5 Schriften

Gawyn eilte durch die Gänge der Weißen Burg, seine Stiefel stapften über einen dunkelblauen Teppich auf blutroten und weißen Bodenfliesen. Spiegelkandelaber säumten Wächtern gleich die Wände und reflektierten ihr Licht.

Sleete hielt mit ihm Schritt. Trotz des Lampenlichts schien Sleetes Gesicht zur Hälfte von Schatten verhüllt. Vielleicht war es der Zweitagebart – ungewöhnlich für einen Behüter – oder das lange Haar, das zwar sauber, aber ungeschnitten war. Vielleicht waren es auch seine Züge. Sie waren uneben, wie ein unvollendetes Bildnis, mit scharfen Linien, einem Grübchen im Kinn, einer Hakennase, die einmal gebrochen worden war, und hervorstehenden Wangenknochen.

Er hatte die geschmeidigen Bewegungen eines Behüters, aber bei ihm erschienen sie ursprünglicher als bei den meisten. Er war nicht der durch den Wald schleichende Jäger, er war das lautlose, an die Schatten gebundene Raubtier, das das Wild nie zu Gesicht bekam, bevor die Reißzähne blitzten.

Sie kamen zu einer Kreuzung, an der mehrere von Chubains Wächtern in einem der abzweigenden Korridore auf Posten standen. An den Gürteln baumelten Schwerter, und sie trugen die weißen Wappenröcke mit der Flamme von Tar Valon. Einer von ihnen hielt die Hand hoch.

»Ich darf herein«, sagte Gawyn. »Die Amyrlin …«

»Die Schwestern sind noch nicht fertig«, erwiderte der Wächter feindselig.

Gawyn knirschte mit den Zähnen, aber daran ließ sich nichts ändern. Er und Sleete traten zurück und warteten, bis endlich! – drei Aes Sedai aus einem bewachten Zimmer traten. Sie sahen besorgt aus. Sie gingen los, begleitet von zwei Soldaten, die etwas in ein weißes Tuch Eingehülltes trugen. Die Leiche.

Schließlich traten die beiden Wächter zögernd zur Seite und ließen Gawyn und Sleete passieren. Sie eilten den Korridor entlang und blieben vor einem kleinen Lesezimmer stehen. Gawyn zögerte neben der Tür und warf einen Blick zurück in den Korridor. Er konnte ein paar Aufgenommene sehen, die flüsternd um die Ecke spähten.

Mit diesem Mord waren es vier tote Schwestern. Egwene hatte alle Hände voll zu tun, um zu verhindern, dass die Ajahs wieder ihr Misstrauen gegeneinander richteten. Sie hatte jeden zur Aufmerksamkeit ermahnt und Schwestern angewiesen, nie allein zu gehen. Die Schwarze Ajah kannte die Burg gut, ihre Mitglieder hatten jahrelang dort gelebt. Mit Wegetoren konnten sie in die Gänge schlüpfen und morden.

Zumindest war das die offizielle Erklärung für die Todesfälle. Gawyn war sich da nicht so sicher. Er betrat den Raum. Sleete folgte ihm.

Chubain persönlich war da. Der gut aussehende Mann blickte Gawyn mit herabgezogenen Lippen entgegen. »Lord Trakand.«

»Hauptmann«, erwiderte Gawyn und schaute sich in der kleinen Kammer um. Ein Schreibtisch stand an der gegenüberliegenden Wand, darauf eine nicht entzündete Kohlenpfanne. In der Ecke brannte eine Stehlampe aus Bronze; ein kreisrunder Teppich bedeckte beinahe den ganzen Boden. Unter dem Tisch wies er einen feuchten dunklen Fleck auf.

»Glaubt Ihr wirklich etwas zu finden, das den Schwestern entgangen ist, Trakand?«, fragte Chubain und verschränkte die Arme.

»Ich suche nach anderen Dingen«, sagte Gawyn. Er ging auf die Knie, um den Teppich zu untersuchen.

Chubain schnaubte, dann ging er hinaus in den Korridor. Die Burgwache würde bleiben, bis die Diener gekommen waren, um alles sauber zu machen. Gawyn hatte bloß ein paar Minuten.

