28 Seltsame Begebenheiten

Was willst du tun, mein Gemahl?«, fragte Faile. Sie waren nach den Verhandlungen mit den Weißmänteln in ihr Zelt zurückgekehrt. Perrins Vorgehensweise hatte sie überrascht – was ihre Zuversicht stärkte, aber auch beunruhigend war.

Er zog den Mantel aus. »Ich rieche etwas Seltsames im Wind, Faile. Etwas, das ich noch nie zuvor gerochen habe.« Er zögerte, sah sie an. »Es sind keine Wölfe da.« »Keine Wölfe?«

»Ich kann keine in der Nähe fühlen«, sagte Perrin mit entrücktem Blick. »Es waren welche da. Jetzt sind sie weg.«

Er zog das Hemd aus und enthüllte eine muskulöse Brust mit braunen Haaren. »Heute gab es viel zu wenig Vögel, zu wenig Geschöpfe im Unterholz. Das Licht soll diesen Himmel verbrennen. Ist er daran schuld, oder ist es etwas anderes?« Er seufzte und setzte sich auf ihre Schlafpritsche.

»Du gehst… dorthin!«, fragte Faile.

»Etwas stimmt nicht«, wiederholte er. »Ich muss vor der Gerichtsverhandlung so viel erfahren, wie ich kann. Im Wolfstraum könnten Antworten sein.«

Die Gerichtsverhandlung. »Perrin, mir gefällt die Idee nicht.«

»Du bist wütend wegen Maighdin.«

»Natürlich bin ich wütend wegen Maighdin«, sagte sie. Sie hatten zusammen Maiden durchgemacht, und die Frau hatte ihr nicht erzählt, dass sie die Königin des verdammten Andor war? Es ließ sie wie eine Idiotin aussehen – wie eine Angeberin aus einer kleinen Stadt, die vor einem durchreisenden Schwertmeister ihre Fertigkeiten mit der Klinge anpries.

»Sie wusste nicht, ob sie uns vertrauen konnte«, sagte Perrin. »Anscheinend floh sie vor einem der Verlorenen. Ich hätte mich auch versteckt.«

Faile starrte ihn finster an.

»Sieh mich nicht so an«, sagte er. »Sie hat es doch nicht getan, um dich schlecht aussehen zu lassen. Sie hatte ihre Gründe. Denk einfach nicht mehr daran.«

Das ließ sie sich ein bisschen besser fühlen; es war so schön, dass er jetzt für sich selbst eintrat. »Nun, ich frage mich allerdings, wer Lini sein wird. Eine seanchanische Königin? Meister Gill ist der untergetauchte König von Arad Doman?«

Perrin lächelte. »Sie sind bestimmt ihre Diener. Zumindest Gill ist der, der er zu sein vorgibt. Balwer hat vermutlich gerade einen Anfall, weil ihm das entgangen ist.«

»Ich wette, er hat es herausgefunden«, sagte sie und kniete neben ihm nieder. »Perrin, ich meinte das mit der Gerichtsverhandlung ernst. Ich mache mir Sorgen.« , »Ich lasse nicht zu, dass man mich gefangen nimmt«, sagte er. »Ich habe nur gesagt, dass ich einer Verhandlung beiwohne und ihnen Gelegenheit gebe, ihre Beweise zu präsentieren.«

»Und was soll das für einen Sinn haben?«

»Ich habe dadurch mehr Zeit zum Nachdenken«, sagte er, »und es könnte dafür sorgen, dass ich sie nicht töten muss. Ihr Hauptmann, Damodred – etwas an ihm riecht besser als bei vielen der anderen. Er wird nicht von Zorn oder Hass zerfressen. So bekommen wir unsere Leute zurück, und ich kann meine Sichtweise darlegen. Es tut einem Mann gut, seinen Standpunkt darzulegen. Vielleicht brauchte ich die ganze Zeit genau das.«

»Nun, also gut«, sagte sie. »Aber bitte ziehe in Zukunft in Betracht, mich vor deinen Plänen zu warnen.«

»Das werde ich«, sagte er, gähnte und legte sich hin. »Ehrlich gesagt ist mir das erst im letzten Augenblick eingefallen.«

Faile hielt mühsam eine Erwiderung zurück. Immerhin hatte diese Waffenstillstandsverhandlung auch ihr Gutes gehabt. Sie hatte Berelain bei ihrem Treffen mit Damodred beobachtet, und ihr war selten eine Frau begegnet, deren Augen so hell gestrahlt hatten. Möglicherweise konnte sie sich das ja zunutze machen.

Sie schaute nach unten. Perrin schnarchte bereits leise.


Perrin spürte im Rücken etwas Hartes und Glattes. Der viel zu dunkle, beinahe schon böse Himmel des Wolfstraums brodelte über dem Wald, der eine Mischung aus Tannen, Eichen und Zwerglorbeer darstellte.

Er stand auf, dann drehte er sich um und betrachtete, wogegen er sich gelehnt hatte. Ein gewaltiger Stahlturm streckte sich dem in Aufruhr befindlichen Himmel entgegen. Viel zu gerade und mit Wänden, die wie ein einziges Stück aus nahtlosem Metall aussahen, strahlte der Turm völlige Unnatürlichkeit aus.

Ich sagte doch, dass dieser Ort böse ist, meinte Springer, der plötzlich neben Perrin saß. Dummer Welpe.

»Das war nicht meine Entscheidung«, protestierte Perrin. »Ich bin hier aufgewacht.«

Dein Verstand ist darauf konzentriert. Oder der Verstand von jemanden, mit dem du verbunden bist.

» Mat«, sagte Perrin, ohne zu begreifen, wieso er das wusste. Die Farben erschienen nicht. Das taten sie im Wolfstraum nie.

Ist dieser Welpe genauso dumm wie du?

»Vielleicht sogar noch dümmer.«

Springer roch ungläubig, als könnte er sich nicht vorstellen, dass so etwas überhaupt möglich war. Komm, sagte der Wolf. Es ist zurückgekehrt.

