33 Eine gute Suppe

Siuans Suppe war überraschend gut. Sie aß einen weiteren Löffel und hob eine Braue. Es war eine schlichte Mahlzeit, Brühe und Gemüse, mit ein paar Stücken Huhn, aber wenn das meiste Essen fad schmeckte, erschien das hier wie ein Wunder. Sie probierte den Zwieback. Keine Getreidekäfer? Köstlich!

Nynaeve war einfach verstummt; ihre Schüssel stand vor ihr und dampfte vor sich hin. Frisch erhoben hatte sie früher am Tag die Eide abgelegt. Sie saßen im Arbeitszimmer der Amyrlin; die Fensterläden standen weit geöffnet, und goldenes Licht strömte herein. Auf dem Boden lagen neue grüne und golddurchwirkte Teppiche.

In Gedanken schalt sich Siuan, dass sie sich von der Suppe hatte ablenken lassen. Nynaeves Bericht erforderte eine sorgfältige Betrachtung. Sie hatte von ihrer Zeit bei Rand al’Thor erzählt und vor allem von Ereignissen wie der Reinigung. Natürlich hatte Siuan Berichte über die Reinigung von Saidin gehört; während der Spaltung hatte ein Asha’man das Lager besucht. Sie hatte das alles mit Skepsis betrachtet, aber jetzt konnte man es nicht mehr abstreiten.

»Nun«, sagte die Amyrlin, »ich freue mich über diese längere Erklärung, Nynaeve. Die Reinigung von Saidin macht die Vorstellung des Bundes zwischen Asha’man und Aes Sedai sicherlich weniger unerfreulich. Ich wünschte, Rand hätte mich während seines Besuches darüber unterrichtet.« Sie sagte es völlig ruhig, aber Siuan wusste, dass ihr die Vorstellung, dass Männer mit Frauen den Bund eingingen, ungefähr so gefiel, wie einem Hauptmann eine Feuersbrunst in seiner Festung.

»Das schätze ich auch«, sagte Nynaeve und verzog die Lippen. »Falls es eine Rolle spielt, Rand hält nichts davon, dass die Männer mit Frauen den Bund eingehen.«

»Es spielt keine Rolle, ob er das tut oder nicht«, sagte Egwene. »Er ist für die Asha’man verantwortlich.«

»So wie du für die Aes Sedai, die ihn in Ketten legten und schlugen?«, fragte Nynaeve. »Mutter?«

»Möglicherweise ein Erbe von Elaida«, erwiderte Egwene, deren Augen ein kleines bisschen schmaler wurden.

Es war richtig von ihr, Nynaeve zurückzuholen, dachte Siuan und nahm einen Löffel Suppe. Sie ergreift viel zu oft seine Partei.

Nynaeve seufzte und griff nach ihrem Löffel. »Das sollte keine Anschuldigung sein. Ich wollte nur aufzeigen, wie er denkt. Beim Licht! Ich war mit vielen seiner Entscheidungen nicht einverstanden, vor allem in letzter Zeit. Aber ich kann verstehen, wieso er diesen Weg einschlug.«

»Allerdings hat er sich verändert«, meinte Siuan nachdenklich. »Das sagtet Ihr selbst.«

»Ja«, seufzte Nynaeve. »Die Aiel sagen, er hat den Tod umarmt. «

»Das habe ich von ihnen auch einmal gehört«, sagte Egwene. »Aber ich schaute ihm in die Augen, und da hat sich noch etwas anderes verändert, etwas Unerklärliches. Der Mann, den ich sah …«

»Er erschien anders als der, der Natrins Hügel zerstörte?« Bei dem Gedanken erschauderte Siuan.

» Der Mann, den ich sah, hätte diesen Ort nicht zu zerstören brauchen«, sagte Egwene. »Die Menschen dort wären ihm einfach gefolgt. Hätten sich seinen Wünschen gebeugt. Einfach, weil er das ist, was er ist.«

Die drei Frauen schwiegen.

Egwene schüttelte den Kopf und aß einen Löffel. Sie hielt inne, dann lächelte sie. »Nun, wie ich sehe, ist es eine gute Suppe. Vielleicht sind die Dinge ja doch nicht so schlimm, wie ich fürchtete.«

»Die Zutaten kommen aus Caemlyn«, bemerkte Nynaeve. »Ich hörte, wie die Dienstmägde das sagten.« »Oh.«

Noch mehr Schweigen.

»Mutter«, sagte Siuan bedächtig. »Die Frauen sind noch immer wegen der Todesfälle in der Burg besorgt.«

»Dem stimme ich zu«, sagte Nynaeve. »Die Schwestern starren einander voller Misstrauen an. Das bereitet mir Sorgen. «

»Du hättest sie mal früher sehen sollen«, erwiderte Egwene. »Während Elaidas Herrschaft.«

»Falls das schlimmer als jetzt war«, sagte Nynaeve, »dann bin ich froh, dass ich nicht hier war.« Sie warf einen Blick auf ihren Großen Schlangenring. Das tat sie in letzter Zeit oft. Wie ein Fischer mit einem neuen Boot oft in Richtung Dock sah und lächelte. Obwohl sie immer darauf beharrt hatte, Aes Sedai zu sein, und obwohl sie diesen Ring nun schon so lange Zeit trug, war sie offensichtlich zufrieden, die Prüfung bestanden und die Drei Eide abgelegt zu haben.

»Es war schrecklich«, sagte Egwene. »Und ich habe nicht vor, es wieder so weit kommen zu lassen. Siuan, der Plan muss durchgeführt werden.«

Siuan runzelte die Stirn. »Ich habe die anderen unterrichtet. Aber ich halte das für keine gute Idee, Mutter. Sie sind kaum gut genug ausgebildet.«

»Worum geht es?«, wollte Nynaeve wissen.

»Aes Sedai«, sagte Egwene. »Sorgfältig ausgewählt und mit Traum-Ter’angrealen ausgestattet. Siuan zeigt ihnen, wie Tel’aran’rhiod funktioniert.«

»Mutter, dieser Ort ist gefährlich.«

Egwene aß einen Löffel Suppe. »Ich glaube, das weiß ich besser als die meisten. Aber es ist notwendig; wir müssen die Mörder zu einer Konfrontation verleiten. Ich veranstalte ein ›geheimes‹ Treffen meiner loyalsten Aes Sedai in der Welt der Träume; vielleicht noch ein paar zusätzliche Hinweise, dass andere wichtige Leute ebenfalls daran teilnehmen. Siuan, Ihr habt die Windsucherinnen benachrichtigt?«

Siuan nickte. »Allerdings wollen sie wissen, was sie dafür bekommen, wenn sie sich mit Euch treffen.«

»Die Leihgabe der Traum-Ter’angreale wird reichen«, meinte Egwene trocken. »Nicht alles muss auf einen Handelsvertrag hinauslaufen.«

»Für die meisten von ihnen schon«, sagte Nynaeve. »Aber darum geht es auch nicht. Du lädst Windsucherinnen ein, um Mesaana aus der Reserve zu locken?«

»Nicht ganz genau. Ich werde die Windsucherinnen zur gleichen Zeit an einem anderen Ort treffen. Und auch ein paar der Weisen Frauen. Genug von ihnen, um Mesaana auf die Idee zu bringen, dass sie uns an diesem Tag unbedingt im Tel’aran’rhiod ausspionieren sollte – wir gehen von der Voraussetzung aus, dass sie Spione hat, die die anderen Gruppen an Machtlenkerinnen beobachten.

