17 Abschiede und eine Begegnung

Am Morgen nach dem Angriff des Gholams erwachte Mat steif und mit schmerzenden Gliedern aus Träumen, die so faul wie die Eier des Vormonats gewesen waren. Er hatte die Nacht in einem Erdloch verbracht, das er unter Aludras Ausrüstungswagen gefunden hatte. Er hatte seine Würfel genommen und die Stelle zufällig bestimmt.

Er kletterte unter dem Wagen hervor, streckte sich und rollte mit den Schultern, bis es knackte. Verdammte Asche. Eine der besten Sachen daran, Geld zu haben, bestand darin, nicht in Erdlöchern zu schlafen. So mancher Bettler hatte seine Nächte auf angenehmere Weise verbracht.

Der Wagen roch nach Schwefel und Pulver. Er war versucht, einen Blick unter die geölte Plane zu werfen, die den hinteren Teil bedeckte, aber das würde sinnlos sein. Aludra und ihre Pulver waren nicht zu begreifen. Solange die Drachen funktionierten, musste Mat nicht wissen, wie sie funktionierten. Zumindest nicht genau. Es war das Risiko nicht wert, sie zu verärgern.

Zum Glück für Mat hielt sie sich nicht bei ihrem Wagen auf. Sie würde sich nur wieder bei ihm beklagen, dass er ihr noch keinen Glockengießer besorgt hatte. Sie schien ihn für ihren Laufburschen zu halten. Einen widerspenstigen, der seine Arbeit nicht vernünftig erledigte. Die meisten Frauen verhielten sich manchmal so.

Er ging durch das Lager und zupfte sich Stroh aus dem Haar. Beinahe hätte er sich auf die Suche nach Lopin gemacht, damit dieser ihm ein Bad richtete, aber dann fiel ihm rechtzeitig ein, dass Lopin tot war. Verdammte Asche! Der arme Mann.

Der Gedanke an den armen Lopin dämpfte Mats Stimmung noch mehr, während er sich nach einem Frühstück umsah. Juilin fand ihn zuerst. Der kleine tairenische Diebefänger trug seinen konischen Hut und seinen dunkelblauen Mantel. »Mat«, sagte er. »Stimmt das? Du hast den Aes Sedai die Erlaubnis gegeben, zur Weißen Burg zurückzukehren?«

»Sie brauchen meine Erlaubnis nicht«, erwiderte Mat und verzog das Gesicht. Sollten die Frauen das auf diese Weise hören, würden sie ihm das Fell gerben und daraus Sattelleder machen. »Aber ich will sie mit Pferden ausrüsten.«

»Die haben sie bereits«, sagte Juilin und blickte in Richtung der Pferdeseile. »Sagten, du hättest deine Erlaubnis gegeben.«

Mat seufzte. Sein Magen knurrte, aber das Essen würde noch warten müssen. Er ging in Richtung Pferdeseile; er musste aufpassen, dass sich die Aes Sedai nicht mit seinen besten Tieren davonmachten.

»Ich dachte daran, sie zu begleiten«, sagte Juilin und ging neben ihm her. »Thera nach Tar Valon zu bringen.«

»Ihr könnt jederzeit gehen«, sagte Mat. »Ich halte euch nicht.« Juilin war ein anständiger Kerl. Manchmal etwas steif. Nun ja, arg steif. Juilin konnte einen Weißmantel entspannt aussehen lassen. Er war niemand, den man zum Würfeln mitnehmen wollte; er würde nur jeden in der Schenke finster anstarren und von den Verbrechen murmeln, die sie garantiert begangen hatten. Aber er war verlässlich, und es war gut, ihn im Notfall an seiner Seite zu haben.

»Ich will nach Tear zurück«, sagte Juilin. »Aber die Seanchaner wären so nahe, und Thera … Es macht ihr Angst. Ihr gefällt die Idee mit Tar Valon auch nicht besonders, aber wir haben nicht viele Möglichkeiten, und die Aes Sedai haben mir versprochen, eine Arbeit in Tar Valon zu besorgen, wenn ich sie begleite.«

»Also ist das jetzt der Abschied?« Mat blieb stehen.

»Für den Augenblick.« Juilin zögerte, dann streckte er die Hand aus. Mat ergriff sie und schüttelte sie, dann ging der Diebefänger los, um seine Sachen und seine Frau zu holen.

Mat dachte einen Moment lang nach, dann entschied er sich anders und ging zum Kochzelt. Vermutlich würde Juilin die Aes Sedai aufhalten, und er wollte etwas essen.

Kurze Zeit später erreichte er gesättigt die Pferdeleinen und trug ein in ein Tuch gewickeltes Bündel unter dem Arm. Natürlich hatten die Aes Sedai mit seinen besten Pferden eine übertrieben große Karawane gebildet. Teslyn und Joline schienen auch zu dem Schluss gekommen zu sein, sie könnten ein paar Lasttiere und Soldaten requirieren, die sie beluden. Mat seufzte und begab sich in den Schlamassel, um die Pferde zu kontrollieren.

Joline saß auf Mondschein, einer Stute aus tairenischer Zucht, die einem der Männer gehört hatte, die Mat bei der Flucht vor den Seanchanern im Kampf verloren hatte. Die reserviertere Edesina hatte Feuerstreif bestiegen und blickte gelegentlich zu zwei Frauen, die an der Seite standen. Die dunkelhäutige Bethamin und die blasse blonde Seta waren ehemalige Sul’dam.

Die Seanchanerinnen bemühten sich sehr, reserviert auszusehen, während sich die Gruppe versammelte. Mat gesellte sich zu ihnen.

»Hoheit«, sagte Seta, »ist es wahr? Ihr erlaubt denen da, sich von Euch zu entfernen?«

»Es ist besser, sie loszuwerden«, erwiderte Mat und zuckte über die Wahl ihres Titel für ihn zusammen. Mussten sie mit solchen Worten um sich werfen, als wären sie Holzpfennige? Die beiden seanchanischen Frauen hatten sich sehr verändert, seit sie Teil der Gruppe geworden waren, aber sie schienen es noch immer seltsam zu finden, dass er die Aes Sedai nicht als Waffe benutzen wollte. »Wollt ihr mitgehen, oder wollt ihr bleiben?«

»Wir gehen«, sagte Bethamin fest. Anscheinend war sie entschlossen zu lernen.

»Ja«, sagte Seta, »obwohl ich manchmal glaube, dass es besser wäre, uns einfach sterben zu lassen als uns … Nun, was wir sind, was wir repräsentieren, das bedeutet, dass wir eine Gefahr für das Kaiserreich sind.«

Mat nickte. »Tuon ist eine Sul’dam«, sagte er.