»Was ist…«

Springer verschwand. Perrin folgte ihm stirnrunzelnd. Mittlerweile konnte er mühelos Springers Geruch folgen. Sie erschienen auf der Jehannahstraße, und da war wieder diese seltsame violette Glasmauer, die die Straße in zwei Hälften teilte, auf beiden Seiten in der Ferne verschwand und sich hoch in den Himmel erstreckte. Perrin begab sich zu einem Baum. Seine kahlen Äste schienen im Glas gefangen zu sein.

Springer schlich in der Nähe auf und ab. Wir haben dieses Ding schon einmal gesehen. Vor langer, langer Zeit. Vor so vielen Leben.

»Was ist das?«

Menschenwerk.

Springers Botschaft enthielt verwirrende Bilder. Fliegende, glühende Scheiben. Unmöglich hohe Gebäude aus Stahl. Dinge aus dem Zeitalter der Legenden? Springer verstand ihren Nutzen genauso wenig wie die Benutzung eines Pferdewagens oder einer Kerze.

Perrin musterte die Straße. Diesen Teil Ghealdans erkannte er nicht; es musste weiter in Richtung Lugard sein. Die Mauer war an einem anderen Ort erschienen als beim letzten Mal.

Ihm kam ein Gedanke, und er machte ein paar Sätze die Straße entlang. Einhundert Schritte entfernt schaute er zurück und fand seinen Verdacht bestätigt. Dieses Glas bildete keine Mauer, sondern eine gewaltige Kuppel. Lichtdurchlässig und mit einem violetten Schimmer versehen, schien sie sich über Meilen zu erstrecken.

Springer bewegte sich schemenhaft und blieb neben ihm stehen. Wir müssen gehen.

»Er ist da drin, nicht wahr?«, fragte Perrin. Er tastete umher. Eichentänzerin, Funke und Grenzenlos waren in der Nähe. Voraus, in der Kuppel. Sie reagierten mit schnellen, verzweifelten Botschaften; sie waren auf der Jagd und wurden gejagt.

»Warum flüchten sie nicht?« Springer übermittelte Verwirrung.

»Ich gehe zu ihnen«, sagte Perrin und versetzte sich nach vorn.

Nichts geschah.

Perrin verspürte einen Stich der Panik in seinen Eingeweiden. Was stimmte nicht? Er versuchte es erneut, versetzte sich dieses Mal zum Fundament der Kuppel.

Es funktionierte. Im nächsten Augenblick war er da, die glasähnliche Oberfläche stieg vor ihm empor. Es ist diese Kuppel, dachte er. Sie blockiert mich. Plötzlich verstand er das eingesperrte Gefühl, das die Wölfe übermittelten. Sie konnten nicht weg.

War das der Zweck dieser Kuppel? Wölfe gefangen zu setzen, damit der Schlächter sie töten konnte? Perrin knurrte, trat an die Kuppel heran. Sie zu passieren war unmöglich, indem er sich in sie hineindachte, aber vielleicht konnte er auf profanere Weise hindurch. Er hob eine Hand, zögerte. Er wusste nicht, was passieren würde, wenn er die Oberfläche berührte.

Die Wölfe schickten das Bild eines Mannes in Schwarz und Leder mit einem grausamen, von tiefen Furchen durchzogenen Gesicht und einem Lächeln auf den Lippen, als er Pfeile abschoss. Er roch falsch, so schrecklich falsch. Außerdem roch er nach toten Wölfen.

Perrin konnte sie nicht dort drinnen lassen. So wenig wie er Meister Gill und die anderen den Weißmänteln überlassen konnte. Voller Wut auf den Schlächter berührte er die Kuppeloberfläche.

Plötzlich verloren seine Muskeln jede Kraft. Sie fühlten sich wie Wasser an, seine Beine konnten ihn nicht länger aufrecht halten. Er stürzte hart zu Boden. Sein Fuß berührte noch immer die Kuppel – durchdrang sie. Die Kuppel schien substanzlos zu sein.

Seine Lungen arbeiteten nicht mehr; seine Brust zu dehnen war zu schwer. Panisch dachte er sich anderswo hin, aber es funktionierte nicht. Er war so gefangen wie die Wölfe!

Neben ihm erschien ein grauer Schemen. Zähne packten seine Schulter. Als Springer ihn aus der violetten Kuppel zog, kehrten Perrins Kräfte sofort zurück. Er schnappte keuchend nach Luft.

Dummer Welpe.

»Du würdest sie im Stich lassen?«, fragte Perrin. Seine Stimme klang heiser.

Nicht dumm, weil du in diesem Loch gräbst. Dumm, weil du nicht auf mich wartest für den Lall, dass dort Hornissen lauern. Springer wandte sich der Kuppel zu. Hilf mir, wenn ich falle. Der Wolf bewegte sich nach vorn, berührte die Kuppel mit der Nase. Er stolperte, richtete sich aber wieder auf und bewegte sich langsam weiter. Auf der anderen Seite brach er zusammen, aber seine Brust bewegte sich noch.

»Wie hast du das geschafft?«, fragte Perrin und stand auf.

Ich bin ich. Springer, wie er sich selbst sah – was dem entsprach, wer er war. Begleitet von Kraft und Stabilität.

Anscheinend bestand der Trick in der absoluten Kontrolle seiner selbst. Wie viele Dinge im Wolfstraum war die Stärke des geistigen Selbstbildes mächtiger als die Substanz der Welt selbst.

Komm. Sei stark, geh hindurch.

»Ich habe eine bessere Idee«, sagte Perrin und stand auf. Er stürmte so schnell er konnte los. Seine Glieder verloren beim Aufprall auf der violetten Kuppel augenblicklich sämtliche Kraft, aber der Schwung beförderte ihn auf die andere Seite, wo er sich abrollte und schließlich liegen blieb. Am Arm war die Haut abgeschürft und die Schulter schmerzte; er stöhnte.

Dummer Welpe. Du musst lernen.