Du und Siuan veranstaltet ein Treffen im Saal der Burg, aber das wird ein Vorwand sein, um Mesaana oder ihre Handlanger aus dem Versteck zu locken. Mit Schutzgeweben und ein paar Schwestern, die alles gut verborgen beobachten, werden wir sie gefangen nehmen können. Siuan wird nach mir schicken, sobald sie in der Falle sitzen.«

Nynaeve runzelte die Stirn. »Es ist ein guter Plan, abgesehen von einer Sache. Es gefällt mir nicht, dass du dich in Gefahr begibst. Lass mich diesen Kampf führen. Das schaffe ich.«

Egwene musterte Nynaeve, und Siuan bekam einen Einblick in die wahre Egwene. Nachdenklich. Mutig, aber berechnend. Sie sah auch Egwenes Erschöpfung, die Last der Verantwortung. Dieses Gefühl kannte Siuan gut.

»Ich muss zugeben, dass deine Sorge durchaus berechtigt ist«, sagte Egwene. »Seit meiner Gefangennahme durch Elaidas Handlanger außerhalb von Tar Valon frage ich mich, ob ich mich nicht zu sehr in Gefahr begebe, mich zu sehr in Einzelheiten verstricke.«

»Ganz genau«, sagte Nynaeve.

»Aber wir kommen nun einmal nicht um die einfache Tatsache herum, dass ich diejenige von uns bin, die am besten mit Tel’aran’rhiod umgehen kann«, fuhr Egwene fort. »Ihr beide seid gut darin, keine Frage, aber ich habe die größere Erfahrung. In diesem Fall bin ich nicht nur die Anführerin der Aes Sedai. Ich bin ein Werkzeug, das die Weiße Burg benutzen muss.« Sie zögerte. »Ich habe es geträumt, Nynaeve. Sollten wir Mesaana hier nicht besiegen können, könnte alles verloren sein. Wird alles verloren sein. Das ist nicht der Augenblick, um unsere Werkzeuge in Reserve zu halten, wie wertvoll sie auch sein mögen.«

Nynaeve griff nach ihrem Zopf, aber der reichte nur noch bis zu ihrer Schulter. Das ließ sie mit den Zähnen knirschen. »Da könntest du recht haben. Aber es gefällt mir nicht.«

»Die Traumgängerinnen der Aiel…«, sinnierte Siuan. »Mutter, Ihr sagtet, Ihr trefft Euch mit ihnen. Wären sie vielleicht bereit, uns zu helfen? Ich könnte mich viel eher mit der Vorstellung anfreunden, dass Ihr kämpft, wenn ich wüsste, dass sie in der Nähe sind und Euch im Auge behalten.«

»Ja. Ein guter Vorschlag. Ich nehme vor unserem Treffen mit ihnen Kontakt auf und bitte sie darum, nur für alle Fälle.«

»Mutter«, sagte Nynaeve. »Vielleicht könnte Rand …«

»Diese Sache ist Angelegenheit der Burg«, fiel ihr Egwene ins Wort. »Wir kümmern uns selbst darum.«

»Also gut.«

»Und jetzt müssen wir uns etwas einfallen lassen«, sagte Egwene, »wie wir am besten die richtigen Gerüchte in Umlauf bringen, damit Mesaana nicht widerstehen kann, uns zu belauschen …«


Perrin drang rennend in den Albtraum ein. Die Luft um ihn herum dehnte sich, und die Häuser der Stadt – dieses Mal handelte es sich um die flache Sorte der Cairhiener – verschwanden. Die Straße unter seinen Füßen wurde ganz weich, wie Schlamm, dann verwandelte sie sich in Flüssigkeit.

Er landete aufplatschend im Meer. Schon wieder Wasser?, dachte er ärgerlich.

Dunkelrote Blitze zuckten über den Himmel und schleuderten tiefrotes Licht über die See. Jeder Ausbruch enthüllte schattenhafte Kreaturen, die unter den Wellen lauerten. Gewaltige Kreaturen, die im zuckenden roten Licht böse und sehnig erschienen.

Menschen klammerten sich an das, was von dem Schiff noch übrig geblieben war, schrien vor Angst und riefen nach ihren Angehörigen. Männer auf zerborstenen Planken, Frauen, die versuchten, ihre Säuglinge über Wasser zu halten, während gewaltige Wellen über ihnen zusammenschlugen. Leichen schaukelten wie Getreidesäcke auf und ab.

Die Kreaturen unter den Wellen schlugen zu, rissen Menschen von der Oberfläche weg und zerrten sie mit zuckenden Flossen und funkelnden, rasiermesserscharfen Zähnen in die Tiefe. Bald brodelte das Wasser mit einem Rot, das nicht von den Blitzen kam.

Wer auch immer diesen Albtraum träumte, hatte eine ganz besonders verdrehte Vorstellungskraft.

Perrin weigerte sich, sich davon vereinnahmen zu lassen. Er unterdrückte seine Furcht und schwamm nicht zu einer der Planken. Das ist nicht real. Das ist nicht real. Das ist nicht real.

Obwohl ihm das völlig klar war, wusste ein Teil von ihm dennoch, dass er in diesen Gewässern sterben würde. Diesen schrecklichen, blutigen Gewässern. Das Stöhnen der anderen überfiel ihn, und er sehnte sich danach, ihnen zu helfen. Er wusste, dass sie nicht real waren. Einfach nur Hirngespinste. Aber es fiel schwer.

Perrin erhob sich aus dem Wasser, die Wellen verwandelten sich wieder in festen Boden. Aber dann schrie er auf, als etwas sein Bein streifte. Blitze zerrissen den Himmel. Neben ihm versank eine Frau in der Tiefe, von unsichtbaren Rachen nach unten gerissen. Von Panik übermannt trieb Perrin einen Herzschlag später an einer völlig anderen Stelle wieder im Meer, einen Arm um ein Stück Treibgut geschlungen.

Das kam vor. Schwankte er auch nur einen Augenblick lang, ließ er es zu, den Albtraum als real zu betrachten, wurde er hineingezogen und in das schreckliche Mosaik gepresst. In der Nähe bewegte sich etwas im Wasser, und er paddelte erschrocken los. Eine der wogenden Wellen hob ihn in die Luft.

Das ist nicht real. Das ist nicht real. Das ist nicht real.

Das Wasser war so kalt. Wieder berührte etwas sein Bein, und er schrie auf und würgte, als er einen Mund voll Salzwasser verschluckte.

DAS IST NICHT REAL!

Er war in Cairhien, meilenweit vom Meer entfernt. Das war eine Straße. Hartes Kopfsteinpflaster am Boden. Aus einer Bäckerei in der Nähe kam der Geruch von backendem Brot. Die Straße wurde von kleinen, schmalen Eschen gesäumt.

Mit einem Aufbrüllen klammerte er sich an dieses Wissen, während die Menschen um ihn herum sich an die Wrackteile klammerten. Perrin ballte die Hände zu Fäusten, konzentrierte sich auf die Realität.

Da waren Pflastersteine unter seinen Füßen. Keine Wellen. Kein Wasser. Keine Reißzähne und Flossen. Langsam erhob er sich wieder aus dem Meer. Er trat hinaus und setzte den Fuß auf die Oberfläche, fühlte festen Stein unter dem Stiefel. Er fand sich auf einem kleinen schwebenden Steinkreis wieder.

Links von ihm schoss etwas Gewaltiges durch das Wasser, eine riesige Bestie, zum Teil Fisch, zum Teil Ungeheuer, der Rachen war so groß, dass ein Mann aufrecht hineinschreiten konnte. Die Zähne waren so groß wie Perrins Hand; Blut tropfte an ihnen herab.