Sleete trat zu einem der Wächter, die im Türrahmen standen. Ihm gegenüber benahmen sie sich nicht so feindselig wie gegenüber Gawyn. Er hatte noch immer nicht herausgefunden, woran das eigentlich lag.

» Sie war allein?«, fragte Sleete den Mann mit seiner tiefen Stimme.

»Ja.« Der Wächter schüttelte den Kopf. »Sie hätte den Rat der Amyrlin nicht ignorieren sollen.«

»Wer war sie?«

»Kateri Nepvue von den Weißen Ajah. Seit zwanzig Jahren Schwester.«

Gawyn grunzte, während er weiter über den Boden kroch und den Teppich untersuchte. Vier Schwestern aus vier verschiedenen Ajahs. Zwei hatten Egwene unterstützt, eine Elaida, und eine war neutral gewesen und erst kürzlich wieder heimgekehrt. Alle waren zu verschiedenen Tageszeiten auf verschiedenen Ebenen des Turms ermordet worden.

Zweifellos sah es wie das Werk der Schwarzen Ajah aus. Sie suchten nicht nach bestimmten Zielen, sondern nach welchen, die sich anboten. Aber etwas daran war falsch, das sagte ihm sein Gefühl. Warum nicht in der Nacht in die Quartiere der Schwestern Reisen und sie im Schlaf umbringen? Warum hatte niemand Machtlenken von den Orten gespürt, an denen die Schwestern getötet worden waren?

Sleete inspizierte sorgfältig Tür und Schloss. Als Egwene Gawyn die Erlaubnis gegeben hatte, die Orte der Verbrechen zu besuchen, hatte er sie gefragt, ob er Sleete mitnehmen dürfe. Bei ihren früheren Begegnungen hatte sich der Behüter nicht nur als sorgfältig erwiesen, sondern auch diskret.

Gawyn suchte weiter. Etwas machte Egwene nervös, davon war er überzeugt. Sie war nicht völlig ehrlich, was diese Morde anging. Er fand keine Furchen im Teppich oder den Bodenfliesen, keine Schnitte in den Möbeln des kleinen Zimmers.

Egwene hatte behauptet, die Mörder kämen durch Wegetore, aber dafür hatte er keinen Beweis gefunden. Sicher, er wusste noch nicht viel über diese Wegetore, und Berichten zufolge konnte man sie über dem Boden erzeugen, damit sie nichts zerschnitten. Aber warum sollten sich die Schwarzen Ajah diese Mühe machen? Davon abgesehen war dieser Raum so klein, dass es seiner Meinung nach sehr schwer gewesen wäre, ohne eine Spur zu hinterlassen in ihn hineinzukommen.

»Gawyn, kommt her«, sagte Sleete. Der Behüter kniete noch immer neben dem Eingang.

Gawyn gesellte sich zu ihm. Sleete schob mehrmals den Riegel des Schlosses hin und her. »Diese Tür könnte aufgebrochen worden sein«, sagte er leise. »Seht Ihr diesen Kratzer auf dem Riegel? Man kann diese Art Schloss öffnen, indem man einen schmalen Haken einführt und gegen den Riegel stemmt, um dann Druck auf die Klinke auszuüben. Das kann man so gut wie lautlos machen.«

»Warum sollten Schwarze Ajah eine Tür aufbrechen müssen?«, fragte Gawyn.

»Vielleicht sind sie in den Korridor Gereist und dann herumgegangen, bis sie unter einer Tür Licht durchscheinen sahen«, meinte Sleete.

»Und warum das Tor dann nicht auf der anderen Seite öffnen?«

»Machtlenken hätte die Frau darin alarmiert«, sagte Sleete.

»Das stimmt.« Gawyn sah zu dem blutigen Flecken. Der Schreibtisch stand so, dass sein Benutzer der Tür den Rücken zukehrte. Dieses Arrangement gab Gawyn einen Juckreiz zwischen den Schultern. Wer stellte denn einen Schreibtisch so auf? Eine Aes Sedai, die sich in völliger Sicherheit wähnte und von möglichen Störungen auf dem Korridor abgewandt sitzen wollte. Trotz ihrer ganzen Durchtriebenheit schienen Aes Sedai manchmal ein erstaunlich unterentwickeltes Gefühl für Selbsterhaltung zu haben.