Die beiden Frauen starrten zu Boden.

»Geht mit den Aes Sedai«, sagte Mat. »Ich gebe euch eigene Pferde, damit ihr nicht auf sie angewiesen seid. Lernt, die Macht zu lenken. Das ist nützlicher, als zu sterben. Vielleicht könnt ihr beiden ja eines Tages Tuon von der Wahrheit überzeugen. Helft mir dabei, eine Möglichkeit zu finden, das in Ordnung zu bringen, ohne dass dabei das ganze Kaiserreich zusammenbricht.«

Die beiden Frauen sahen ihn an, und plötzlich erschienen sie bedeutend selbstsicherer und entschlossener. »Ja, Hoheit«, sagte Bethamin. »Das ist ein gutes Ziel für uns. Danke, Hoheit. «

Seta standen tatsächlich Tränen in den Augen! Beim Licht, was glaubten sie denn, dass er ihnen gerade versprochen hatte? Er zog sich zurück, bevor sie sich noch mehr verrückte Ideen in den Kopf setzten. Verdammte Frauen. Trotzdem taten sie ihm leid, ob er wollte oder nicht. Erfahren zu müssen, dass sie die Macht lenken konnten, sich zu sorgen, dass sie möglicherweise für jeden in ihrer Umgebung eine Gefahr darstellten.

So hat sich Rand gefühlt, dachte er. Armer Narr. Wie immer wirbelten die Farben, als er an Rand dachte. Er bemühte sich, das nicht so oft zu tun, und bevor er diese Farben verbannen konnte, erhaschte er einen Blick auf Rand, der sich in einem wunderschönen Badegemach vor einem prächtigen vergoldeten Spiegel rasierte.

Mat gab den Befehl, den Sul’dam Pferde zu besorgen, dann schlenderte er zu den Aes Sedai. Thom war eingetroffen und kam zu ihm herüber. »Beim Licht. Du siehst aus, als hättest du mit einem Gebüsch gerungen und verloren.«

Mat tastete nach seinen Haaren, die vermutlich einen hübschen Anblick boten. »Ich habe die Nacht überlebt, und die Aes Sedai reisen ab. Ich hätte nicht übel Lust, deswegen ein Tänzchen aufzuführen.«

Thom schnaubte. »Hast du gewusst, dass die beiden hier sein würden?«

»Die Sul’dam? Ich dachte es mir.«

»Nein, die beiden.« Er zeigte.

Mat drehte sich um und runzelte die Stirn, als er Leilwin und Bayle Domon heranreiten sah. Ihre Besitztümer waren zusammengerollt auf den Rücken der Pferde geschnallt. Leilwin war einst unter dem Namen Egeanin eine seanchanische Adlige gewesen, aber Tuon hatte sie ihres Namens enthoben. Sie trug ein Reitkleid in mattgrauer Farbe. Ihr kurzes Haar war nachgewachsen und reichte bis über ihre Ohren. Sie stieg aus dem Sattel und ging mit großen Schritten in Mats Richtung.

»Soll man mich doch zu Asche verbrennen«, sagte Mat zu Thom, »wenn ich sie auch loswerde, könnte ich beinahe anfangen zu glauben, dass mich das Leben endlich gerecht behandelt. «

Domon folgte ihr. Er war ihr So’jhin. Das hieß … konnte er überhaupt noch So’jhin sein, jetzt, da sie keinen Titel mehr hatte? Egal, auf jeden Fall war er ihr Ehemann. Der Illianer hatte einen dicken Bauch und war stark. Er war gar kein so übler Bursche, es sei denn, er befand sich in Leilwins Nähe. Was er eigentlich immer war.

»Cauthon«, sagte sie, als sie vor ihm stehen blieb.

»Leilwin«, erwiderte er. »Ihr verlasst uns?«

»Ja.«

Mat lächelte. Er würde dieses Tänzchen wirklich aufführen!

»Es lag immer in meiner Absicht, in die Weiße Burg zu kommen«, fuhr sie fort. »Das beschloss ich an dem Tag, an dem ich Ebou Dar verließ. Wenn die Aes Sedai aufbrechen, werde ich sie begleiten. Für ein Schiff ist es immer klug, sich einem Konvoi anzuschließen, wenn sich die richtige Gelegenheit bietet.«

»Es ist wirklich schade, dass Ihr geht«, log Mat und tippte sich grüßend an die Hutkrempe. Leilwin war so zäh wie eine hundertjährige Eiche, in der noch immer Stücke der Axt der Männer steckten, die dumm genug gewesen waren, sie fällen zu wollen. Sollte ihr Pferd auf dem Weg nach Tar Valon einen Huf verlieren, würde sie sich das Tier vermutlich auf die Schultern wuchten und es den Rest des Weges tragen.

Aber sie konnte Mat nicht leiden, trotz allem, was er getan hatte, um ihre Haut zu retten. Vielleicht lag es daran, dass er ihr nicht gestattet hatte, das Kommando zu übernehmen, vielleicht auch, weil sie gezwungen gewesen war, seine Geliebte zu spielen. Nun, das hatte ihm auch nicht gefallen. Als hätte man ein Schwert an der Klinge gehalten und so getan, als würde das nicht wehtun.

Obwohl es Spaß gemacht hatte, dabei zuzusehen, wie sie sich wand.

»Macht es gut, Matrim Cauthon«, sagte Leilwin. »Ich beneide Euch nicht um die Klemme, in die Ihr Euch hineinmanövriert habt. Ich glaube in vielerlei Hinsicht, dass die Winde, die Euch antreiben, stürmischer sind als die, die mich in letzter Zeit herumgestoßen haben.« Sie nickte ihm zu und wandte sich zum Gehen.

Domon beugte sich vor und legte Mat eine Hand auf den Arm. »Ihr habt getan, was Ihr sagtet. Bei meiner alten Großmutter! Es war ein holpriger Ritt, aber Ihr habt getan, was Ihr sagtet. Meinen Dank.«

Die beiden gingen los. Mat schüttelte nur den Kopf, winkte Thom zu und begab sich dann zu den Aes Sedai. »Teslyn. Edesina. Joline. Alles in Ordnung?«

»Das ist es«, sagte Joline.

»Gut, gut. Ihr habt genügend Lasttiere?«

»Sie sind brauchbar, Meister Cauthon«, sagte Joline. Dann verzog sie das Gesicht, was sie aber zu überspielen versuchte, und fügte hinzu: »Danke, dass Ihr sie uns überlasst.«

Mat lächelte breit. Zu erleben, wie sie versuchte, respektvoll zu sein, war schon recht amüsant! Offensichtlich hatte sie erwartet, von Elayne und den anderen mit offenen Armen empfangen zu werden – und nicht, dass man sie ohne Audienz aus dem Palast wies.