»Dafür ist jetzt keine Zeit«, erwiderte Perrin und kam auf die Füße. »Wir müssen den anderen helfen.«

Pfeile flogen im Wind, dick, schwarz, tödlich. Das Gelächter des Jägers. Der Geruch eines Mannes, der abgestanden war. Der Mörder war hier. Springer und Perrin jagten die Straße entlang, und Perrin entdeckte, dass er innerhalb der Kuppel seine Geschwindigkeit erhöhen konnte. Vorsichtig versuchte er mit einem Gedanken einen Sprung auszuführen, und es gelang. Aber als er versuchte, sich nach draußen zu denken, geschah nichts.

Also war die Kuppel eine Barriere. In ihrem Inneren konnte er sich frei bewegen, aber er konnte keinen Ort außerhalb von ihr erreichen, indem er sich dort hinwünschte. Wenn er hinaus wollte, musste er die Wand der Kuppel körperlich durchdringen.

Eichentänzerin, Grenzenlos und Funke waren irgendwo vor ihnen. Und der Schlächter auch. Perrin knurrte – verzweifelte Bilder überfluteten ihn. Finstere Wälder. Der Schlächter. Er kam den Wölfen so groß vor, ein dunkles Ungeheuer mit einem Gesicht wie aus Stein gemeißelt.

Blut im Gras. Schmerzen, Wut, Entsetzen, Verwirrung. Funke war verletzt. Die anderen beiden sprangen hin und her, verspotteten den Schlächter und lenkten ihn ab, während Funke auf die Kuppelgrenze zukroch.

Vorsicht, Junger Bulle. Dieser Mann jagt gut. Er bewegt sich beinahe wie ein Wolf, auch wenn er falsch ist.

»Ich lenke ihn ab. Du schnappst dir Funke.«

Du hast Arme. Du trägst. Natürlich beinhaltete die Botschaft noch mehr: Springers Alter und Erfahrung, Perrin, der noch immer ein Welpe war.

Perrin biss die Zähne zusammen, widersprach aber nicht. Springer war erfahrener als er. Sie trennten sich, Perrin tastete nach Funke, entdeckte ihn verborgen in einer Baumgruppe und transportierte sich dorthin.

Der dunkelbraune Wolf hatte einen Pfeil im Oberschenkel, und er wimmerte leise und hinterließ eine Blutspur, während er weiterkroch. Perrin kniete schnell nieder und zog den Pfeil heraus. Der Wolf wimmerte weiter, roch ängstlich. Perrin hielt den Pfeil hoch. Er roch böse. Angewidert warf er ihn zur Seite und hob den Wolf auf.

In der Nähe raschelte etwas, und Perrin fuhr herum. Grenzenlos sprang zwischen zwei Bäumen vorbei. Er roch nervös. Die anderen beiden Wölfe führten den Schlächter in die andere Richtung.

Perrin drehte sich um und rannte auf die Kuppelwand zu, Funke auf den Armen. Er konnte nicht direkt zum Kuppelrand springen, weil er nicht wusste, wo er sich genau befand.

Mit wild pochendem Herzen brach er aus dem Unterholz hervor. Der Wolf auf seinen Armen schien stärker zu werden, als sie den Pfeil hinter sich zurückließen. Perrin lief schneller, mit einer Geschwindigkeit, die sich leichtsinnig anfühlte, überbrückte Hunderte von Schritten so schnell, dass alles verschwamm. Die Kuppelwand kam näher, und er blieb stehen.

Plötzlich war der Schlächter da, stand mit gespanntem Bogen vor ihm. Sein schwarzer Umhang wogte um seine Gestalt; er lächelte nicht länger, und sein Blick war finster.

Er ließ die Sehne los. Perrin versetzte sich und bekam nicht mit, wo der Pfeil landete. Er erschien an der Stelle, an der er die Kuppel betreten hatte; er hätte sofort dorthin springen sollen. Er warf sich gegen die violette Mauer und brach auf der anderen Seite zusammen, ließ Funke über den Boden rollen.

Der Wolf jaulte auf. Perrin landete hart.

Junger Bulle! Funke schickte ein Bild des Schlächters, so finster wie eine Gewitterwolke, wie er direkt hinter der Barriere mit gespanntem Bogen stand.

Perrin schaute erst gar nicht hin. Er versetzte sich, transportierte sich zu den Hängen des Drachenberges. Dort sprang er angespannt auf die Füße, der Hammer erschien in seiner Hand. Gruppen in der Nähe befindlicher Wölfe schickten ihren Gruß. Perrin ignorierte sie für den Moment.

Der Schlächter folgte ihm nicht. Ein paar angespannte Augenblicke später erschien Springer. »Sind die anderen entkommen?«, fragte Perrin.

Sie sind frei. Flüsterin ist tot. Das übermittelte Bild zeigte die Wölfin aus dem Blickpunkt der anderen Rudelangehörigen, wie sie Augenblicke nach Erscheinen der Kuppel getötet wurde. Funke hatte den Pfeil erwischt, als er voller Panik ihre Seite angestupst hatte.

Perrin knurrte. Um ein Haar wäre er weitergesprungen, um den Schlächter erneut zu konfrontieren, aber eine Warnung Springers stoppte ihn. Zu früh! Du musst lernen!

»Es geht nicht allein um ihn«, sagte Perrin. »Ich muss mir die Gegend um mein Lager und das der Weißmäntel ansehen. In der wachen Welt riecht dort etwas verkehrt. Ich muss sehen, ob dort etwas Seltsames ist.«

Etwas Seltsames? Springer schickte das Bild der Kuppel.

» Möglicherweise hat das miteinander zu tun.« Es war mehr als nur wahrscheinlich, dass die beiden seltsamen Dinge kein Zufall waren.

Such ein anderes Mal. Der Schlächter ist zu stark für dich. Perrin holte tief Luft. »Irgendwann muss ich ihm entgegentreten, Springer.« Nicht jetzt.

»Nein«, stimmte Perrin ihm zu. »Nicht jetzt. Jetzt üben wir.« Er wandte sich dem Wolf zu. »Und das machen wir jede Nacht, bis ich bereit bin.«


Rodel Ituralde wälzte sich auf seiner Pritsche herum; sein Hals war völlig verschwitzt. War es in Saldaea immer schon so heiß und schwül gewesen? Er sehnte sich nach seinem Zuhause, nach der kühlen Meeresbrise von Bandar Eban.