Es war nicht real.

Die Kreatur zerplatzte zu einer Nebelwolke. Die Gischt traf Perrin und trocknete sofort. Um ihn herum krümmte sich der Albtraum, er verbreitete eine Blase der Realität. Die dunkle Luft, die kalten Wellen, die schreienden Menschen, alles verlief wie nasse Farbe.

Es gab keine Blitze – er sah nicht, wie sie seine Lider erhellten. Da war kein Donner. Er konnte die Erschütterungen nicht hören. Da waren keine Wellen, nicht in der Mitte des von Land umgebenen Cairhien.

Perrin riss die Augen auf, und der ganze Albtraum zerbrach, löste sich auf wie Frost im Frühlingssonnenschein. Die Gebäude kamen wieder zum Vorschein, die Straße kehrte zurück, die Wellen zogen ab. Der Himmel wurde wieder zu dem brodelnden schwarzen Sturm. In seinen Tiefen blitzte es wieder weiß und hell, aber es ertönte kein Donner.

Springer saß ein kurzes Stück entfernt auf der Straße. Perrin trottete zu dem Wolf. Natürlich hätte er die Distanz auch mit einem Sprung überwinden können, aber ihm missfiel die Vorstellung, alles auf diese leichte Weise zu tun. Das würde ihn in der realen Welt nur beißen.

Du wirst stark, Junger Bulle. Springer war zufrieden.

»Ich brauche noch immer zu lange«, sagte Perrin und schaute über die Schulter. »Bei jedem Eindringen brauche ich ein paar Minuten, um die Kontrolle zu erringen. Ich muss schneller werden. Bei einem Kampf mit dem Schlächter können ein paar Minuten eine Ewigkeit sein.«

Er wird nicht so stark wie die Albträume sein.

»Aber stark genug«, sagte Perrin. »Er hatte Jahre, um zu lernen, wie man den Wolfstraum kontrolliert. Ich habe gerade erst angefangen.«

Springer lachte. Junger Bulle, du hast damit angefangen, als du das erste Mal hergekommen bist.

»Ja, aber mit der Ausbildung habe ich erst vor wenigen Wochen angefangen.«

Springer lachte weiter. Er hatte nicht ganz unrecht. Perrin hatte zwei Jahre mit den Vorbereitungen verbracht und den Wolfstraum jede Nacht besucht. Aber er musste noch immer so viel lernen, wie es nur möglich war. Eigentlich war er froh, dass der Prozess verschoben worden war.

Aber er konnte sich nicht mehr lange davor drücken. Die Letzte Jagd war da. Viele Wölfe rannten nach Norden; Perrin konnte sie vorbeilaufen fühlen. Sie rannten zur Großen Fäule, in die Grenzlande. Sie bewegten sich in der realen Welt und im Wolfstraum, aber hier versetzten sie sich nicht direkt zu ihrem Ziel. Sie liefen im Rudel.

Ihm war nicht verborgen geblieben, dass sich Springer danach sehnte, sich ihnen anzuschließen. Aber er blieb zurück, genau wie ein paar der anderen.

»Komm«, sagte er. »Lass uns einen weiteren Albtraum finden.«


Der Rosenweg stand in voller Blüte.

Das war unglaublich. In diesem schrecklichen Sommer blühten nur wenige Pflanzen, und die, die es taten, waren verwelkt. Aber der Rosenweg blühte wie verrückt, Hunderte rote Explosionen erfüllten die Gartenbeete. Insekten summten von Blüte zu Blüte, als wäre jede Biene der Stadt hergekommen, um zu fressen.

Gawyn hielt Abstand zu den Insekten, aber der Rosenduft war so durchdringend, dass er das Gefühl hatte, darin zu baden. Nach seinem Spaziergang würde seine Kleidung vermutlich noch stundenlang danach riechen.

In der Nähe einer der Bänke neben einem kleinen, mit Lilien bedeckten Teich unterhielt sich Elayne mit mehreren Beratern. Ihre Schwangerschaft war zu sehen, und sie schien zu strahlen. Ihr goldblondes Haar reflektierte das Sonnenlicht wie ein Spiegel; die Rosenkrone von Andor auf ihren Locken erschien dabei vergleichsweise gewöhnlich.

In diesen Tagen hatte sie oft viel zu tun. Er hatte die hinter vorgehaltener Hand erfolgten Berichte über die Waffen gehört, die sie konstruierte, die Waffen, die sie für so mächtig wie gefangene Damane hielt. Soweit ihm bekannt war, hatten die Glockengießer von Caemlyn die Nächte durchgearbeitet. Caemlyn bereitete sich auf den Krieg vor, in der Stadt wimmelte es vor Aktivitäten. Sie hatte nur selten Zeit für ihn, aber er war dankbar für jeden Moment, den sie erübrigen konnte.

Sie lächelte, als sie ihn erblickte, dann schickte sie ihre Gefolgsleute fort. Sie kam zu ihm herüber und gab ihm einen liebevollen Kuss auf die Wange. »Du siehst nachdenklich aus.«

»Dieses Leiden sucht mich in letzter Zeit oft heim«, sagte er. »Du siehst gehetzt aus.«

»Dieses Leiden sucht mich in letzter Zeit oft heim«, sagte sie. »Es ist immer zu viel zu tun, und es gibt nicht genug von mir, um es zu tun.«

»Wenn du gehen musst…«

»Nein«, sagte sie und nahm seinen Arm. »Ich muss mit dir reden. Und man hat mir gesagt, dass ein täglicher Spaziergang im Garten gut für meinen Zustand ist.«

Gawyn lächelte und atmete den Rosenduft und den Schlammgeruch des Teichs ein. Der Geruch des Lebens. Er schaute zum Himmel hinauf. »Ich kann nicht glauben, wie viel Sonnenlicht wir hier gesehen haben. Ich war fast schon überzeugt, dass das ständige Zwielicht etwas Unnatürliches war.«

»Oh, das ist es vermutlich auch«, sagte sie leichthin. »Vor einer Woche brach die Bewölkung um Caemlyn auf, aber nur dort.«

»Aber … wie ist das möglich?«

Sie lächelte. »Rand. Er hat irgendetwas getan. Ich glaube, er war auf dem Drachenberg. Und dann …«

Plötzlich erschien der Tag finsterer. »Schon wieder al’Thor«, fauchte Gawyn. »Er verfolgt mich bis hierher.«

»Bis hierher?«, fragte sie amüsiert. »Ich glaube, in diesem Garten sind wir ihm zum ersten Mal begegnet.«

Gawyn verzichtete auf eine Antwort. Er schaute nach Norden und musterte den Himmel. Dort hingen Unheil verkündende dunkle Wolken. » Er ist der Vater, oder?«

»Wenn er das wäre«, sagte Elayne ohne zu zögern, »dann wäre es wohl klüger, diese Tatsache für sich zu behalten, nicht wahr? Die Kinder des Wiedergeborenen Drachen werden Ziele sein.«

Gawyn verspürte Übelkeit. Der Verdacht war ihm in dem Moment gekommen, in dem er die Schwangerschaft entdeckt hatte. »Soll man mich doch zu Asche verbrennen«, sagte er. »Elayne, wie konntest du nur? Nach dem, was er unserer Mutter antat!«

»Er hat ihr nichts angetan. Ich kann zahllose Zeugen aufmarschieren lassen, die das bestätigen werden, Gawyn. Mutter verschwand, bevor Rand Caemlyn befreite.« Wenn sie von ihm sprach, trat ein liebevoller Ausdruck in ihre Augen. »Etwas geschieht mit ihm. Ich kann es fühlen, wie er sich verändert. Sich reinigt. Er hat die Wolken vertrieben und die Rosen blühen lassen.«

Gawyn runzelte die Stirn. Sie glaubte, dass die Rosen wegen al’Thor blühten? Nun, Liebe konnte einen die seltsamsten Sachen glauben lassen, und wenn es sich bei dem Mann, von dem sie sprach, um den Wiedergeborenen Drachen handelte, konnte man vielleicht eine gewisse Irrationalität erwarten.