Joline musterte ihn, die üppigen Lippen fest aufeinandergepresst. »Ich hätte Euch gern gezähmt, Cauthon«, sagte sie dann. »Und ich habe noch immer Lust, eines Tages zurückzukehren und das zu erledigen.«

»Dann will ich mit angehaltenem Atem darauf warten«, erwiderte er und holte das Bündel hervor. Er hielt es ihr hin.

»Was ist das?« Sie griff nicht danach.

Er schüttelte das Bündel. »Ein Abschiedsgeschenk«, sagte er. »Wo ich herkomme, lässt man niemals Reisende aufbrechen, ohne ihnen etwas für unterwegs mitzugeben. Das wäre unhöflich.«

Zögernd nahm sie es entgegen und warf einen Blick hinein. Es handelte sich um ein Dutzend mit Zucker gepuderter Rosinenbrötchen, was sie offensichtlich überraschte. »Danke«, sagte sie stirnrunzelnd.

»Ich schicke Euch Soldaten mit«, sagte er. »Sie bringen mir meine Pferde zurück, wenn Ihr in Tar Valon eingetroffen seid.«

Joline wollte anscheinend aufbegehren, überlegte es sich dann aber anders. Welche Einwände konnte sie schon dagegen haben?

»Das ist akzeptabel, Cauthon«, sagte Teslyn und trieb ihren schwarzen Wallach näher heran.

»Ich gebe ihnen den Befehl, Euch zu gehorchen«, fuhr er fort und wandte sich ihr zu. »Damit Ihr Leute habt, die Ihr herumkommandieren könnt und die Euch die Zelte aufstellen. Aber da gibt es eine Bedingung.«

Teslyn hob eine Braue.

»Ich möchte, dass Ihr der Amyrlin etwas bestellt«, sagte er. »Falls das Egwene ist, sollte das einfach sein. Aber auch wenn sie es nicht ist, richtet Ihr es ihr bitte aus. Die Weiße Burg hat etwas, das mir gehört, und es ist bald so weit, dass ich es zurückverlange. Ich will es zwar nicht haben, aber was ich will, scheint heutzutage sowieso keine Rolle zu spielen. Also komme ich vorbei, und ich habe nicht vor, mich verdammt noch mal abweisen zu lassen.« Er lächelte. »Richtet es in genau diesen Worten aus.«

Man musste es Teslyn lassen; sie kicherte leise. »Ich kümmere mich darum, obwohl ich bezweifle, dass die Gerüchte stimmen. Elaida würde niemals den Amyrlin-Sitz aufgeben.«

»Vielleicht erlebt Ihr ja eine Überraschung.« Mat war auf jeden Fall überrascht gewesen, als er entdeckt hatte, dass Frauen Egwene als Amyrlin bezeichneten. Er hatte keine Ahnung, was in der Weißen Burg geschehen war, aber er hatte das ungute Gefühl, dass die Aes Sedai Egwene so tief in ihre Intrigen verstrickt hatten, dass sie ihnen niemals entkommen würde. Er spielte sogar mit dem Gedanken, selbst dorthin zu reiten und zu sehen, ob er sie dort wegschaffen konnte.

Aber auf ihn warteten andere Aufgaben. Im Moment würde Egwene allein zurechtkommen müssen. Sie war ein tüchtiges Mädchen; bestimmt kam sie auch eine Weile ohne ihn aus.

Thom stand neben ihm, einen nachdenklichen Ausdruck auf dem Gesicht. Er wusste nicht mit Sicherheit, dass Mat das Horn geblasen hatte – zumindest hatte Mat ihm das nie erzählt. Er hatte versucht, die ganze verdammte Geschichte zu vergessen. Aber Thom hatte es sich vermutlich gedacht.

»Nun, ich glaube, Ihr solltet aufbrechen«, sagte er. »Wo ist Setalle?«

»Sie bleibt hier«, sagte Teslyn. »Sie meinte, sie wollte Euch davon abhalten, zu viele Fehltritte zu machen.« Sie hob eine Braue, und Joline und Edesina nickten vielsagend. Sie war immer davon ausgegangen, dass Setalle eine geflohene Dienerin der Weißen Burg war, die sich vermutlich als junges Mädchen wegen irgendeiner Schandtat aus dem Staub gemacht hatte.

Nun, das bedeutete, dass er doch nicht die ganze Gruppe los war. Aber wenn er sich eine hätte aussuchen können, die blieb, dann wäre es Frau Anan gewesen. Vermutlich würde sie nach einer Möglichkeit suchen, ihren Ehemann und die Familie wiederzufinden, die mit dem Schiff aus Ebou Dar geflohen waren.

Juilin kam und führte Thera. War dieses ängstliche, verschreckte Wesen tatsächlich einst die Panarchin von Tarabon gewesen? Mat hatte schon Mäuse gesehen, die weniger zaghaft waren. Die Soldaten brachten ihnen zwei Pferde. Alles zusammen kostete ihn diese Expedition etwa vierzig Tiere und eine Abteilung Soldaten. Aber das würde es wert sein. Davon abgesehen hatte er vor, Männer und Pferde zurückzubekommen – zusammen mit Informationen, was nun wirklich in Tar Valon vor sich ging.

Er nickte Vanin zu. Der dicke Pferdedieb war nicht gerade begeistert gewesen, als er ihm befohlen hatte, die Gruppe nach Tar Valon zu begleiten und Informationen zu sammeln. Dabei hatte er angenommen, er würde jubeln, wenn man bedachte, wie viel er doch von den Aes Sedai hielt. Nun, er würde noch viel weniger begeistert sein, wenn er herausfand, dass Juilin mitkam; in der Nähe des Diebefängers neigte Vanin dazu, sich besonders unauffällig zu verhalten.

Vanin stieg auf einen braunen Wallach. Soweit es die Aes Sedai betraf, war er eine Rotwaffe und einer von Mats Kundschaftern, also niemand, der Misstrauen verdiente. Er sah nicht besonders bedrohlich aus, höchstens für eine Schüssel gekochte Kartoffeln. Vielleicht war er deshalb so gut in dem, was er tat. Mat brauchte keine gestohlenen Pferde, aber Vanins Talente konnte man für andere Aufgaben benutzen.

Mat wandte sich wieder den Aes Sedai zu. »Nun, dann will ich Euch nicht länger aufhalten.« Er trat zurück und vermied es, Joline anzusehen – in ihren Augen stand ein raubtierhafter Ausdruck, der ihn allzu sehr an Tylin erinnerte. Teslyn winkte, und seltsamerweise nickte Edesina ihm zu. Juilin hatte ein Winken für ihn und Thom übrig, und von Leilwin erhielt er ein Nicken. Die Frau kaute Steine zum Frühstück und Nägel zum Mittagessen, aber sie war fair. Vielleicht konnte er ja mit Tuon sprechen, damit sie ihre Stellung zurückbekam oder etwas in der Art.