Alles fühlte sich falsch an. Warum hatte das Schattengezücht nicht angegriffen? Einhundert Möglichkeiten kamen ihm in den Sinn. Warteten sie auf neue Belagerungsmaschinen? Suchten sie nach Wäldern, um sie zu bauen? Oder reichte ihren Befehlshabern die Belagerung schon? Die ganze Stadt war eingekreist, aber mittlerweile mussten genügend Trollocs da sein, um sie überwältigen zu können.

Sie hatten mit ihren Trommeln angefangen. Rund um die Uhr. Bumm, bumm, bumm. Regelmäßig, wie der Herzschlag eines gewaltigen Tieres, wie der der Großen Schlange selbst, die sich um die Stadt wand.

Draußen brach die Morgendämmerung herein. Er war erst kurz nach Mitternacht zu Bett gegangen. Durhem, der den Befehl über die Morgenwache hatte, hatte angeordnet, Ituralde nicht vor Mittag zu stören. Sein Zelt stand in einem schattigen Alkoven des Hofes. Er hatte in der Nähe der Mauer sein wollen und ein richtiges Bett abgelehnt. Das war dumm gewesen. Auch wenn eine Pritsche früher völlig in Ordnung gewesen war, war er doch nicht mehr so jung wie einst. Morgen würde er sich darum kümmern.

Und jetzt schlaf, befahl er sich.

Das war nicht einfach. Die Anschuldigung, zu den Drachenverschworenen zu gehören, setzte ihm zu. In Arad Doman hatte er für seinen König gekämpft, für jemanden, an den er glaubte. Jetzt kämpfte er in einem fremden Land für einen Mann, dem er nur einmal begegnet war. Und das nur wegen seinem Bauchgefühl.

Beim Licht, war das heiß. Schweiß rann seine Wangen hinunter und ließ seinen Hals jucken. So früh am Morgen hätte es nicht so heiß sein dürfen. Das war unnatürlich. Diese verfluchten Trommeln, die noch immer dröhnten.

Er seufzte und stieg von seiner schweißnassen Pritsche. Sein Bein schmerzte. Das ging schon seit Tagen so.

Rodel, du bist ein alter Mann, dachte er, streifte den verschwitzten Lendenschurz ab und nahm sich einen der frisch gewaschenen. Er stopfte die Hose in die kniehohen Reitstiefel. Es folgte ein einfaches weißes Hemd mit schwarzen Knöpfen und sein grauer Mantel, der bis zum Kragen zugeknöpft wurde.

Er schnallte gerade das Schwert um, als sich eilige Schritte näherten, gefolgt von Geflüster. Die Unterhaltung wurde erregter, und er trat in dem Augenblick hinaus, als jemand sagte: » Lord Ituralde wird das wissen wollen!«

»Was wissen?«, fragte Ituralde. Ein Botenjunge zankte sich mit seinen Wächtern. Alle drei wandten sich ihm verlegen zu.

»Es tut mir leid, mein Lord«, sagte Connel. »Wir hatten den Befehl, Euch schlafen zu lassen.«

»Ein Mann, der in dieser Hitze schlafen kann, muss zur Hälfte eine Echse sein, Connel«, sagte Ituralde. »Junge, worum geht es?«

»Hauptmann Yoeli ist auf der Mauer, Herr«, sagte der Junge. Ituralde erkannte ihn – er war schon fast seit dem Beginn dieses Feldzuges bei ihm. » Er sagte, Ihr solltet kommen.«

Ituralde nickte. Er legte Connel die Hand auf den Arm. »Danke, dass Ihr auf mich aufpasst, alter Freund, aber diese Knochen sind nicht so zerbrechlich, wie Ihr vielleicht glaubt.«

Connel nickte errötend. Die Wächter schlossen sich Ituralde an, als er den Hof überquerte. Die Sonne war aufgegangen. Viele seiner Soldaten waren schon auf den Füßen. Zu viele. Er war nicht der Einzige, der nicht hatte schlafen können.

Auf der Mauer begrüßte ihn ein entmutigender Anblick. Auf dem sterbenden Land kampierten Abertausende Trollocs und hatten Feuer entzündet. Ituralde dachte nicht gern darüber nach, wo das Holz für diese Feuer herkam. Hoffentlich waren alle Bauern und Dörfler in der Nähe dem Aufruf zur Evakuierung gefolgt.

Yoeli stand neben einem Mann in einem schwarzen Mantel und hatte die Hände auf die steinerne Brüstung gelegt. Deepe Bhadar war der Dienstälteste der Asha’man, die al’Thor ihm überlassen hatte, und der Einzige, der sowohl den Drachen wie auch das Schwert am Kragen trug. Der Andoraner hatte ein flaches Gesicht und schwarzes Haar, das er lang trug. Ituralde hatte manchmal mitbekommen, wie die Männer in den schwarzen Mänteln vor sich hinmurmelten, aber nicht Deepe. Er schien sich völlig unter Kontrolle zu haben.

Yoeli warf ständig einen Blick auf den Asha’man; auch Ituralde fühlte sich in der Nähe von Männern, die die Macht lenken konnten, nicht besonders wohl. Aber sie stellten ein ausgezeichnetes Werkzeug dar, und sie hatten ihn nicht im Stich gelassen. Darum zog er es vor, sich von seinen Erfahrungen und nicht von Gerüchten leiten zu lassen.

»Lord Ituralde«, sagte Deepe. Der Asha’man salutierte Ituralde nie, sondern allein al’Thor.

»Was ist los?«, wollte Ituralde wissen und musterte die Trolloc-Horden. Es schien sich nichts verändert zu haben, seit er schlafen gegangen war.