Sie kamen zu dem kleinen Steg des Teiches. Er konnte sich daran erinnern, wie er dort als Kind geschwommen war und sich dafür eine ordentliche Standpauke hatte anhören müssen. Nicht von seiner Mutter, sondern von Galad, obwohl ihm seine Mutter einen strengen, enttäuschten Blick gewidmet hatte. Er hatte nie jemandem verraten, dass er nur deshalb dort geschwommen war, weil Elayne ihn ins Wasser geschubst hatte.

»Das vergisst du nie, oder?«, fragte Elayne.

»Was?«

»Du hast daran gedacht, wie du während Mutters Zusammentreffen mit Haus Farah in den Teich gefallen bist.«

»Gefallen? Du hast mich geschubstl«

»Das habe ich nicht«, erwiderte Elayne steif. »Du musstest angeben und hast auf den Pfosten balanciert.«

»Und du hast den Steg zum Wackeln gebracht.«

»Ich habe ihn betreten«, sagte Elayne. »Kräftig. Ich bin eine lebhafte Person. Ich habe einen energischen Schritt.«

» Einen energischen … Das ist einfach gelogen!«

»Nein, ich gehe bloß kreativ mit der Wahrheit um. Ich bin jetzt eine Aes Sedai. Das ist eines unserer Talente. Nun, du ruderst mich doch über den Teich, oder?«

»Ich habe … dich rudern? Wie kommst du jetzt darauf?«

»Das ist mir gerade eingefallen. Hast du nicht zugehört?«

Gawyn schüttelte verwirrt den Kopf. »Also gut.« Hinter ihnen nahmen mehrere Gardistinnen ihre Posten ein. Sie waren immer in der Nähe, oft von der hochgewachsenen Frau angeführt, die sich für das Ebenbild der Birgitte aus den Sagen hielt. Und vielleicht sah sie ja tatsächlich wie Birgitte aus – auf jeden Fall nannte sie sich so und diente als Generalhauptmann.

Zu den Gardistinnen gesellte sich eine wachsende Gruppe von Dienern und Boten. Die Letzte Schlacht rückte immer näher, und Andor bereitete sich vor – und unglücklicherweise erforderten viele dieser Vorbereitungen Elaynes unmittelbare Aufmerksamkeit. Obwohl Gawyn da eine seltsame Geschichte zu Ohren gekommen war, dass man sie vor ungefähr einer Woche in einem Bett auf die Stadtmauer getragen hatte. Bis jetzt hatte er keine Gelegenheit gehabt, sie zu fragen, ob das stimmte oder nicht.

Er winkte Birgitte zu, die ihm ein Stirnrunzeln schenkte, als er Elayne zu dem kleinen Ruderboot des Teiches führte. »Ich verspreche, sie nicht hineinzuwerfen«, rief er. Um dann zu murmeln: »Obwohl ich vielleicht zu ›heftig‹ rudere und uns umkippe.«

»Ach, hör auf mit dem Unsinn«, sagte Elayne und stieg ein. »Teichwasser wäre nicht gut für die Babys.«

»Da wir gerade davon sprechen«, sagte Gawyn und stieß das Boot mit der Stiefelspitze ab, dann stieg er selbst ein. Das Gefährt wackelte bedrohlich, bis er sich gesetzt hatte. »Solltest du wegen deines ›Zustands‹ nicht viel laufen?«

»Ich werde Melfane sagen, dass ich die Gelegenheit brauchte, um meinen schurkischen Bruder auf den richtigen Weg zurückzuführen. Man kommt mit allem Möglichen durch, wenn man jemand ordentlich ausschimpft.«

»Und das erwartet mich jetzt? Ordentlich ausgeschimpft zu werden?«

»Nicht notwendigerweise.« Ihre Stimme klang ernst. Gawyn nahm die Ruder und schob sie ins Wasser. Der Teich war nicht riesig, gerade groß genug, um ein Boot zu rechtfertigen, aber zwischen den Schmetterlingen auf dem Wasser zu fahren hatte etwas Beruhigendes an sich.

»Gawyn, warum bist du nach Caemlyn gekommen?«

»Das ist mein Zuhause«, sagte er. »Warum sollte ich nicht hier sein?«

»Während der Belagerung machte ich mir große Sorgen um dich. Ich hätte dich während der Kämpfe brauchen können. Aber du bliebst fort.«

»Das habe ich doch erklärt, Elayne. Ich war in die Ränke der Weißen Burg verstrickt, ganz zu schweigen vom Winterschnee. Es ärgert mich, dass ich nicht helfen konnte, aber diese Frauen hatten mich in der Hand.«

»Ich bin selbst eine ›dieser Frauen‹, weißt du.« Sie hob die Hand. Der Große Schlangenring saß auf ihrem Finger.

»Du bist anders«, behauptete Gawyn. »Außerdem hast du ja recht. Ich hätte hier sein sollen. Aber ich weiß nicht, welche Entschuldigung du noch hören willst.«

»Ich erwarte keine Entschuldigungen«, sagte Elayne. »Ach, Gawyn, ich mache dir doch gar keine Vorwürfe. Obwohl ich dich sicher hätte brauchen können, haben wir es ja auch so geschafft. Ich hatte die Sorge, dass du zwischen die Fronten gerätst, entweder Egwene oder die Burg zu verteidigen. Anscheinend hat sich das ja alles geklärt. Also frage ich dich. Warum bist du jetzt hergekommen? Braucht Egwene dich nicht?«

»Anscheinend nicht«, sagte Gawyn und stoppte das Boot. Am Ufer wuchs eine gewaltige Trauerweide und hängte ihre Äste zopfgleich über die Teichoberfläche. Er hob die Ruder vor den Ästen in die Höhe, und das Boot hielt an.

»Nun«, sagte Elayne. »Ich maße mir nicht das Recht an, da in dich zu dringen – zumindest nicht im Augenblick. Du bist hier immer willkommen, Gawyn. Ich würde dich zum Generalhauptmann machen, wenn du mich darum bittest, aber ich glaube nicht, dass du das willst.«

»Wieso sagst du das?«

»Nun, den größten Teil deiner Zeit verbringst du damit, hier im Garten herumzuhängen und Trübsal zu blasen.«

»Ich habe keine Trübsal geblasen. Ich habe nachgedacht.«

»Ah, ja. Wie ich sehe, hast auch du gelernt, die Wahrheit auf kreative Weise auszudrücken.«

Er schnaubte leise.