Sei nicht albern, dachte er und winkte Bayle Domon zu. Zuerst musst du Tuon überzeugen, dich nicht zum Da’covale zu machen. Er war fest davon überzeugt, dass sie vorhatte, ihn zu ihrem Diener zu machen, ob er nun ihr Gemahl war oder nicht. Der Gedanke daran ließ seinen Kragen schweißfeucht werden.

Es dauerte nicht lange, und sie waren eine Staubwolke auf der Straße. Thom trat an seine Seite und schaute den Reitern nach. »Rosinenbrötchen?«

»Eine Tradition aus den Zwei Flüssen.«

»Von dieser Tradition habe ich noch nie gehört.«

» Sie ist recht unbekannt.«

»Ah, ich verstehe. Und was hast du mit diesen Rosinenbrötchen gemacht?«

»Spritzkraut«, antwortete Mat. »Da hat sie eine Woche lang einen blauen Mund, vielleicht auch zwei. Und sie wird die Brötchen mit niemandem teilen, außer vielleicht mit ihren Behütern. Joline ist süchtig nach den Dingern. Seit wir in Caemlyn sind, muss sie sieben oder acht Tüten davon verschlungen haben.«

»Nett.« Thom fuhr sich mit dem Knöchel über den Schnurrbart. »Aber kindisch.«

»Ich versuche zu meinen Wurzeln zurückzufinden. Du weißt schon, etwas von meiner verlorenen Jugend zurückzugewinnen.«

»Du bist keine zwanzig Winter alt!«

»Klar, aber ich hatte ein aufregendes Leben, als ich jünger war. Komm. Frau Anan ist geblieben, das bringt mich auf eine Idee.«


»Matrim Cauthon, Ihr braucht eine Rasur.« Frau Anan verschränkte die Arme, als sie ihn betrachtete.

Er berührte sein Gesicht. Das hatte Lopin jeden Morgen erledigt. Der Mann wurde so mürrisch wie ein Hund im Regen, wenn er ihn sich nicht um diese Dinge kümmern ließ, obwohl er den Bart in letzter Zeit hatte wachsen lassen, damit das aufhörte. Er juckte immer noch wie eine Woche alter Schorf.

Er hatte Setalle bei den Versorgungszelten gefunden, wo sie das Mittagessen beaufsichtigte. Soldaten der Bande mit dem eingeschüchterten Ausdruck von Männern, die strenge Befehl erhalten hatten, schnitten vornübergebeugt Gemüse und kochten Bohnen. Setalle wurde hier nicht gebraucht; die Küche der Bande hatten die Mahlzeiten auch ohne sie zustande gebracht. Aber nichts gefiel einer Frau mehr, als Männer zu finden, die gerade ausspannten, um ihnen dann Befehle zu geben. Darüber hinaus war Setalle eine ehemalige Gasthauswirtin und bemerkenswerterweise eine ehemalige Aes Sedai. Mat erlebte oft, dass sie sich um Dinge kümmerte, die keiner Aufsicht bedurften.

Nicht zum ersten Mal wünschte er, Tuon würde noch immer mit ihm reisen. Für gewöhnlich hatte Setalle Tuons Partei ergriffen, aber der Tochter der Neun Monde Gesellschaft zu leisten hatte ihr oft etwas zu tun gegeben. Nichts war gefährlicher für das geistige Wohlbefinden der Männer als eine Frau, die zu viel Zeit hatte.

Setalle trug noch immer die Mode von Ebou Dar, die Mat sehr schätzte, wenn man den tiefen Ausschnitt bedachte. Diese Art von Kleid stand einer vollbusigen Frau wie Setalle besonders gut. Nicht, dass er darauf achtete. Sie hatte goldene Ohrringe, ein imposantes Auftreten und ein paar graue Haare. So, wie der juwelengeschmückte Hochzeitsdolch in ihrem Dekollete steckte, schien er eine Warnung zu verkünden. Nicht, dass er auch da hingesehen hätte.

»Ich lasse mir absichtlich einen Bart stehen«, erwiderte Mat auf ihre Bemerkung. »Ich will…«

»Euer Mantel ist schmutzig«, sagte sie und nickte einem Soldaten zu, der ihr ein paar geschälte Zwiebeln brachte. Er warf sie verlegen in einen Topf und mied Mats Blick. »Und Euer Haar ist schrecklich. Ihr seht aus, als wärt Ihr in eine Schlägerei geraten, dabei ist es nicht einmal Mittag.«

»Mit mir ist alles in Ordnung«, beharrte Mat. »Ich mache mich später zurecht. Ihr habt die Aes Sedai nicht begleitet.«

»Jeder Schritt nach Tar Valon würde mich weiter von dort fortbringen, wo ich sein muss. Ich muss meinem Mann eine Nachricht zukommen lassen. Als wir uns trennten, dachte ich nun wirklich nicht daran, ausgerechnet in Andor zu landen.«

» Möglicherweise könnte ich bald Zugang zu jemandem bekommen, der Wegetore erschaffen kann«, sagte Mat. »Und ich …« Er runzelte die Stirn, als eine weitere Gruppe Soldaten mit ein paar dürren Wachteln ankam, die sie erlegt hatten. Die Soldaten schienen sich für den peinlichen Fang zu schämen.

Setalle befahl ihnen, die Vögel zu rupfen, ohne Mat zu beachten. Beim Licht, er musste sie aus diesem Lager schaffen. Nichts würde wieder seinen normalen Lauf nehmen, bevor sie nicht alle verschwunden waren.