Aber vielleicht dachten sie auch einfach nicht wie Soldaten. Um diese Dinge kümmerten sich ihre Behüter. »Hatte sie einen Behüter?«

»Nein«, sagte Sleete. »Ich habe sie kennengelernt. Sie hatte keinen.« Er zögerte. »Keine der Ermordeten hatte einen Behüter. «

Gawyn sah Sleete mit hochgezogener Braue an.

»Das macht Sinn«, sagte Sleete. »Wer auch immer sie umbringt, wollte keine Behüter alarmieren.«

»Aber warum mit dem Messer töten?«, sagte Gawyn. Alle vier waren auf diese Weise getötet worden. »Die Schwarzen Ajah müssen nicht den Drei Eiden gehorchen. Sie hätten mit der Einen Macht töten können. Viel direkter, viel einfacher.«

»Aber damit riskiert man, das Opfer oder all jene in der Nähe zu alarmieren«, bemerkte Sleete.

Ein weiterer guter Einwand. Trotzdem, irgendetwas an diesen Morden ergab keinen Sinn.

Aber vielleicht griff er ja auch daneben, bemühte sich, etwas zu finden, mit dem er helfen konnte. Ein Teil von ihm glaubte, dass, wenn er Egwene bei diesem Problem helfen konnte, sie ihm zugeneigter sein würde. Ihm vielleicht vergeben würde, dass er sie während des Angriffs der Seanchaner aus der Burg gerettet hatte.

Einen Augenblick später trat Chubain ein. »Ich gehe davon aus, dass Eure Lordschaft ausreichend Zeit hatten«, sagte er steif. »Die Dienerschaft ist da, um sauber zu machen.«

Unerträglicher Kerl!, dachte Gawyn. Muss er mir gegenüber so abschätzig sein? Ich sollte …

Nein. Gawyn zwang sich, sein Temperament unter Kontrolle zu behalten. Früher war ihm das nicht so schwergefallen.

Warum war Chubain so feindselig? Gawyn ertappte sich bei dem Gedanken, wie wohl seine Mutter mit so einem Mann umgegangen wäre. Er dachte nicht oft an sie, denn das erinnerte ihn an al’Thor. Diesem Mörder hatte man sogar erlaubt, die Weiße Burg ungehindert zu verlassen! Egwene hatte ihn in der Hand gehabt und ihn gehen lassen.

Sicher, al’Thor war der Wiedergeborene Drache. Aber in seinem Herzen wollte Gawyn al’Thor mit dem Schwert in der Hand begegnen und ihn mit Stahl durchbohren. Wiedergeborener Drache oder nicht.

Al’Thor würde dich mit der Einen Macht in Stücke reißen, sagte er sich. Du bist ein Narr, Gawyn Trakand. Sein Hass auf al’Thor brodelte trotzdem weiter.

Einer von Chubains Wächtern trat vor, sagte etwas und zeigte auf die Tür. Chubain sah verärgert aus, dass ihnen das aufgebrochene Schloss nicht aufgefallen war. Die Burgwache diente nicht als Ordnungshüter – die Schwestern brauchten so etwas nicht und waren bei dieser Art Untersuchung sowieso viel effektiver. Aber Gawyn konnte sehen, dass sich Chubain wünschte, er könnte den Anschlägen ein Ende bereiten. Die Burg und ihre Bewohner zu beschützen war seine Pflicht.

Also arbeiteten er und Gawyn für dasselbe Ziel. Aber Chubain benahm sich, als wäre das ein persönlicher Wettstreit zwischen ihnen. Obwohl seine Seite während der Spaltung der Burg fraglos von Brynes Seite besiegt wurde, dachte Gawyn. Und soweit er weiß, gehöre ich zu Brynes Lieblingen.

Gawyn war kein Behüter, aber er war ein Freund der Amyrlin. Er aß zusammen mit Bryne. Wie sah das wohl für Chubain aus, vor allem jetzt, da er die Erlaubnis erhalten hatte, die Morde zu untersuchen?

Beim Licht!, dachte Gawyn, als ihm Chubain einen finsteren Blick zuwarf. Er glaubt, ich will ihm seine Stellung streitig machen. Er glaubt, ich will Oberhauptmann der Burgwache werden!