»Gawyn, du hast nicht die geringste Zeit mit deinen Freunden oder Bekannten aus dem Palast verbracht. Du bist nicht in die Rolle eines Prinzen oder Generalhauptmanns getreten. Stattdessen hast du … nachgedacht.«

Gawyn schaute auf den Teich hinaus. »Ich verbringe keine Zeit mit den anderen, weil sie alle wissen wollen, warum ich bei der Belagerung nicht hier war. Sie fragen ständig, wann ich meine Stellung hier einnehme und deine Heere anführe.«

»Das ist schon in Ordnung. Du musst kein Generalhauptmann sein, und wenn ich muss, kann ich auch ohne meinen Ersten Prinzen des Schwertes überleben. Obwohl ich zugeben muss, dass Birgitte ziemlich aufgebracht ist, weil du nicht Generalhauptmann wirst.«

»Ist das der Grund für die finsteren Blicke?«

»Ja. Aber sie wird es schon schaffen, sie ist ganz gut in dieser Aufgabe. Und wenn es jemanden gibt, von dem ich will, dass du ihn beschützt, dann ist es Egwene. Sie verdient dich.«

» Und wenn ich entschieden habe, dass ich sie nicht will?«

Elayne beugte sich vor und legte ihm die Hand auf den Arm. Ihr vom blonden Haar eingerahmtes Gesicht sah besorgt aus. »Oh, Gawyn. Was ist nur mit dir passiert?«

Er schüttelte den Kopf. »Bryne glaubt, dass ich mich zu sehr an den Erfolg gewöhnt habe und nicht weiß, was ich tun soll, wenn sich die Dinge nicht nach meinem Willen entwickeln.«

»Und was glaubst du?«

»Ich glaube, es tut mir gut, hier zu sein«, sagte Gawyn und holte tief Luft. Ein paar Frauen gingen den Pfad am Teich entlang, angeführt von einer Frau mit hellrotem Haar, das mit weißen Strähnen durchzogen war. Dimana war eine gescheiterte Schülerin der Weißen Burg oder etwas in der Art. Gawyn war sich nicht sicher, was es mit den Kusinen genau auf sich hatte und in welcher Beziehung sie zu Elayne standen.

»Hier zu sein hat mich an mein früheres Leben erinnert. Vor allem ist es sehr befreiend, die Aes Sedai los zu sein. Ich war eine Weile davon überzeugt, dass ich unbedingt bei Egwene sein musste. Als ich die Jünglinge verließ, um zu ihr zu reiten, fühlte sich das wie die beste Entscheidung meines Lebens an. Und doch scheint sie sich verändert zu haben und mich nicht länger zu brauchen. Sie ist so darum bemüht, stark zu sein, die Amyrlin zu sein, dass sie keinen Platz mehr für jemanden hat, der sich nicht jeder ihrer Launen beugt.«

»Ich bezweifle, dass es tatsächlich so schlimm ist, wie du es schilderst. Egwene… nun, sie muss Stärke demonstrieren. Wegen ihrer Jugend und wegen der Umstände, unter denen sie in diese Stellung erhoben wurde. Aber sie ist nicht arrogant. Jedenfalls nicht mehr, als unbedingt nötig ist.«

Elayne tauchte die Finger ins Wasser und verschreckte einen Goldfisch. »So wie sie habe ich mich auch gefühlt. Du sagst, sie will, dass man sich vor ihr verbeugt und kriecht, aber ich wette, in Wirklichkeit will sie jemanden – und braucht ihn auch -, dem sie völlig vertrauen kann. Jemand, dem sie eine Aufgabe übergeben kann, ohne sich darüber Sorgen machen zu müssen, wie sie erfüllt wird. Sie hat gewaltige Möglichkeiten. Reichtum, Truppen, Festungen, Diener. Aber von ihrer Sorte gibt es nur eine, und wenn alles ihre direkte Aufmerksamkeit erfordert, könnte sie genauso gut gar keine Möglichkeiten haben.«

»Ich…«

»Du sagst, du liebst sie. Du hast mir gesagt, du bist ihr ergeben, du würdest für sie sterben. Nun, von dieser Art von Leuten hat Elayne ganze Heere, genau wie ich auch. Wirklich einzigartig ist nur jemand, der das tut, was ich ihm sage. Besser noch, jemand, der das tut, von dem er weiß, dass ich es ihm befehlen würde, hätte ich die Gelegenheit.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dieser Mann sein kann.«

»Warum nicht? Von allen Männern hätte ich gerade dich für jemanden gehalten, der bereit wäre, eine Frau mit Macht zu unterstützen.«

»Bei Egwene ist das anders. Ich kann nicht erklären, warum das so ist.«

»Nun, wenn du eine Amyrlin heiraten willst, dann musst du diese Entscheidung treffen.«

Sie hatte recht. Es störte ihn, aber sie hatte recht. »Genug davon«, sagte er. »Mir ist nicht entgangen, dass wir das Thema al’Thor aus den Augen verloren haben.«

»Weil es nicht mehr über ihn zu sagen gibt.«

»Du musst dich von ihm fernhalten. Er ist gefährlich.«

Elayne winkte ab. » Saidin ist gereinigt worden.«

»Natürlich behauptet er das.«

»Du hasst ihn«, sagte Elayne. »Ich höre es dir an. Da geht es doch wohl nicht um Mutter, oder?«

Er zögerte. Sie war so gut darin geworden, eine Unterhaltung umzudrehen. War das die Königin in ihr oder die Aes Sedai? Um ein Haar hätte er das Boot zurück zum Steg gerudert. Aber das hier war Elayne. Beim Licht, es fühlte sich so gut an, mit jemandem zu sprechen, der ihn wirklich verstand.

»Warum ich al’Thor hasse?«, sagte Gawyn. »Nun, da ist einmal Mutter. Aber es ist nicht sie allein. Ich hasse, was aus ihm geworden ist.«

»Der Wiedergeborene Drache?«

»Ein Tyrann.«

»Das weißt du nicht.«

»Er ist Schafhirte. Mit welchem Recht stürzt er Throne, verändert die Welt nach seinem Willen?«

»Und das vor allen Dingen, während du dich in einem Dorf versteckt hast?« Er hatte ihr größtenteils erzählt, was er in den vergangenen Monaten erlebt hatte. »Während er Nationen eroberte, warst du gezwungen, deine Freunde zu töten, und dann hat dich deine eigene Amyrlin in den Tod geschickt.«

»Genau.«

»Also ist es bloß Eifersucht«, sagte Elayne leise. »Nein. Unsinn. Ich …« »Was würdest du tun, Gawyn? Ihn zum Duell fordern?« »Vielleicht.«

»Und was würde passieren, wenn du gewinnst und ihn durchbohrst, wie du es gesagt hast? Würdest du uns alle zum Untergang verurteilen, um einen kurzen Moment der Leidenschaft zu befriedigen?«

Darauf wusste er keine Antwort.

»Das ist nicht nur Eifersucht, Gawyn«, sagte Elayne und nahm ihm die Ruder ab. »Das ist reine Selbstsucht. Solche Kurzsichtigkeit können wir uns im Augenblick nicht erlauben.« Trotz seines Protestes fing sie an zurückzurudern.