»Seht mich nicht so an, Lord Mat«, sagte Setalle. »Noram ging in die Stadt, um sich nach Lebensmitteln umzusehen. Mir fiel auf, dass das Essen ohne die Aufsicht des Kochs nicht angemessen schnell fertig wird. Nicht alle von uns essen gern zu Mittag, wenn die Sonne untergeht.«

»Ich habe nichts gesagt.« Mat bemühte sich, seine Stimme völlig unbewegt zu halten. Er deutete mit dem Kopf zur Seite. »Können wir uns einen Moment unterhalten?«

Setalle zögerte, dann setzte sie sich mit ihm zusammen ein Stück von den anderen ab. »Was ist wirklich geschehen?«, fragte sie leise. »Ihr seht aus, als hättet Ihr unter einem Heuhaufen geschlafen.«

»Tatsächlich habe ich unter einem Wagen geschlafen. Und mein Zelt ist voller Blut. Eigentlich habe ich im Moment keine große Lust, mich dort umzuziehen.«

Ihr Blick wurde weicher. »Ich bedaure Euren Verlust. Aber das ist keine Entschuldigung, hier herumzustreifen und auszusehen, als hättet Ihr in der Gosse gelebt. Ihr müsst einen anderen Diener einstellen.«

Er runzelte die Stirn. »Den habe ich sowieso nie gebraucht. Ich kann mich um mich selbst kümmern. Hört, ich muss Euch um einen Gefallen bitten. Ich möchte, dass Ihr Euch eine Zeit lang um Olver kümmert.«

»Wozu?«

»Diese Kreatur könnte zurückkehren«, sagte er. »Und sie könnte versuchen, ihm etwas anzutun. Darüber hinaus breche ich bald mit Thom auf. Ich müsste zurückkommen. Ich sollte zurückkommen. Aber falls nicht, dann … Nun, es wäre mir lieber, wenn er nicht allein ist.«

Sie musterte ihn. »Er wäre nicht allein. Die Männer im Lager scheinen sehr viel für dieses Kind übrig zu haben.«

»Sicher, aber mir gefällt nicht, was sie ihm beibringen. Der Junge braucht ein besseres Vorbild als diesen Haufen.«

Aus irgendeinem Grund schien sie das zu amüsieren. »Ich habe bereits angefangen, dem Kind das Schreiben beizubringen. Falls nötig, kann ich mich eine Weile um ihn kümmern.«

»Großartig. Wunderbar.« Mat stieß einen erleichterten Seufzer aus. Frauen freuten sich immer über die Gelegenheit, einen Jungen zu unterrichten, solange er noch klein war; vermutlich glaubten sie ihm beibringen zu können, kein Mann zu werden, wenn sie sich dafür nur richtig ins Zeug legten. »Ich gebe Euch etwas Geld. Ihr könnt in die Stadt gehen und ein Gasthaus finden.«

»Ich war schon in der Stadt«, sagte Setalle. »Dort scheint jedes Gasthaus bereits bis unters Dach gefüllt zu sein.«

»Ich finde einen Ort für Euch«, versprach Mat. »Sorgt nur dafür, dass Olver in Sicherheit ist. Wenn die Zeit gekommen ist und ich jemanden für die Wegetore habe, lasse ich Euch nach Illian bringen, damit Ihr Euren Mann finden könnt.«

»Abgemacht«, sagte Setalle. Sie zögerte, blickte nach Norden. » Die … anderen, sie sind also weg?«

»Ja.« Glücklicherweise.

Sie nickte und sah aus, als würde sie etwas bedauern. Vielleicht hatte sie seine Männer nicht herumgescheucht, damit das Essen fertig wurde, sondern weil es sie geärgert hatte, sie beim Nichtstun zu sehen. Vielleicht hatte sie nach einer Beschäftigung gesucht.

»Es tut mir leid«, sagte Mat. »Was Euch auch immer passiert ist.«

»Die Vergangenheit ist vergangen«, erwiderte sie. »Und ich muss sie ruhen lassen. Ich hätte nie darum bitten sollen, mir den Gegenstand ansehen zu dürfen, den Ihr tragt. Diese letzten paar Wochen haben dazu geführt, dass ich mich vergaß.«

Mat nickte, verabschiedete sich und machte sich dann auf die Suche nach Olver. Und danach sollte er wirklich seinen Mantel wechseln. Und verflucht, er würde sich auch rasieren. Die Männer, die nach ihm suchten, konnten ihn gern umbringen, wenn sie wollten. Eine aufgeschlitzte Kehle würde diesem verfluchten Jucken vorzuziehen sein.


Elayne spazierte durch den Morgengarten des Palastes. Ihre Mutter hatte diesen kleinen Garten, der sich auf dem Dach des Ostflügels befand, immer geliebt. Ihn umgab eine steinerne weiße Brüstung, der hintere Teil wurde von einer Mauer begrenzt.

Von hier aus konnte Elayne die ganze Stadt überblicken. Früher hatte sie.die unteren Gärten gemocht, weil sie eine Zuflucht darstellten. In diesen Gärten hatte sie Rand kennengelernt. Sie drückte eine Hand auf den Bauch. Auch wenn sie sich gewaltig vorkam, war die Schwangerschaft erst seit Kurzem zu sehen. Unglücklicherweise hatte sie eine völlig neue Garderobe in Auftrag geben müssen. In den kommenden Monaten würde sie das vermutlich wiederholen müssen. Wie lästig.

Sie spazierte weiter durch den Dachgarten. In Übertöpfen blühten weiße Morgensterne. Die Blüten waren bei Weitem nicht so groß, wie sie hätten sein sollen, und sie verwelkten bereits. Die Gärtner beklagten sich, dass nichts half. Vor der Stadt verdorrten breitflächig Gras und Büsche, und der Flickenteppich aus Feldern und Äckern sah deprimierend braun aus.

Sie kommt, dachte Elayne. Sie ging den sorgfältig gepflegten Graspfad entlang. Die Bemühungen der Gärtner waren nicht völlig vergebens. Das Gras hier war größtenteils grün, und die Luft roch nach Rosen, die die Mauer hinaufwuchsen. Auch sie wiesen braune Stellen auf, aber sie waren erblüht.

Ein plätschernder Bach verlief durch die Gartenmitte, eingesäumt von sorgfältig angeordneten Flusskieseln. Dieser Bach floss nur, wenn sie den Garten besuchte; man musste das Wasser zu der Zisterne hochschleppen.

Sie blieb an einem anderen Aussichtspunkt stehen. Im Gegensatz zu der Tochter-Erbin konnte eine Königin nicht die Einsamkeit suchen. Birgitte ging neben ihr. Sie hatte die Arme über ihrer rotbemantelten Brust verschränkt und musterte Elayne.