Die Vorstellung war einfach lächerlich. Gawyn hätte der Erste Prinz der Schwerter sein können, nein müssen, der Anführer der Heere Andors und der Beschützer der Königin. Er war der Sohn von Morgase Trakand, eine der einflussreichsten und mächtigsten Herrscherinnen, die Andor je gehabt hatte. Er verspürte nicht das geringste Verlangen für die Position dieses Mannes.

Allerdings sah das Chubain sicher anders. Entehrt durch den zerstörerischen seanchanischen Angriff, musste er das Gefühl haben, seine Stellung sei in Gefahr.

» Hauptmann «, sagte Gawyn, » ein Wort unter vier Augen?«

Chubain sah Gawyn misstrauisch an, aber dann deutete er mit dem Kopf in Richtung Korridor. Die beiden Männer zogen sich zurück. Draußen warteten schon nervöse Burgdiener, die alles vom Blut säubern wollten.

Chubain verschränkte die Arme und musterte Gawyn. » Was wollt Ihr von mir, mein Lord?«

Er betonte oft den Rang. Ganz ruhig, dachte Gawyn. Er verspürte noch immer Scham über die Art und Weise, wie er sich den Weg in Brynes Lager erzwungen hatte. Er war besser als das. Die Zeit bei den Jünglingen und das hautnahe Erleben der Spaltung der Burg, die Verwirrung und Schande, die dieses Ereignis mit sich gebracht hatte, hatten ihn verändert. Diesem Pfad konnte er nicht länger folgen.

»Hauptmann«, sagte er, »ich weiß es zu schätzen, dass Ihr mich dieses Zimmer untersuchen ließet.«

»Ich hatte keine große Wahl.«

»Das weiß ich. Trotzdem danke ich Euch. Es ist mir wichtig, dass die Amyrlin sieht, dass ich helfe. Falls ich etwas finde, das die Schwestern übersehen haben, könnte das sehr wichtig für mich sein.«

»Ja«, erwiderte Chubain mit zusammengekniffenen Augen. »Das könnte es wohl.«

»Vielleicht nimmt sie mich dann endlich als ihren Behüter an.«

Chubain blinzelte. »Ihren … Behüter?«

»Ja. Einst erschien es so gut wie sicher, dass sie das tut, aber jetzt… nun, wenn ich Euch bei dieser Untersuchung helfen kann, wird das vielleicht ihren Zorn auf mich abkühlen.« Er hob die Hand und drückte Chubains Schulter. »Ich werde Eure Hilfe nicht vergessen. Ihr nennt mich Lord, aber mein Titel hat so gut wie jede Bedeutung für mich verloren. Ich will nur Egwenes Behüter sein, sie beschützen.«

Chubain runzelte die Stirn. Dann nickte er und schien sich zu entspannen. »Ich habe Euer Gespräch mitbekommen. Ihr sucht nach Spuren von Wegetoren. Warum?«

»Ich halte das nicht für das Werk der Schwarzen Ajah«, sagte Gawyn. »Ich glaube, es könnte ein Grauer Mann sein oder irgendein Attentäter. Vielleicht ein Schattenfreund bei der Dienerschaft? Ich meine, seht Euch doch nur an, wie die Frauen getötet werden. Messer.«

Chubain nickte. »Es gab auch Anzeichen für einen Kampf. Die Schwestern, die die Untersuchung durchführen, erwähnten es. Die vom Tisch gefegten Bücher. Sie glaubten, das wären die Zuckungen der Sterbenden gewesen.«

»Seltsam«, meinte Gawyn. »Wäre ich eine Schwarze Schwester, würde ich die Eine Macht benutzen, ganz egal, dass andere das spüren könnten. In der Burg lenken Frauen ständig die Macht; das wäre nicht verdächtig. Ich würde meine Opfer mit Geweben fesseln, sie mit der Macht töten und dann entkommen, bevor auch nur jemand Verdacht schöpft. Kein Kampf.«

»Vielleicht«, sagte Chubain. »Aber die Amyrlin scheint davon überzeugt zu sein, dass es das Werk von Schwarzen Schwestern ist.«

»Ich spreche mit ihr, um den Grund dafür zu erfahren«, sagte Gawyn. »Aber vielleicht solltet Ihr im Moment denen, die diese Untersuchung durchführen, den Vorschlag machen, dass es klug sein könnte, die Diener zu befragen. Wenn man es einmal auf diese Weise betrachtet?«

»Ja… ich glaube, das könnte ich tun.« Der Mann nickte und schien sich weniger bedroht zu fühlen.