»Das muss ausgerechnet die Frau sagen, die persönlich gegen die Schwarze Ajah antrat?«

Elayne errötete. Ihm war klar, dass sie wünschte, er hätte nie von dieser ganz besonderen Tat erfahren. »Das war notwendig. Außerdem sagte ich ausdrücklich ›wir‹. Du und ich, wir haben dieses Problem. Birgitte sagt mir ununterbrochen, dass ich lernen muss, mich besser zu beherrschen. Nun, du musst das Gleiche lernen, um Egwenes willen. Und sie braucht dich. Sie mag es nicht erkennen; sie mag davon überzeugt sein, dass sie die Welt allein aufrechterhalten muss. Sie irrt sich.«

Das Boot stieß an den Steg. Elayne ließ die Ruder los und streckte die Hand aus. Gawyn stieg aus und half ihr auf den Steg. Sie ergriff warmherzig seine Hand. »Du wirst das klären«, sagte sie. »Ich entbinde dich von jeglicher Verantwortung, mein Generalhauptmann zu sein. Ich werde für den Augenblick keinen anderen Ersten Prinzen des Schwertes ernennen, aber du kannst diesen Titel auch in Abwesenheit behalten. Solange du für den gelegentlichen Staatsakt auftauchst, brauchst du dir keine Sorgen zu machen, dass man etwas anderes von dir verlangt. Ich gebe sofort den Erlass heraus und berufe mich darauf, dass du am Vorabend der Letzten Schlacht andere wichtige Dinge zu erledigen hast.«

»Ich … danke«, sagte er, obwohl er sich nicht sicher war, ob er das auch empfand. Irgendwie klang es viel zu sehr wie Egwenes Beharren, dass er ihre Tür nicht bewachen musste.

Elayne drückte erneut seine Hand, dann begab sie sich zu ihrem wartenden Gefolge. Gawyn sah zu, wie sie ruhig mit ihnen sprach. Jeden Tag schien sie majestätischer zu werden; es war, als würde man einer Blume beim Erblühen zusehen. Er wünschte sich, er wäre in Caemlyn gewesen, um diesen Prozess von Anfang an zu verfolgen.

Er ertappte sich bei einem Lächeln, als er weiter an den Rosen vorbeiging. Die gesunde Dosis von Elaynes eigenwilligem Optimismus machte es ihm schwer, weiter an seinem Bedauern festzuhalten. Nur sie allein konnte einen Mann als eifersüchtig bezeichnen und dafür sorgen, dass er sich dabei auch noch gut fühlte.

Er schritt durch Wogen aus Duft und fühlte die Sonne auf seinem Hals. Hier hatten Galad und er als Kinder gespielt, und er dachte daran, wie seine Mutter mit Bryne in diesem Garten spaziert war. Er erinnerte sich an ihre sorgfältigen Mahnungen, wenn er sich danebenbenommen hatte, dann an ihr Lächeln, wenn er sich so benahm, wie man von einem Prinz erwarten konnte. Dieses Lächeln war wie die aufgehende Sonne erschienen.

Sie war dieser Ort. Sie lebte weiter, in Caemlyn, in Elayne – die jede Stunde mehr wie sie aussah -, in der Sicherheit und Kraft von Andors Volk. Er blieb neben dem Teich stehen, genau an der Stelle, an der Galad ihn als Kind vor dem Ertrinken gerettet hatte.

Vielleicht hatte Elayne ja recht. Vielleicht hatte al’Thor nichts mit Morgases Tod zu tun. Und falls doch, würde Gawyn das niemals beweisen können. Aber das spielte keine Rolle. Rand al’Thor war bereits dazu verdammt, in der Letzten Schlacht zu sterben. Warum den Mann also weiter hassen?

»Sie hat recht«, flüsterte Gawyn und schaute den Libellen zu, die auf der Wasseroberfläche tanzten. »Wir sind fertig miteinander, al’Thor. Von jetzt an bist du mir völlig egal.«

Er fühlte, wie eine gewaltige Last von seinen Schultern wich. Gawyn stieß einen langen, entspannten Seufzer aus. Erst jetzt, nachdem Elayne ihn entlassen hatte, erkannte er, wie schuldig er sich wegen seiner Abwesenheit in Andor gefühlt hatte. Auch das war jetzt verschwunden.

Zeit, sich auf Egwene zu konzentrieren. Er griff in die Tasche, holte das Messer des Attentäters hervor und hielt es in die Sonne, untersuchte diese roten Steine. Er hatte die Pflicht, Egwene zu beschützen. Einmal angenommen, sie war auf ihn wütend, hasste ihn und schickte ihn ins Exil, würde das alles die Strafe nicht wert sein, wenn es ihm gelang, sie am Leben zu erhalten?

»Bei dem Grab meiner Mutter«, sagte da eine scharfe Stimme hinter ihm. »Wo habt Ihr das denn her?«

Gawyn fuhr herum. Hinter ihm standen die Frauen, die ihm zuvor aufgefallen waren. Dimana führte sie an; ihre Augen wurden von Fältchen umgeben. Sollte die Arbeit mit der Macht nicht angeblich diese Zeichen des Alterns aufhalten?

Die eine ihrer Begleiterinnen war eine mollige junge Frau mit schwarzem Haar, die andere eine stämmige Frau in ihren mittleren Jahren. Die zweite war diejenige, die das Wort ergriffen hatte; sie hatte große, unschuldig blickende Augen. Und sie schien entsetzt zu sein.

»Was ist denn, Marille?«, fragte Dimana.

»Dieses Messer«, sagte Marille und zeigte auf Gawyns Hand. »Marille hat so etwas schon zuvor gesehen!«

»Ich habe das schon zuvor gesehen«, korrigierte Dimana sie. »Ihr seid eine Person und kein Ding.«

»Ja, Dimana. Viele Entschuldigungen, Dimana. Marille … ich werde den gleichen Fehler nicht noch einmal begehen, Dimana.«

Gawyn runzelte die Stirn. Was stimmte mit dieser Frau nicht?

»Vergebt Ihr, mein Lord«, sagte Dimana. »Marille war lange Zeit Damane und kann sich nur schwer umgewöhnen.«

»Ihr seid Seanchanerin?«, fragte Gawyn. Natürlich, ich hätte den Akzent bemerken müssen.

Marille nickte eifrig. Eine ehemalige Damane.

Gawyn fröstelte. Diese Frau war darin ausgebildet worden, mit der Macht zu töten. Die dritte Frau blieb stumm und verfolgte alles neugierig. Sie erschien nicht annähernd so unterwürfig.

»Wir sollten weitergehen«, sagte Dimana. »Es ist nicht gut für sie, Dinge zu sehen, die sie an Seanchan erinnern. Kommt, Marille. Ich nehme an, das ist bloß eine Trophäe, die Lord Trakand in der Schlacht erbeutet hat.«

»Nein, wartet.« Gawyn hob die Hand. »Ihr erkennt diese Klinge?«

Marille sah Dimana an, als würde sie um die Erlaubnis zur Antwort bitten. Die Kusine nickte leidgeprüft.

»Es ist ein Blutmesser, mein Lord«, sagte Marille. »Ihr habt es nicht in der Schlacht erbeutet, weil Männer keine Blutmesser besiegen. Sie sind unaufhaltsam. Sie fallen nur, wenn sich ihr eigenes Blut gegen sie wendet.«

Gawyn runzelte die Stirn. Was sollte dieser Unsinn? »Das ist also eine seanchanische Waffe?«

»Ja, mein Lord«, erwiderte Marille. »Getragen von den Blutmessern.«

»Hattet Ihr nicht gesagt, dass das ein Blutmesser ist?«

»Das ist es auch, aber sie werden auch von ihnen getragen. Eingehüllt in die Nacht, ausgesandt vom Willen der Kaiserin – möge sie ewig leben -, um ihre Feinde niederzustrecken und in ihrem Namen und Ruhm zu sterben.« Marille senkte den Blick noch weiter. »Marille redet zu viel. Es tut ihr leid.«

»Es tut mir leid«, korrigierte Dimana sie mit einem Hauch von Verzweiflung in der Stimme.

»Es tut mir leid«, wiederholte Marille.