»Euer Mann behauptet, etwas fühlen zu können«, sagte Yoeli »Da draußen.«

»Sie haben Machtlenker, Lord Ituralde«, sagte Deepe. »Ich vermute, es sind mindestens sechs, vielleicht auch mehr. Menschen, da ich die Macht spüren kann, die sie lenken und etwas Großes vorbereiten. Wenn ich mit zusammengekniffenen Augen die Lager am äußeren Rand betrachte, glaube ich manchmal Gewebe sehen zu können, aber das kann auch eine Einbildung sein.«

Ituralde fluchte. »Darauf haben sie also gewartet.«

»Worauf?«, fragte Yoeli.

»Mit eigenen Asha’man …«

»Das sind keine Asha’man«, sagte Deepe wild.

»Von mir aus. Mit eigenen Machtlenkern können sie diese Mauer so mühelos umstoßen wie einen Ziegelhaufen, Yoeli. Dieses Trolloc-Meer wird wie eine Flut hindurchströmen und Eure Straßen füllen.«

»Nicht, solange ich stehe«, sagte Deepe.

»Ich mag Entschlossenheit in einem Soldaten, Deepe«, erwiderte Ituralde, »aber Ihr seht so erschöpft aus, wie ich mich fühle.«

Deepe warf ihm einen unwirschen Blick zu. Schlafmangel hatte seine Augen gerötet, und er biss die Zähne zusammen. Die Muskeln in seinem Hals und seinem Gesicht traten angespannt hervor. Er erwiderte Ituraldes Blick, dann holte er tief und mühsam Luft.

»Ihr habt recht«, sagte er. »Aber daran kann keiner von uns etwas ändern.« Er hob die Hand und tat etwas, das Ituralde nicht sehen konnte. Ein roter Lichtblitz erschien über seiner Hand – das Signal, mit dem er die anderen zu sich rief. » Bereitet eure Männer vor, General, Hauptmann. Es dauert nicht mehr lang. Sie können eine derartige Ansammlung von Macht nicht lange ohne … Konsequenzen halten.«

Yoeli nickte und eilte los. Ituralde griff nach Deepes Arm, um seine Aufmerksamkeit zu haben.

»Ihr Asha’man seid als Hilfe zu wichtig, um Euch zu verlieren«, sagte Ituralde. »Der Drache hat uns hergeschickt, damit wir helfen, und nicht, um zu sterben. Wenn diese Stadt fällt, dann will ich, dass Ihr die anderen und so viele Verwundete nehmt, wie Ihr könnt, und verschwindet. Habt Ihr verstanden, Soldat?« »Das wird vielen meiner Männer nicht gefallen.« »Aber Ihr wisst, dass es besser so ist«, sagte Ituralde. »Oder?«

Deepe zögerte. »Ja. Ihr habt recht, wie so oft. Ich schaffe sie raus.« Er senkte die Stimme. »Das ist ein hoffnungsloser Widerstand, mein Lord. Was auch immer dort draußen vor sich geht, es wird tödlich sein. Es widert mich an, das vorschlagen zu müssen … aber was Ihr über meine Asha’man gesagt habt, gilt auch für Eure Soldaten. Lasst uns fliehen.« Er sprach das Wort »fliehen« mit Bitterkeit aus.

»Die Saldaeaner würden uns nicht begleiten.«

»Ich weiß.«

Ituralde dachte darüber nach. Aber dann schüttelte er den Kopf. »Jeder Tag, den wir hier ausharren, hält diese Ungeheuer einen Tag länger von meiner Heimat fort. Nein, ich kann nicht gehen, Deepe. Das hier ist immer noch der beste Ort, um zu kämpfen. Ihr habt gesehen, wie befestigt diese Gebäude sind; dort können wir uns ein paar Tage lang verschanzen, uns aufteilen, die Horden beschäftigen.«

»Dann könnten meine Asha’man bleiben und helfen.«

»Ihr habt Eure Befehle, mein Sohn. Ihr befolgt sie. Verstanden?«

Deepe schloss ruckartig den Mund, dann nickte er knapp. »Ich werde die …«

Den Rest konnte Ituralde nicht hören. Eine Explosion brüllte auf.

Ihren Einschlag fühlte er nicht. Im einen Moment stand er neben Deepe, im nächsten lag er auf dem Wehrgang, und die Welt um ihn herum war seltsam stumm. Schmerz tobte in seinem Kopf, und er hustete, hob eine zitternde Hand zum Gesicht und entdeckte, dass er blutete. Da war etwas in seinem rechten Auge; ein unerträglicher Schmerz durchzuckte es bei jedem Blinzeln. Warum war alles so still?

Er drehte sich herum, hustete erneut und kniff das rechte Auge zu; das andere tränte. Nur wenige Zoll entfernt von ihm endete die Mauer.

Er keuchte auf. Ein gewaltiges Stück der Nordmauer war einfach weg. Er stöhnte, schaute in die andere Richtung. Deepe hatte neben ihm gestanden …

Der Asha’man lag mit blutendem Kopf in der Nähe auf dem Wehrgang. Oberhalb der Stelle, wo das Knie hätte sein sollen, endete sein rechtes Bein in einem zerfetzten Stumpf aus Fleisch und gezacktem Knochen. Ituralde fluchte und stolperte vorwärts, sackte neben dem Mann auf die Knie. Unter Deepe sammelte sich eine Blutpfütze, aber er zuckte. Noch lebte er.

Ich muss Alarm geben …

Alarm? Die Explosion hätte Alarm genug sein müssen. Hinter der Mauer hatten aus dem Loch geschleuderte Steine die Gebäude in der Nähe schwer beschädigt. Draußen trabten Trollocs herbei, schleppten Flöße, mit denen sie den Graben überwinden wollten.

Ituralde nahm den Gürtel des Asha’man und band damit den Oberschenkel ab. Das war der einzige Gedanke, der ihn antrieb. Noch immer dröhnte sein Kopf von der Explosion.

Die Stadt ist verloren … Beim Licht! Sie ist verloren, einfach so!

Hände halfen ihm auf. Benommen schaute er sich um. Connel – er hatte die Druckwelle überlebt, auch wenn sein Mantel nur noch aus Fetzen bestand. Er zog Ituralde weg, während sich zwei Soldaten um Deepe kümmerten.

