadt geblieben.

Er und Thom gingen weiter, verließen die Straße und benutzten einen Pfad durch ein Feld aus Messergras und Schwarzwespennesseln. Das Unkraut wurde von ihren Schritten platt gewalzt, Thoms Laterne beleuchtete die braunen Stängel. Einerseits war es gut, wieder in Andor zu sein; mit den Zwerglorbeerbäumen und den Tupelobäumen fühlte es sich beinahe wie zu Hause an. Aber bei der Rückkehr alles so abgestorben aussehend vorzufinden war entmutigend.

Und was sollte er nur mit Elayne machen? Frauen waren schwierig. Aes Sedai waren noch schlimmer. Königinnen die schlimmsten von dem ganzen Haufen. Und sie war verdammt noch mal alle drei. Wie sollte er sie dazu bringen, ihm ihre Schmieden zu überlassen? Er hatte Verins Angebot zum Teil auch deshalb angenommen, weil er geglaubt hatte, auf diese Weise schneller nach Andor zu kommen und mit der Arbeit an Aludras Drachen anfangen zu können!

Voraus erhob sich das Lager der Bande auf einer kleinen Reihe von Hügeln, der höchste befand sich in der Mitte. Mats Streitmacht hatte sich mit Estean und den anderen vereint, die nach Andor vorausgereist waren, und die Bande war endlich wieder vollzählig. Feuer brannten; in diesen Tagen bereitete es keinerlei Probleme, totes Holz zu finden. Rauch hing in der Luft, und Mat hörte Männer sich unterhalten. So spät war es noch nicht, und er bestand nicht auf einem Zapfenstreich. Wenn er sich schon nicht entspannen konnte, dann zumindest seine Männer. Möglicherweise war es für sie die letzte Gelegenheit vor der Letzten Schlacht.

Trollocs in den Grenzlanden. Wir brauchen diese Drachen. Und zwar schnell.

Er erwiderte den Gruß einiger Wachtposten und trennte sich von Thom. Er wollte sich ein Bett suchen und seine Sorgen überschlafen. Dabei fielen ihm ein paar Veränderungen auf, die dem Lager guttun würden. So, wie sich die Hügel erhoben, konnte leichte Kavallerie durch den dazwischenliegenden Korridor galoppieren und angreifen. Nur jemand mit großem Wagemut würde eine solche Taktik versuchen, aber er hatte sie damals während der Schlacht vom Marisintal im alten Coremanda ausgeführt. Nun, nicht er selbst, aber jemand, dem diese alten Erinnerungen gehörten.

Er akzeptierte diese Erinnerungen immer mehr einfach als die seinen. Er hatte nicht darum gebeten – ganz egal, was diese verfluchten Füchse behauptet hatten -, aber er hatte sie mit der Narbe um seinen Hals bezahlt. Bei mehr als nur einer Gelegenheit waren sie nützlich gewesen.

Schließlich erreichte er sein Zelt und wollte sich frische Unterwäsche holen, bevor er sich ein anderes Zelt für die Nacht suchte, als ihn eine Frauenstimme ansprach. »Matrim Cauthon!«

Verdammte Asche. Dabei hatte er es beinahe geschafft. Zögernd drehte er sich um.

Teslyn Baradon war keine hübsche Frau, allerdings hätte sie einen ganz passablen Teebaum abgegeben mit diesen knochigen Fingern, den schmalen Schultern und dem hagerer) Gesicht. Sie trug ein rotes Kleid, und im Laufe der vergangenen Wochen hatten ihre Augen größtenteils die nervöse Scheu verloren, die sie seit ihrer Zeit als Damane gezeigt hatte, und nun fixierte sie ihn mit scharfem Blick.

»Matrim Cauthon«, sagte sie und kam näher. »Ich muss mit Euch sprechen.«

»Nun, so wie es aussieht, tut Ihr das bereits«, sagte Mat und ließ den Zelteingang los. Wider besseres Wissen verspürte er eine gewisse Sympathie für Teslyn, aber er würde sie nicht hineinbitten. Genauso wenig wie er einen Fuchs in seinen Hühnerstall einladen würde, ganz egal, wie nett er den fraglichen Fuchs auch finden würde.