»Also diese … Blutmesser«, sagte Gawyn. »Das sind seanchanische Attentäter?« Ihm war eiskalt. Konnten sie Selbstmordattentäter zurückgelassen haben, um Aes Sedai zu töten? Ja. Das machte Sinn. Der Mörder war keiner der Verlorenen.

»Ja, mein Lord«, sagte Marille. »Ich sah eines dieser Messer an der Wand der Behausung meiner Herrin hängen; es hatte ihrem Bruder gehört, der es voller Ehre getragen hatte, bis sich sein Blut gegen ihn wandte.« » Seine Familie?«

»Nein, sein Blut.« Marille schrumpfte noch mehr in sich zusammen.

»Erzählt mir mehr von ihnen«, drängte Gawyn sie.

»Eingehüllt in die Nacht,« sagte Marille, »ausgesandt vom Willen der Kaiserin – möge sie ewig leben -, um ihre Feinde niederzustrecken und in ihrem Namen und Ruhm …«

»Ja, ja«, sagte Gawyn. »Das sagtet Ihr bereits. Welche Methoden benutzen sie? Wie verstecken sie sich so gut? Was wisst Ihr darüber, wie dieser Attentäter angreift?«

Bei jeder Frage sank Marille weiter in sich zusammen, und sie fing an zu wimmern.

»LordTrakand!«, sagte Dimana. »Beherrscht Euch.«

»Marille weiß nicht sehr viel«, sagte die Damane. »Es tut Marille leid. Bitte bestraft sie dafür, dass sie nicht besser zugehört hat.«

Gawyn fuhr zurück. Die Seanchaner behandelten ihre Damane schlimmer als Tiere. Man würde Marille nichts Genaues über die Fähigkeiten dieser Blutmesser erzählt haben. »Wo habt Ihr diese Damane her?«, wollte er wissen. »Hat man auch seanchanische Soldaten gefangen genommen? Ich muss mit einem sprechen; am besten mit einem Offizier.«

Dimana schürzte die Lippen. »Man hat sie in Altara ergriffen, und nur die Damane wurden zu uns geschickt.«

»Dimana«, sagte die andere Frau. Sie hatte keinen seanchanischen Akzent. »Was ist mit der Sul’dam? Kaisea gehörte dem niederen Blut an.«

Dimana runzelte die Stirn. »Kaisea ist… unzuverlässig.«

»Bitte«, sagte Gawyn. »Das könnte Leben retten.«

»Also gut«, sagte Dimana. »Wartet hier. Ich hole sie.« Sie führte ihre beiden Zöglinge zum Palast und ließ Gawyn ungeduldig wartend zurück. Ein paar Minuten später war sie wieder da, gefolgt von einer hochgewachsenen Frau in einem hellgrauen Kleid ohne Gürtel oder Stickereien. Ihr langes schwarzes Haar war zu einem Zopf geflochten, und sie schien entschlossen, genau einen Schritt hinter Dimana zu bleiben – eine Haltung, die die Kusine störte, die darauf bedacht zu sein schien, die Frau im Auge zu behalten.

Sie erreichten Gawyn, und die Sul’dam warf sich unglaublicherweise auf die Knie und dann weiter auf den Boden, bis ihr Kopf die Erde berührte. In der Verbeugung lag eine anmutige Eleganz; aus irgendeinem Grund wurde Gawyn das Gefühl nicht los, verspottet zu werden.

»Lord Trakand«, sagte Dimana, »das ist Kaisea. Oder zumindest ist das der Name, auf dem sie jetzt besteht.«

»Kaisea ist eine gute Dienerin«, sagte die Frau gleichmütig.

»Steht auf«, sagte Gawyn. »Was tut Ihr da?«

»Man hat Kaisea gesagt, dass Ihr der Bruder der Königin seid; Ihr seid das Blut dieses Reiches, und ich bin eine unbedeutende Damane.«

»Damane? Ihr seid eine Sul’dam.«

»Nicht mehr«, erwiderte die Frau. »Man muss mir den Kragen umlegen, großer Herr. Werdet Ihr dafür sorgen? Kaisea ist gefährlich.«

Dimana wies mit dem Kopf zur Seite, deutete an, mit ihm unter vier Augen sprechen zu wollen. Gawyn zog sich mit ihr zusammen ein Stück den Rosenweg hinunter und ließ Kaisea ausgestreckt auf dem Boden liegen.

»Sie ist eine Sul’dam?«, fragte er. »Oder ist sie eine Damane?«

»Man kann allen Sul’dam das Machtlenken beibringen«, erklärte Dimana. »Elayne ist der Ansicht, dass diese Tatsache ihre ganze Kultur unterminieren wird, sobald man das enthüllt, also bat sie uns, den Sul’dam vor allem beizubringen, ihre Fähigkeiten zu nutzen. Viele weigern sich zuzugeben, dass sie die Gewebe sehen können, aber ein paar waren ehrlich zu uns. Und sie alle bestanden darauf, zu Damane gemacht zu werden.«

Sie wies mit dem Kopf auf Kaisea. »Diese da ist wirklich ein beunruhigender Fall. Wir glauben, dass sie die Gewebe lernen will, um für einen ›Unfall‹ zu sorgen und unsere Argumente gegen uns zu benutzen – richtet sie mit der Einen Macht etwas Gewalttätiges an, kann sie behaupten, dass es falsch von uns war, sie nicht zu versklaven.«

Eine Frau, der man beibringen konnte, mit der Einen Macht zu töten, die nicht durch die Drei Eide gebunden war und unbedingt beweisen wollte, dass sie gefährlich war? Gawyn fröstelte.

»Meistens halten wir sie unter Spaltwurzel«, sagte Dimana. »Ich sage Euch das nicht, um Euch zu beunruhigen, sondern um Euch zu warnen, dass man sich auf ihre Worte und Taten nicht unbedingt verlassen kann.«

Gawyn nickte. » Danke.«

Dimana führte ihn zurück, und die Sul’dam blieb am Boden liegen. »Wie darf Euch Kaisea dienen, großer Herr?« Ihr Verhalten erschien wie eine Parodie von Marilles Unterwürfigkeit. Was Gawyn zuerst für Spott gehalten hatte, hatte in Wahrheit nichts damit zu tun – es waren die beklagenswerten Bemühungen einer hochwohlgeborenen Adligen, die Unterschicht zu imitieren.

»Habt Ihr so etwas schon einmal gesehen?«, fragte Gawyn leichthin und zog das Blutmesser.

Kaisea keuchte auf. »Wo habt Ihr das gefunden? Wer gab es Euch?« Unvermittelt zuckte sie zusammen, als wäre ihr klargeworden, dass sie aus der selbstgewählten Rolle gefallen war.

» Ein Attentäter wollte mich damit töten«, erklärte Gawyn. »Wir kämpften, und er kam davon.«

»Das ist unmöglich, großer Herr«, sagte die Seanchanerin in einem kontrollierteren Tonfall.

»Warum sagt Ihr das?«

»Wenn Ihr gegen einen der Blutmesser gekämpft hättet, großer Herr, dann wärt Ihr jetzt tot. Sie sind die besten Meuchelmörder im Kaiserreich. Sie kämpfen völlig skrupellos, weil sie bereits tot sind.«

»Selbstmordattentäter.« Gawyn nickte. »Wisst Ihr etwas über sie?«

Kaiseas Miene drückte Zerrissenheit aus.