»Was?«

»Du bist deutlich zu sehen«, sagte Birgitte. »Jeder mit einem Bogen und einem scharfen Auge könnte diese Nation mühelos wieder in einen Nachfolgekrieg stürzen.«

Elayne verdrehte die Augen. »Ich bin sicher, Birgitte. Mir wird nichts passieren.«

»Oh, dann entschuldige ich mich«, sagte Birgitte tonlos. »Die Verlorenen sind frei und hassen dich, die Schwarze Ajah ist zweifellos außer sich, dass du ihre Agenten gefangen genommen hast, und du hast diverse Adlige gedemütigt, die dir den Thron wegnehmen wollten. Offensichtlich schwebst du nicht in der geringsten Gefahr. Ich gehe dann Mittag essen.«

»Das könntest du durchaus«, fauchte Elayne. »Weil ich sicher bin. Min hatte eine Sicht. Meine Kinder kommen gesund zur Welt. Min hat sich noch nie geirrt!«

»Min sagte, deine Kinder würden stark und gesund zur Welt kommen«, erwiderte Birgitte. »Nicht dass du gesund bist, wenn sie geboren werden.«

»Wie sollte das denn gehen?«

»Ich habe Leute gesehen, die haben einen so harten Schlag auf den Kopf bekommen, dass sie nie wieder sie selbst waren, Mädchen«, sagte Birgitte. »Manche lebten noch jahrelang, sagten aber nie wieder ein Wort, mussten mit Suppe gefüttert werden und lebten mit der Bettpfanne. Du könntest einen Arm oder zwei verlieren und noch immer gesunde Kinder austragen. Und was ist mit den Menschen in deiner Umgebung? Verschwendest du nur einen Gedanken an die Gefahr, der du sie möglicherweise aussetzt?«

»Um Vandene und Sareitha tut es mir leid«, sagte Elayne. »Und um die Männer, die starben, um mich zu retten. Wage es ja nicht anzudeuten, dass ich keine Verantwortung für sie empfinden würde! Aber eine Königin muss die Last auf sich nehmen können, andere in ihrem Namen sterben zu lassen. Wir haben darüber gesprochen, Birgitte. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass ich unmöglich hätte wissen können, dass Chesmal und die anderen auf diese Weise eintreffen.«

» Wir sind zu dem Schluss gekommen «, sagte Birgitte durch zusammengebissene Zähne, »dass es sinnlos ist, weiter darüber zu debattieren. Aber ich will, dass du nicht vergisst, dass noch immer viele Dinge schiefgehen können.«

»Das werden sie nicht«, sagte Elayne und schaute auf die Stadt. »Meine Kinder sind sicher, und das bedeutet, dass ich es auch sein werde. Bis zu ihrer Geburt haben wir Zeit.«

Birgitte stieß einen verzweifelten Seufzer aus. »Dumme, sture …« Sie verstummte, als eine der Gardistinnen in der Nähe winkte, um ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Zwei der Kusinen betraten das Dach. Elayne hatte sie um ein Treffen gebeten.

Birgitte bezog mit verschränkten Armen neben einem der kleinen Kirschbäume Stellung. Die beiden Kusinen trugen schmucklose Kleider. Sumeko kam in Gelb, Alise in Blau. Alise war die kleinere der beiden; ihr braunes Haar wurde von grauen Strähnen durchzogen, und sie war schwächer in der Macht, darum war sie nicht so langsam gealtert wie Sumeko.

In der letzten Zeit waren beide Frauen selbstbewusster geworden. Es waren keine Kusinen mehr ermordet worden oder verschwunden; Careane hatte die ganze Zeit hinter den Morden gesteckt. Eine Angehörige der Schwarzen, verborgen in ihrer Mitte. Beim Licht, allein der Gedanke verschaffte Elayne eine Gänsehaut!

»Euer Majestät«, sagte Alise und machte einen Knicks. Sie sprach mit ruhiger, glatter Stimme und einem schwachen tarabonischen Akzent.

»Euer Majestät«, sagte auch Sumeko und machte den Hofknicks ihrer Begleiterin nach. Beide waren respektvoll – allerdings mehr Elayne gegenüber als anderen Aes Sedai. Nynaeve hatte den Kusinen ein Rückgrat verpasst, was die Aes Sedai und die Weiße Burg anging, obwohl Alise bei Elayne nie den Eindruck erweckt hatte, es zu brauchen.

Während der Belagerung hatte Elayne angefangen, sich über die Einstellung der Kusinen zu ärgern. In der letzten Zeit hatte sie sich allerdings besonnen. Sie waren ihr außerordentlich nützlich gewesen. Wie weit würde sie ihre neu gefundene Kühnheit wohl bringen?

Elayne nickte jeder Kusine zu, dann zeigte sie auf drei Stühle, die man im Schatten eines Kirschbaums aufgestellt hatte. Die drei Frauen setzten sich; links von ihnen folgte der Bach seinem verschlungenen Verlauf. Es gab Pfefferminztee. Die beiden Besucherinnen nahmen sich eine Tasse, achteten aber darauf, eine ordentliche Portion Honig hineinzutun. Ohne schmeckte jeder Tee zurzeit einfach nur fürchterlich.

»Wie geht es den Kusinen?«, fragte Elayne.

Die beiden Frauen sahen sich an. Verdammt. Sie war zu förmlich. Sie wussten, dass etwas im Busch war.

»Uns geht es gut, Euer Majestät«, sagte Alise. »Die meisten Frauen scheinen ihre Angst zu verlieren. Zumindest die, die genug Verstand hatten, sie überhaupt zu haben. Ich vermute, die anderen waren diejenigen, die allein loszogen und am Ende tot waren.«

»Es ist auch gut, nicht zu viel Zeit beim Heilen zu verbringen«, bemerkte Sumeko. »Das wurde sehr erschöpfend. Tag für Tag so viele Verwundete.« Sie verzog das Gesicht.

Alise war aus härterem Holz geschnitzt. Sie nippte mit ruhiger Miene an ihrem Tee. Nicht ausdruckslos und erstarrt wie eine Aes Sedai. Nachdenklich und warm, aber reserviert. Das war ein Vorteil, den diese Frauen gegenüber den Aes Sedai hatten – sie konnte man weniger argwöhnisch betrachten, da sie keine direkte Verbindung zur Weißen Burg hatten. Aber sie hatten auch nicht deren Autorität.

»Ihr ahnt, dass ich Euch um etwas bitten muss«, sagte Elayne und erwiderte Alises Blick.

»Tun wir das?«, fragte Sumeko und klang überrascht. Vielleicht hatte sie bei ihr zu viel vorausgesetzt.