Die nächsten Minuten waren wie ein Fiebertraum. Ituralde stolperte die Mauertreppe hinunter und wäre um ein Haar kopfüber fünfzehn Fuß tief auf das Pflaster gestürzt. Allein Connels Hände verhinderten den Sturz. Und dann… ein Zelt? Ein großes Zelt mit aufgerollten Wänden? Ein Schlachtfeld sollte nicht so ruhig sein.

Eiseskälte schlug über ihm zusammen. Er schrie auf. Laute trommelten gegen seine Ohren und seinen Verstand. Schreie, berstender Stein, Trompeten, dröhnende Trommeln. Sterbende Männer. All das traf ihn auf einmal, als hätte man ihm Stöpsel aus den Ohren gerissen.

Er schüttelte sich, rang keuchend nach Luft. Er befand sich im Krankenzelt. Antail, der stille Asha’man mit dem schütteren Haar, stand über ihn gebeugt. Beim Licht, er war erschöpft! Zu wenig Schlaf und die Belastung durch das Heilen. Als ihn der Schlachtenlärm vereinnahmte, wurden seine Lider verräterisch schwer.

»Lord Ituralde«, sagte Antail. »Ich habe ein Gewebe, das wird Euch nicht gut fühlen lassen, aber Ihr werdet glauben, dass es Euch gut geht. Es könnte Euch schaden. Soll ich weitermachen?«

»Ich…«, sagte Ituralde. Das Wort kam nur als Murmeln heraus. »Es…«

»Blut und verdammte Asche«, murmelte Antail. Er griff zu. Eine weitere Welle der Macht durchströmte Ituralde. Es war, als würde ein Besen durch ihn hindurchfegen und Erschöpfung und Verwirrung mit sich nehmen, seine Sinne wiederherstellen und ihn sich wie nach einer großartigen Nachtruhe fühlen lassen. Sein rechtes Auge schmerzte nicht mehr.

Tief in seinem Inneren lauerte etwas, eine Erschöpfung. Die konnte er ignorieren. Er setzte sich auf, atmete ein und aus, dann sah er Antail an. »Also das ist ein nützliches Gewebe, mein Sohn. Ihr hättet mir sagen sollen, dass Ihr dazu imstande seid!«

»Es ist gefährlich«, wiederholte Antail. »Viel gefährlicher als die Version der Frauen, wie man mir sagte. In mancherlei Hinsicht effektiver. Ihr tauscht jetzige Aufmerksamkeit gegen eine größere Erschöpfung später.«

»Später sitzen wir nicht mitten in einer Stadt, die den Trollocs zum Opfer fällt. Zumindest nicht, wenn es das Licht will. Deepe?«

»Ich habe mich zuerst um ihn gekümmert.« Antail zeigte auf den Asha’man, der mit angesengter Kleidung und blutverschmiertem Gesicht auf einer Pritsche in der Nähe lag. Sein rechtes Bein endete in einem geheilten Stumpf, und er schien ruhig zu atmen, auch wenn er bewusstlos war.

»Connel!«, rief Ituralde.

»Mein Lord«, sagte der Soldat und trat vor. Er hatte eine Abteilung Soldaten mitgebracht, die als persönliche Leibwache dienten.

»Wir wollen uns diesen Schlamassel ansehen«, sagte Ituralde. Er rannte aus dem Zelt und schlug die Richtung zum Cordamorapalast ein. In der Stadt herrschte Chaos, Gruppen aus Saldaeanern und Domani eilten umher. Connel bewies Voraussicht und schickte einen Boten los, der Yoeli finden sollte.

Der Palast stand direkt in der Nähe des vorderen Stadttors. Die Explosion hatte seine Fassade beschädigt, aber das Gebäude sah noch immer stabil aus. Ituralde hatte es als Kommandoposten bestimmt. Die Männer würden erwarten, ihn hier zu finden. Sie rannten hinein. Connel trug Ituraldes Schwert – irgendwann war der Gürtel zerschnitten worden. Sie stiegen in die zweite Etage, dann rannten sie auf einen Balkon, der auf die von der Explosion verwüstete Gegend hinausschaute.

Es war, wie Ituralde befürchtet hatte: die Stadt war verloren. Die Bresche in der Mauer wurde von einem hastig zusammengezogenen Kommando verteidigt. Ein ständig wachsender Strom Trollocs schleuderte Flöße in den Graben, einige eilten bereits vorwärts, gefolgt von Blassen. Desorientierte Männer rannten durch die Straßen.

Hätte er mehr Zeit zur Vorbereitung gehabt, hätte er standhalten können, genau wie er Deepe gesagt hatte. Das war vorbei. Beim Licht, diese Verteidigung ist eine Katastrophe nach der anderen gewesen.

»Sammelt die Asha’man«, befahl Ituralde. »Und jeden meiner Offiziere, die Ihr finden könnt. Wir organisieren einen Rückzug durch Wegetore für die Männer.«

»Ja, mein Lord«, erwiderte Connel.

»Ituralde, nein!« Yoeli stürmte mit völlig verdreckter und zerrissener Uniform auf den Balkon.

»Ihr habt überlebt«, sagte Ituralde erleichtert. »Ausgezeichnet. Eure Stadt ist verloren. Es tut mir leid. Holt Eure Männer, und wir können zusammen …«

» Seht!«, sagte Yoeli, zog Ituralde zur Seite des Balkons und zeigte nach Osten. In der Ferne stieg eine dichte Rauchsäule in die Höhe. Ein Dorf, das die Trollocs verbrannt hatten?