»In der Tat«, erwiderte sie. »Habt Ihr die Neuigkeiten über die Weiße Burg gehört?«

»Neuigkeiten? Nein, ich hörte keine Neuigkeiten. Nur Gerüchte … Davon jede Menge. Teilweise heißt es, die Weiße Burg wäre wieder vereint, wovon Ihr vermutlich sprecht. Aber ich hörte genauso oft, dass sie sich noch immer im Kriegszustand befindet. Und dass die Amyrlin die Letzte Schlacht anstelle von Rand gefochten hat, und dass sich die Aes Sedai entschieden haben, ein Heer aufzustellen, indem sie die Soldaten selbst zur Welt bringen, und das fliegende Ungeheuer die Weiße Burg angegriffen haben. Bei dem Letzteren handelt es sich vermutlich bloß um Geschichten über Raken, die aus dem Süden kommen. Aber ich glaube, an der über die Aes Sedai, die ein Heer aus Säuglingen großziehen, ist vermutlich etwas dran.«

Teslyn schenkte ihm einen strengen Blick. Er schaute nicht weg. Sein Vater hatte immer behauptet, er sei sturer als ein verdammter Baumstumpf.

Bemerkenswerterweise seufzte Teslyn; ihre Miene wurde weicher. »Natürlich habt Ihr recht, skeptisch zu sein. Aber wir können die Neuigkeiten nicht ignorieren. Selbst Edesina, die sich närrischerweise auf die Seite der Rebellen geschlagen hat, möchte zurückkehren. Morgen früh wollen wir aufbrechen. Da Ihr für gewöhnlich spät zu Bett geht, wollte ich Euch heute Abend besuchen, um mich bei Euch zu bedanken.«

»Ihr wollt was?«

»Mich bedanken, Meister Cauthon«, sagte Teslyn trocken. »Diese Reise war für keinen von uns leicht. Es gab Augenblicke der … Anspannung. Ich will nicht sagen, dass ich jede Eurer Entscheidungen richtig fand. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ich mich ohne Euch noch immer in den Händen der Seanchaner befinden würde.« Sie fröstelte. »Während meiner selbstbewussteren Augenblicke rede ich mir ein, dass ich ihnen widerstanden hätte und schließlich aus eigener Kraft geflohen wäre. Es ist wichtig, einige seiner Illusionen aufrechtzuerhalten, findet Ihr nicht?«

Mat zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, Teslyn. In der Tat, vielleicht.«

Erstaunlicherweise streckte sie ihm die Hand entgegen. »Vergesst nicht, solltet Ihr je zur Weißen Burg kommen, dann gibt es dort Frauen, die in Eurer Schuld stehen, Matrim Cauthon. Ich vergesse das nicht.«

Er ergriff die Hand. Sie fühlte sich genauso knochig an, wie sie aussah, aber sie war wärmer als erwartet. Bei einigen Aes Sedai floss Eis durch die Adern, so viel stand fest. Andere hingegen waren gar nicht so übel.

Sie nickte ihm zu. Ein respektvolles Nicken. Fast schon eine Verbeugung. Mat ließ ihre Hand los und fühlte sich so unsicher, als hätte ihm jemand die Beine unter dem Leib weggetreten. Sie wandte sich ab, um zurück zu ihrem Zelt zu gehen.

»Ihr werdet Pferde brauchen«, sagte er. »Wenn Ihr mit der Abreise wartet, bis ich aufstehe, gebe ich Euch welche. Und Verpflegung. Es wäre nicht gut, wenn Ihr verhungert, bevor Ihr es nach Tar Valon schafft, und wie wir ja in letzter Zeit gesehen haben, werden die Dörfer auf dem Weg nichts für Euch übrig haben.«

»Ihr sagtet Joline …«

»Ich habe meine Pferde erneut gezählt«, sagte Mat. Diese Würfel klapperten noch immer durch seinen Kopf, sollte man sie doch zu Asche verbrennen. »Ich habe die Pferde der Bande erneut zählen lassen. Wie sich herausstellte, haben wir ein paar übrig. Ihr könnt sie nehmen.«

»Ich bin heute Abend nicht zu Euch gekommen, um Euch dazu zu bringen, mir Pferde zu geben«, sagte Teslyn. »Ich meinte es ehrlich.«

»Das habe ich schon verstanden«, sagte Mat und hob den Zelteingang. »Darum ja auch dieses Angebot.« Er trat ins Zelt.

Und erstarrte. Dieser Geruch … Blut.

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