Alise nickte auf matronenhafte Weise. »Ihr habt uns viel abverlangt, seit wir hier sind, Euer Majestät. Meiner Meinung nach nicht mehr, als Euch zustand. Bis jetzt.«

»Ich habe versucht, Euch in Caemlyn willkommen zu heißen«, sagte Elayne. »Da mir klar ist, dass Ihr nie wieder nach Hause zurück könnt. Nicht solange die Seanchaner Ebou Dar beherrschen.«

»Das ist richtig«, stimmte Alise ihr zu. »Aber wir können Ebou Dar kaum als unsere Heimat bezeichnen. Das war einfach nur ein Ort, an dem wir zusammenfanden. Weniger ein Zuhause, mehr eine Notwendigkeit. Viele von uns haben die Stadt nur als Drehscheibe benutzt, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.«

»Habt Ihr schon überlegt, wo Ihr jetzt bleiben wollt?«

»Wir gehen nach Tar Valon«, sagte Sumeko schnell. »Nynaeve Sedai sagte …«

»Ich bin davon überzeugt, dass für einige von Euch dort ein Platz ist«, unterbrach Elayne sie. »Für die, die Aes Sedai werden wollen. Egwene wird jeder Kusine, die noch einmal versuchen will, die Stola zu erringen, freudig eine zweite Chance geben. Aber was ist mit dem Rest von Euch?«

»Wir haben darüber gesprochen«, sagte Alise vorsichtig und mit zusammengekniffenen Augen. »Wir werden uns mit der Burg verbinden, als Ort, an dem Aes Sedai in den Ruhestand gehen können.«

»Aber Ihr wollt bestimmt nicht nach Tar Valon ziehen. Was würden die Kusinen als Anlaufpunkt nutzen, an dem man sich aus der Politik der Aes Sedai zurückziehen kann, wenn man sich in unmittelbarer Nähe der Weißen Burg befindet?«

»Wir hatten angenommen, dass wir hierbleiben«, sagte Alise.

»Das war auch meine Annahme«, erwiderte Elayne vorsichtig. »Aber Annahmen stehen auf schwachen Füßen. Ich möchte den Kusinen stattdessen Versprechen geben. Denn wenn Ihr schließlich in Caemlyn bleiben wollt, sehe ich keinen Grund, Euch keine direkte Unterstützung der Krone zukommen zu lassen.«

»Zu welchem Preis?«, fragte Alise. Sumeko sah mit einem verwirrten Stirnrunzeln zu.

»Kein großer. Eigentlich gar keiner. Ein gelegentlicher Gefallen, so wie Ihr ihn der Krone schon in der Vergangenheit erwiesen habt.«

In den Garten kehrte Stille ein. Der Wind trug leisen Lärm aus der Stadt unter ihnen herauf, und die Äste erzitterten in der Brise, ließen ein paar braune Blätter zwischen Elayne und die Kusinen fallen.

»Das klingt gefährlich.« Alise nahm einen Schluck Tee. »Ihr wollt doch sicherlich nicht vorschlagen, dass wir hier in Caemlyn eine rivalisierende Weiße Burg aufbauen.«

»Nichts dergleichen«, sagte Elayne schnell. »Schließlich bin ich selbst Aes Sedai. Und Egwene will die Kusinen so weitermachen lassen wie zuvor, solange sie ihre Autorität akzeptieren.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob wir so ›weitermachen‹ wollen wie zuvor«, sagte Alise. »Die Weiße Burg hat dafür gesorgt, dass wir unser Leben in der schrecklichen Furcht vor Entdeckung verbringen mussten. Dabei hat sie uns die ganze Zeit benutzt. Je länger wir darüber nachdenken, desto weniger finden wir das … amüsant.«

»Sprecht für Euch selbst, Alise«, sagte Sumeko. »Ich will mich der Prüfung stellen und in die Burg zurückkehren. Ich schließe mich den Gelben an, denkt an meine Worte.«

»Vielleicht, aber mich werden sie nicht haben wollen«, sagte Alise. »Ich bin zu schwach in der Macht. Ich akzeptiere keine halbherzigen Maßnahmen, ich will mich nicht jedes Mal verbeugen und widerspruchslos gehorchen müssen, wenn eine Schwester vorbeikommt und will, dass ich ihre Sachen wasche. Aber ich werde auch nicht aufhören, die Macht zu lenken. Ich gebe das nicht auf. Egwene Sedai sprach davon, die Kusinen weitermachen zu lassen, aber wenn wir das tun, können wir in aller Offenheit die Eine Macht benutzen?«

»Ich gehe davon aus«, sagte Elayne. »Das ist größtenteils Egwenes Idee. Mit Sicherheit würde sie keine Aes Sedai zu Euch in den Ruhestand schicken, wenn man ihnen verbieten müsste, die Macht zu lenken. Nein, die Tage, in denen Frauen außerhalb der Burg nur im Geheimen die Macht lenken können, sind vorbei. Die Windsucherinnen und die Weisen Frauen der Aiel haben bewiesen, dass sich die Zeiten ändern müssen.«

»Vielleicht«, sagte Alise. »Aber unsere Dienste der Krone von Andor zur Verfügung zu stellen ist eine ganz andere Sache.«

»Wir würden dafür sorgen, dass es kein Wettstreit mit den Interessen der Burg wird«, sagte Elayne. »Und Ihr würdet die Autorität der Amyrlin akzeptieren. Wo liegt also das Problem? Überall im Land dienen Aes Sedai den Monarchen.«

Alise trank einen Schluck Tee. »Das Angebot hat einen gewissen Nutzen. Aber es hängt von der Art der Gefälligkeiten ab, die die Krone von Andor verlangen wird.«

»Ich würde die Kusinen nur um zwei Dinge bitten. Reisen und Heilen. Ihr müsst nicht an unseren Konflikten teilnehmen, Ihr müsst kein Teil unserer Politik sein. Erklärt Euch einfach bereit, meine kranken Untertanen zu Heilen und jeden Tag eine Gruppe Frauen bereitzustellen, die Wegetore erschafft, wenn es die Krone wünscht.«

»Das klingt mir immer noch zu sehr nach Eurer eigenen Weißen Burg«, meinte Alise. Sumeko runzelte die Stirn.

»Nein, nein«, sagte Elayne. »Die Weiße Burg bedeutet Autorität, Politik. Ihr wärt etwas völlig anderes. Stellt Euch einen Ort in Caemlyn vor, an dem jeder Kranke kostenlos Geheilt werden kann. Stellt Euch eine Stadt ohne Krankheiten vor. Stellt Euch eine Welt vor, in der man Nahrungsmittel augenblicklich zu jenen schafft, die sie brauchen.«

»Und eine Königin, die Truppen bewegen kann, wann immer das nötig ist«, sagte Alise. »Deren Soldaten am einen Tag kämpfen und am nächsten Tag wieder unverletzt sind. Eine Königin, die einen hübschen Profit einstreicht, indem sie Kaufleuten für den Zugang zu ihren Wegetoren eine Gebühr abverlangt.« Sie trank einen Schluck Tee.

»Ja«, gab Elayne zu. Obwohl sie sich nicht sicher war, wie sie Egwene überzeugen sollte, sie auch dies tun zu lassen.

»Wir werden die Hälfte wollen«, sagte Alise. »Die Hälfte von allem, was Ihr für Reisen oder Heilen einnehmt.«

»Das Heilen ist kostenlos«, sagte Elayne energisch. »Für jeden, der kommt, ohne Rücksicht auf die Stellung. Die Behandlung findet nach der Schwere der Leiden statt, nicht nach der gesellschaftlichen Stellung.«

»Dem könnte ich zustimmen«, sagte Alise.