»Das Wachfeuer«, fuhr Yoeli fort. »Meine Schwester hat Hilfe kommen sehen! Wir müssen bis zu ihrem Eintreffen durchhalten!«

Ituralde zögerte. »Yoeli«, sagte er leise, »wenn da eine Streitmacht kommt, dann kann sie nicht groß genug sein, um diese Horde aufzuhalten. Immer vorausgesetzt, es ist keine List. Das Schattengezücht erwies sich auch schon in der Vergangenheit als durchtrieben.«

»Gebt uns ein paar Stunden«, sagte Yoeli. »Haltet die Stadt mit mir und schickt Späher durch Eure sogenannten Wegetore, um zu sehen, ob da wirklich Truppen kommen.«

»Ein paar Stunden? Mit einer Bresche in Eurer Mauer? Wir sind in der Unterzahl, Yoeli.«

»Bitte«, flehte Yoeli. »Seid Ihr nicht einer der Großen Hauptmänner? Zeigt mir, was dieser Titel bedeutet, Lord Rodel Ituralde.«

Ituralde drehte sich um und wandte sich wieder der zerborstenen Mauer zu. Hinter ihm versammelten sich seine Offiziere in dem Zimmer. Die Reihe an der Mauer löste sich langsam auf. Sie würde nicht mehr lange halten.

Zeigt mir, was das bedeutet.

Vielleicht…

»Tymoth, seid Ihr da?«, bellte Ituralde.

Ein rothaariger Mann im schwarzen Mantel trat auf den Balkon. Nachdem Deepe nun ausgefallen war, hatte er den Befehl über die Asha’man. »Zur Stelle, Lord Ituralde.«

»Sammelt Eure Männer«, sagte Ituralde drängend. »Übernehmt diese Bresche und lasst die Soldaten dort den Rückzug antreten. Ich will, dass die Asha’man den Abschnitt halten. Ich brauche eine halbe Stunde. Ich will, dass Ihr Trollocs mit Eurer ganzen Kraft trefft, mit allem, was Ihr habt. Habt Ihr mich verstanden? Alles, was Ihr habt! Wenn Ihr danach noch eine Kerze mit der Macht anzünden könnt, hole ich mir Eure Haut.«

»Herr«, sagte der Asha’man. »Unser Rückzug?«

»Lasst Antail im Heilungszelt. Er kann ein Wegetor erschaffen, durch das die Asha’man fliehen können. Aber jeder andere, haltet diese Bresche!«

Tymoth eilte los. »Yoeli, Eure Aufgabe besteht darin, Eure Streitkräfte zu sammeln und sie davon abzuhalten, durch die Stadt zu rennen, als wäre …« Ituralde hielt inne. »Als wäre es das verdammte Tarmon Gai’don«, hatte er sagen wollen. Verflucht! »… als wäre kein Verantwortlicher da. Wenn wir die Stadt halten wollen, dann müssen wir organisiert und diszipliniert sein. In zehn Minuten brauche ich vier Kavalleriekompanien ordentlich formiert auf dem Hof. Gebt die Befehle.«

»Ja, mein Lord«, sagte Yoeli und wandte sich zum Gehen.

»Ach ja.« Ituralde drehte sich um. »Ich brauche ein paar Wagenladungen Feuerholz, so viele Fässer Öl, wie Ihr auftreiben könnt, und sämtliche Verwundeten aus beiden Heeren, die noch laufen können, aber Arme oder Gesicht verletzt haben. Und schafft mir jeden in der Stadt herbei, der jemals einen Bogen in der Hand hielt. Geht!«


Beinahe eine Stunde später stand Ituralde mit auf dem Rücken verschränkten Händen da und wartete. Er hatte den Balkon verlassen und schaute aus einem Fenster, damit er die Deckung nicht verließ. Aber er hatte noch immer einen guten Blick auf die Schlacht.

Draußen vor dem Palast gab die Reihe der Asha’man schließlich nach. Sie hatten ihm fast eine Stunde Zeit verschafft und in einer eindrucksvollen Zurschaustellung der Macht eine Welle Trollocs nach der anderen zurückgeschlagen. Glücklicherweise waren die feindlichen Machtlenker nicht aufgetaucht. Hoffentlich waren sie nach dem Beweis ihrer Macht erschöpft.

Mit der bedrückenden Wolkendecke am Himmel und den Massen von Gestalten, die die Hügel jenseits der Stadt verfinsterten, fühlte es sich wie die Abenddämmerung an. Glücklicherweise brachten die Trollocs weder Sturmleitern noch Belagerungstürme mit. Nur eine Welle nach der anderen, die von Myrddraals zum Angriff aufgehetzt gegen die Bresche anstürmten.

Ein paar der in schwarze Mäntel gekleideten Männer hinkten bereits erschöpft von der Bresche fort. Der Rest schleuderte einen letzten Schwall Feuer und explodierende Erde, dann folgten sie ihren Gefährten. Wie befohlen ließen sie die Lücke völlig unverteidigt.

Kommt schon, dachte Ituralde, als sich der Rauch auflöste.

Die Trollocs spähten durch den Qualm und kletterten über die Kadaver ihrer von den Asha’man getöteten Artgenossen. Das Schattengezücht bewegte sich auf Hufen und dicken Tatzen. Manche schnüffelten.

Die Straßen hinter der Bresche war mit sorgfältig platzierten Männern gefüllt, die blutig und verwundet waren. Sie fingen an zu schreien, als die Trollocs kamen, ergriffen wie befohlen die Flucht. Vermutlich war nichts von ihrer Furcht vorgetäuscht. Die Szene sah jetzt noch viel schrecklicher aus, da viele der umstehenden Gebäude wie durch die Explosion beschädigt qualmten; Dächer brannten, Rauch strömte aus den Fenstern. Die Trollocs würden nicht wissen, dass die Schieferdächer so gebaut waren, dass sie nicht brennen konnten, und Gesetze verhinderten, dass Häuser zu viel Holz enthielten.

Ituralde hielt den Atem an. Die Trollocs stürmten heulend und brüllend in die Stadt, Gruppen brachen auseinander, als sie die Gelegenheit zum Morden und Zerstören sahen.

Hinter Ituralde knallte die Tür auf, und Yoeli eilte hinein. »Die letzten Ränge sind an Ort und Stelle. Funktioniert es?«

Ituralde antwortete nicht; der Beweis war unter ihnen. Die Trollocs gingen davon aus, dass sie ihre Schlacht gewonnen hatten – die zerstörerische Macht der Asha’man hatte den Eindruck eines letzten Aufbäumens erweckt, und in der Stadt schien Chaos zu herrschen. Die Trollocs schwärmten mit offensichtlicher Begeisterung durch die Straßen. Selbst die eintreffenden Myrddraals machten einen sorglosen Eindruck.