»Wenn ich dafür sorge, dass man Euch an die Leine legt?«, fragte Gawyn. »Antwortet Ihr mir dann?«

»Mein Lord!«, mischte sich Dimana ein. »Das würde die Königin niemals erlauben!«

»Ich frage sie«, sagte Gawyn. »Ich kann nicht versprechen, dass man Euch anleint, Kaisea, aber ich kann versprechen, dass ich mich bei der Königin für Euch verwende.«

»Ihr seid mächtig und stark, großer Herr«, sagte Kaisea. »Und sehr weise. Wenn Ihr das tut, antwortet Kaisea Euch.«

Dimana starrte Gawyn böse an.

»Sprecht«, sagte Gawyn zu der Sul’dam.

»Blutmesser leben nicht lange. Sobald man ihnen eine Pflicht auferlegt, ruhen sie nicht, bis sie erledigt ist. Die Kaiserin – möge sie ewig leben – verleiht ihnen besondere Fähigkeiten, Ter’angreal-Ringe, die sie zu großen Kriegern macht.«

»Sie lassen ihre Umrisse verschwimmen«, sagte Gawyn. »Wenn sie sich in der Nähe von Schatten befinden.«

»Ja.« Es schien Kaisea zu überraschen, dass er das wusste. »Sie können nicht besiegt werden. Aber schließlich wird ihr eigenes Blut sie töten.«

»Ihr eigenes Blut?«

»Ihre Pflicht vergiftet sie. Sobald sie einen Auftrag erhalten haben, überstehen sie meistens kaum länger als ein paar Wochen. Bestenfalls überleben sie einen Monat.«

Beunruhigt hielt Gawyn den Dolch hoch. »Also müssen wir nur abwarten.«

Kaisea lachte. »Das wird nicht passieren. Bevor sie sterben, werden sie ihre Pflicht erfüllen.«

»Der hier tötet Menschen langsam«, sagte Gawyn. »Alle paar Tage einen. Bis jetzt eine Handvoll.«

»Versuche«, sagte Kaisea. »Das Forschen nach Schwächen und Stärken, um in Erfahrung zu bringen, wo sie ungesehen zuschlagen können. Wenn es nur wenig Tote gibt, dann habt Ihr die wahre Macht der Blutmesser noch nicht erlebt. Sie hinterlassen keine ›Handvoll‹ Tote, sondern Dutzende.«

»Es sei denn, ich halte ihn auf«, sagte Gawyn. »Wo liegen seine Schwächen?«

Kaisea lachte erneut. »Schwächen? Großer Herr, sagte ich nicht, dass sie die größten Krieger von Seanchan sind, durch die Gunst und Hilfe der Kaiserin stärker gemacht, möge sie ewig leben?«

»Schön. Was ist dann mit dem Ter’angreal? Es unterstützt den Attentäter, wenn er sich in einem Schatten befindet? Wie kann ich seine Wirkung aufheben? Vielleicht viele Fackeln entzünden?«

»Es gibt kein Licht ohne Schatten, großer Herr«, sagte die Frau. »Erschafft mehr Licht, und Ihr erschafft nur weitere Schatten.«

»Es muss eine Möglichkeit geben.«

»Kaisea ist davon überzeugt, dass Ihr sie finden werdet, falls es sie gibt, großer Herr.« In der Stimme der Frau lag ein selbstgefälliger Tonfall. »Darf Kaisea Euch etwas sagen, großer Herr? Schätzt Euch glücklich, den Kampf mit einem Blutmesser überlebt zu haben. Ihr könnt unmöglich sein oder ihr Ziel gewesen sein. Es wäre angebracht, wenn Ihr Euch einen Monat lang versteckt. Gestattet der Kaiserin – möge sie ewig leben -, ihren Willen durchzusetzen, und segnet die Omen, die Euch ausreichend gewarnt haben, um entkommen und überleben zu können.«

»Genug davon«, sagte Dimana. »Ich nehme an, Ihr habt, was Ihr wolltet, Lord Trakand?«

»Ja, danke«, sagte Gawyn verstört. Er nahm nur unbewusst wahr, dass Kaisea aufstand und die Kusine ihren Schützling fortführte.

Schätzt Euch glücklich, den Kampf mit einem Blutmesser überlebt zu haben … Ihr könnt unmöglich sein oder ihr Ziel gewesen sein…

Gawyn wog das Wurfmesser in der Hand. Offensichtlich war Egwene das Ziel. Warum sonst sollten die Seanchaner eine so mächtige Waffe einsetzen? Vielleicht glaubten sie, dass ihr Tod die Weiße Burg vernichtete.

Egwene musste gewarnt werden. Er musste sie darüber informieren, auch wenn es sie auf ihn wütend machen würde oder gegen ihre Wünsche verstieß. Es konnte ihr Leben retten.

Er stand noch immer da und sann darüber nach, wie er sich Egwene am besten nähern sollte, als eine Dienerin in Rot und Weiß ihn aufsuchte. Sie trug ein Silbertablett mit einem versiegelten Umschlag. »Mein Lord Gawyn?«

»Was ist das?«, fragte er, nahm den Brief und schnitt ihn mit dem Blutmesser auf.

»Aus Tar Valon«, erwiderte die Dienerin mit einer Verbeugung. » Es kam durch ein Wegetor.«

Gawyn entfaltete das dicke Papier. Er erkannte Silvianas Schrift.

Gawyn Trakand, stand dort zu lesen. Es hat die Amyrlin sehr verstimmt, entdecken zu müssen, dass Ihr abgereist seid. Man hat Euch nicht befohlen, die Stadt zu verlassen. Sie bat mich, Euch diesen Brief zu schicken und zu erklären, dass Ihr genug Zeit hattet, in Caemlyn dem Müßiggang zu frönen. Eure Anwesenheit in Tar Valon wird erfordert, und Ihr sollt sofort zurückkehren.

Gawyn las den Brief, dann las er ihn noch einmal. Egwene schrie ihn an, weil er ihre Pläne gestört hatte, warf ihn so gut wie aus der Burg, und sie war verstimmt, entdecken zu müssen, dass er die Stadt verlassen hatte?

Was erwartete sie denn von ihm? Beinahe hätte er laut gelacht.

»Mein Lord?«, fragte die Dienerin. »Möchtet Ihr eine Antwort schicken?« Auf dem Tablett lagen Papier und Stift. » Man deutete an, dass eine erwartet wird.«

»Schickt Ihr das«, sagte Gawyn und warf das Blutmesser auf das Tablett. Plötzlich verspürte er diese ungeheure Wut, und sämtliche Gedanken an eine Rückkehr waren wie weggeblasen. Verfluchte Frau!

»Und sagt ihr«, fügte er nach kurzem Nachdenken hinzu, »dass der Attentäter ein Seanchaner ist und ein besonderes Ter’angreal trägt, mit dem man ihn im Schatten nur schwer sehen kann. Man soll am besten zusätzliche Lampen entzünden. Die anderen Morde waren Versuche, unsere Verteidigung zu prüfen. Sie ist das eigentliche Ziel. Betont, dass der Attentäter sehr gefährlich ist – aber nicht die Person, die sie dachte. Falls sie Beweise braucht, kann sie herkommen und mit den Seanchanern in Caemlyn sprechen.«

Die Dienerin sah verblüfft aus, aber als er nichts mehr sagte, zog sie sich zurück.

Er versuchte seine Wut zu zügeln. Er würde nicht zurückkehren, nicht jetzt. Nicht, wenn es so aussehen würde, als käme er nach ihrem Befehl zurückgekrochen. Sie hatte ihre »sorgfältigen Pläne und Fallen«. Sie hatte gesagt, sie würde ihn nicht brauchen. Dann würde sie eben eine Weile ohne ihn auskommen müssen.

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