Sumeko wandte sich ihr mit weit aufgerissenen Augen zu. »Ihr könnt nicht für uns alle sprechen. Ihr selbst habt mir zum Vorwurf gemacht, dass das Nähkränzchen aufgelöst ist, da wir Ebou Dar verlassen haben. Darüber hinaus gilt nach der Regel…«

»Ich spreche nur für mich selbst, Sumeko«, sagte Alise. »Und für die, die sich mir anschließen wollen. Die Kusinen, wie wir sie kannten, gibt es nicht mehr. Wir wurden von der Notwendigkeit dominiert, im Untergrund bleiben zu müssen, und das ist vorbei.«

Sumeko verstummte.

»Meine Freundin, Ihr wollt Euch den Aes Sedai anschließen«, sagte Alise und legte ihr die Hand auf den Arm. »Aber mich werden sie nicht haben wollen, genauso wenig wie ich sie. Ich brauche etwas anderes, das gilt auch für andere.«

»Aber sich an die Krone von Andor zu binden …«

»Wir binden uns an die Weiße Burg«, sagte Alise. »Leben aber in Caemlyn. Beides hat seinen Nutzen. Wir sind nicht stark genug, um allein zu bestehen. Andor ist so gut wie jeder andere Ort auch. Es hat die Gunst der Weißen Burg und die Gunst des Wiedergeborenen Drachen. Und hauptsächlich ist es gerade hier, genau wie wir auch.«

»Ihr könntet Euch neu organisieren«, sagte Elayne und verspürte wachsende Begeisterung. »Die Regeln können neu geschaffen werden. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr Euch entscheiden, die Kusinen jetzt heiraten zu lassen. Ich halte das für das Beste.«

»Warum?«, wollte Alise wissen.

»Weil es sie an einen Ort bindet«, erklärte Elayne. »Das macht sie zu einer geringeren Bedrohung für die Weiße Burg. Es würde helfen, Euch von ihnen abzugrenzen. Das ist etwas, das nur sehr wenige Frauen aus der Weißen Burg tun, und es würde die Kusinen als Option viel attraktiver machen.«

Nachdenklich nickte Alise; Sumeko schien sich ebenfalls an die Vorstellung zu gewöhnen. Elayne musste sich leider eingestehen, dass sie die Frau nicht vermissen würde. Und sie würde die Kusinen drängen, die Wahl ihrer Anführer neu zu gestalten. Es würde viel bequemer sein, mit jemandem wie Alise arbeiten zu können, als immer gerade mit derjenigen, die zufällig die Älteste von ihnen war.

»Ich mache mir immer noch Sorgen wegen der Amyrlin«, sagte Alise. »Aes Sedai verlangen kein Geld für ihre Dienste. Was wird sie sagen, wenn wir damit anfangen?«

»Ich spreche mit Egwene«, wiederholte Elayne. »Ich bin sicher, wir können sie davon überzeugen, dass weder die Kusinen noch Andor eine Bedrohung für sie darstellen.«

Hoffentlich. Die Kusinen hatten die Chance, etwas Unglaubliches zu sein, die Chance, Andor einen ständigen und billigen Zugang zu Wegetoren zu gewährleisten. Damit wäre sie fast auf gleicher Höhe mit den Seanchanern.

Sie unterhielt sich noch eine Weile mit den Frauen und stellte sicher, dass sie das Gefühl hatten, die ihnen zustehende Aufmerksamkeit von ihr zu erfahren. Schließlich entließ sie sie, blieb aber noch im Garten, verweilte zwischen zwei Übertöpfen mit Hasenglöckchen, deren winzige vasenähnlichen Blüten in der Brise schwankten. Sie versuchte den Blick auf die Übertöpfe daneben zu meiden, die leer waren. Die dortigen Hasenglöckchen waren in blutroter Farbe erblüht und hatten tatsächlich rot geblutet, wenn man sie schnitt. Die Gärtner hatten sie verbrannt.

Irgendwann würden die Seanchaner nach Andor kommen. Die Minen und die fruchtbaren Landstriche ihres Reiches würden sie anlocken, genau wie die Nähe zu Tar Valon. Davon abgesehen ging Elayne davon aus, dass Leute, die von sich behaupteten, Artur Falkenflügels Erben zu sein, niemals zufrieden sein würden, bis sie alles, was einst ihrem Vorfahren gehört hatte, in ihrer Gewalt hatten.

Elayne schaute auf ihre Nation. Ihre Nation. Voller Menschen, die darauf vertrauten, dass sie sie beschützte und verteidigte. Viele, die ihren Thronanspruch unterstützt hatten, hatten wenig Vertrauen in sie. Aber sie war ihre beste Möglichkeit, ihre einzige Möglichkeit. Sie würde ihnen bald zeigen, wie klug ihre Wahl gewesen war.

Sich die Kusinen zu sichern war ein Schritt in die richtige Richtung. Früher oder später würden die Seanchaner Reisen können. Dazu mussten sie nur eine einzige Frau gefangen nehmen, die die Gewebe kannte, und bald würde jede Damane mit der nötigen Kraft die Tore erschaffen können. Elayne brauchte ebenfalls den Zugang dazu.

Was sie jedoch nicht hatte, waren Machtlenker, die man in der Schlacht benutzen konnte. Ihr war klar, dass sie die Kusinen nicht darum bitten konnte. Sie würden sich niemals dazu bereit erklären, genauso wenig wie Egwene. Zwang sie eine Frau, die Macht als Waffe einzusetzen, war sie nicht besser als die Seanchaner.

Leider wusste Elayne nur zu genau, welche Zerstörungen Machtlenker anrichten konnten. Als Birgitte den Angriff auf die Schwarzen Ajah geführt hatte, die sie in Caemlyn entführt hatten, hatte sie gefesselt in einem Wagen gelegen, aber sie hatte das Ergebnis gesehen. Hunderte von Toten, Hunderte von Verletzten, Dutzende Verbrannte. Qualmende, verkrümmte Leichen.

Sie brauchte etwas. Einen Vorteil gegen die Seanchaner. Etwas, um im Kampf gegen ihre Machtlenker einen Ausgleich zu haben. Dazu fiel ihr nur die Schwarze Burg ein. Sie stand auf Andors Boden. Sie hatte ihnen mitgeteilt, dass sie sie als Teil ihrer Nation betrachtete, aber bis jetzt hatte sie nicht mehr getan, als sie gelegentlich zu inspizieren.

Was würde aus ihnen werden, falls Rand starb? Konnte sie es wagen, sie für sich zu beanspruchen? Konnte sie es wagen, darauf zu warten, dass es ein anderer tat?

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