Die Trollocs mieden die brennenden Gebäude und den mit einer Mauer umgebenen Palast. Sie bewegten sich tiefer in die Stadt hinein und trieben die flüchtenden Soldaten eine breite Prachtstraße auf der Ostseite der Stadt entlang. Sorgfältig aufgetürmte Trümmerberge lockten die meisten von ihnen diesen Weg entlang.

»Strebt Ihr danach, irgendwann einmal General zu werden, Hauptmann Yoeli?«, fragte Ituralde leise.

»Meine Bestrebungen sind unwichtig«, erwiderte Yoeli. »Aber ein Mann wäre ein Narr, würde er auf die Hoffnung verzichten, etwas lernen zu können.«

»Dann passt jetzt gut auf, mein Sohn.« In den Gebäuden entlang der von den Trollocs ausgesuchten Straße flogen die Fensterläden auf. Bogenschützen strömten auf die Balkone. »Solltet Ihr auch jemals nur den Eindruck haben, dass Ihr genau das tut, was der Feind von Euch erwartet, dann macht etwas anderes.«

Pfeile flogen, und Trollocs starben. Große Armbrüste, die Bolzen von beinahe Speergröße verschossen, zielten auf die Blassen, und man konnte viele sehen, die über das Pflaster taumelten und nicht wussten, dass sie bereits tot waren, als Dutzende mit ihnen verbundene Trollocs fielen. Verwirrt und wütend brüllten die noch lebenden Kreaturen auf und hämmerten gegen die Türen der Gebäude, die mit Bogenschützen gefüllt waren. Aber während sie damit beschäftigt waren, ertönte Donner. Hufschläge. Yoelis beste Kavalleristen stürmten mit angelegten Lanzen die Straßen entlang. Sie ritten die Trollocs nieder und erschlugen sie.

Die Stadt wurde zu einem gewaltigen Hinterhalt. Ein Soldat hätte um keinen besseren Vorteil als diese Gebäude bitten können, und die Straßen waren breit genug, um jenen, die ihren Verlauf kannten, genug Platz für einen Sturmangriff zu bieten. Das Freudengebrüll der Trollocs verwandelte sich in Schmerzensschreie, und in ihrer Hast zu entkommen kletterten sie übereinander. Sie endeten auf dem Hof an der zerstörten Mauer.

Die saldaeanischen Reiter folgten ihnen; Hufe und Flanken der Pferde waren nass vom giftigen Blut der Erschlagenen. An den Fenstern der »brennenden« Häuser erschienen Männer – die Brände waren in sorgfältig ausgesuchten und abgesperrten Zimmern gelegt worden – und schossen Pfeile in den großen Hof. Andere warfen den Reitern neue Lanzen zu; mit Nachschub ausgestattet formierten sie sich neu und ritten in die Trollocs hinein. Der Beschuss hörte auf, und die Kavallerie ritt einen Sturmangriff auf den Hof.

Hunderte Trollocs verendeten. Vielleicht auch Tausende. Die, die nicht starben, eilten durch die Lücke. Die meisten Myrddraals flohen. Die, die blieben, waren Ziele für die Bogenschützen. Einen von ihnen zu töten konnte Dutzende mit ihnen verbundene Trollocs töten. Die Blassen stürzten zu Boden – viele von ihnen mit Dutzenden Pfeilen gespickt.

»Ich gebe den Befehl, sich zu sammeln und wieder die Bresche zu halten«, sagte Yoeli eifrig.

»Nein.«

»Aber…«

»Der Kampf an der Bresche bringt uns nichts«, sagte Ituralde. »Die Männer sollen in andere Gebäude gehen und die Bogenschützen andere Positionen einnehmen. Gibt es Lagerhäuser oder andere große Gebäude, in denen sich die Reiter verstecken können? Schickt sie schnell dorthin. Und dann warten wir.«

»Aber sie werden sich nicht noch einmal überraschen lassen.«

»Nein«, sagte Ituralde. »Aber sie werden langsam und vorsichtig vorgehen. Stellen wir uns ihnen in offener Schlacht, verlieren wir. Halten wir stand und erkaufen uns Zeit, gewinnen wir. Das ist der einzige Ausweg, Yoeli. Zu überleben, bis Hilfe kommt. Wenn sie kommt.«

Yoeli nickte.

»Unsere nächste Falle wird nicht so viele töten, aber Trollocs sind im Herzen Feiglinge. Das Wissen, dass sich jede Straße unvermittelt in eine Todesfalle verwandeln kann, wird sie zögern lassen und uns mehr Zeit verschaffen, als die Hälfte unserer Männer bei der Verteidigung dieser Mauerlücke zu verlieren.«

»In Ordnung«, sagte Yoeli. Dann zögerte er. »Aber … bedeutet das nicht, dass sie unsere Handlungen voraussehen? Diese Phase des Plans wird nur funktionieren, weil sie mit unserem Hinterhalt rechnen.«

»Ich schätze, das stimmt.«

»Also sollten wir nicht etwas anderes tun? Ihr habt doch gesagt, dass wir den Plan ändern sollten, wenn wir ahnen, dass der Feind unsere Absicht kennt.«

»Ihr denkt zu viel darüber nach, mein Sohn. Geht und tut, was ich befohlen habe.«

»Äh, ja, mein Lord.« Er eilte los.

Genau das ist der Grund, warum ich niemals Taktik unterrichten sollte, dachte Ituralde. Es war schwer, den Schülern zu vermitteln, dass es eine Regel gab, die alle anderen übertrumpfte: Vertraue immer auf deinen Instinkt. Die Trollocs würden Angst haben. Das konnte er sich zunutze machen. Er würde alles benutzen, das sie ihm gaben.

Er dachte nur ungern zu intensiv über diese Regel nach, denn dann würde er nicht um die Tatsache herumkommen, dass er sie bereits gebrochen hatte. Denn jeder seiner Instinkte brüllte ihn an, dass er diese Stadt schon vor Stunden hätte verlassen sollen.

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