Die beiden Männer traten zur Seite. Chubain gab den Dienern das Zeichen, eintreten zu dürfen. Sleete kam mit nachdenklicher Miene heraus. Er hielt etwas zwischen zwei Fingern in die Höhe. »Schwarze Seide«, sagte er. »Man kann nicht feststellen, ob die vom Angreifer stammt.«

Chubain nahm die Fasern entgegen. »Seltsam.«

»Eine Schwarze Schwester würde wohl kaum Schwarz tragen, um ihre Gesinnung zur Schau zu stellen«, sagte Gawyn. »Ein gewöhnlicher Attentäter hingegen könnte dunkle Farben brauchen, um sich besser zu verbergen.«

Chubain schlug die Fasern in ein Taschentuch ein und steckte es ein. »Ich werde das Seaine Sedai zeigen.« Er sah beeindruckt aus.

Gawyn nickte Sleete zu, und die beiden Männer zogen sich zurück.

»In der Weißen Burg wimmelt es im Moment nur so von zurückkehrenden Schwestern und neuen Behütern«, sagte Sleete leise. »Wie sollte jemand in schwarzer Kleidung zu den oberen Ebenen kommen, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ganz egal, wie verstohlen er ist?«

»Graue Männer sollen angeblich nicht bemerkt werden können«, sagte Gawyn. »Ich halte das für einen weiteren Beweis. Es ist doch seltsam, dass keiner diese Schwarzen Schwestern tatsächlich gesehen hat. Wir gehen hier von vielen Annahmen aus.«

Sleete nickte und betrachtete drei Novizinnen, die die Wächter anstarrten. Sie bemerkten Sleetes Blick und eilten kichernd auseinander.

»Egwene weiß mehr, als sie sagt«, behauptete Gawyn. »Ich spreche mit ihr.«

»Angenommen, sie empfängt Euch«, sagte Sleete.

Gawyn grunzte gereizt. Eine Reihe abschüssiger Rampen brachte sie zu der Ebene, auf der sich das Arbeitszimmer der Amyrlin befand. Sleete blieb an Gawyns Seite. Seine Aes Sedai, eine Grüne namens Hattori, hatte nur selten etwas für ihn zu tun. Sie hatte noch immer ihr Auge auf Gawyn als möglichen Behüter geworfen; Egwene war noch immer so unvernünftig, dass Gawyn manchmal tatsächlich darüber nachdachte, Hattori gewähren zu lassen.

Nein. Nein, das war nur so ein Gedanke. Er liebte Egwene, auch wenn sie ihn rasend machte. Es war keine einfache Entscheidung gewesen, Andor für sie aufzugeben – ganz zu schweigen von den Jünglingen. Und noch immer weigerte sie sich, mit ihm den Behüterbund einzugehen.

Er erreichte das Arbeitsgemach und trat ein. Silviana saß an ihrem ordentlich aufgeräumten Schreibtisch im Vorzimmer von Egwenes Arbeitsraum. Die Frau musterte Gawyn; hinter ihrer reglosen Aes Sedai-Miene blieben ihre wahren Gefühle unleserlich. Er vermutete, dass sie ihn nicht leiden mochte.

»Die Amyrlin verfasst gerade einen Brief von großer Bedeutung«, sagte Silviana. »Ihr dürft warten.« Gawyn öffnete den Mund.

»Sie bat darum, nicht gestört zu werden«, sagte Silviana und wandte sich wieder den Papieren zu, die sie gelesen hatte. »Ihr dürft warten.«

Gawyn seufzte, nickte dann aber. Sleete erregte mit einem Blick seine Aufmerksamkeit und bedeutete, dass er gehen wollte. Warum hatte er ihn dann überhaupt nach unten begleitet? Er war ein seltsamer Mann. Gawyn winkte zum Abschied, und Sleete verschwand.

Das Vorzimmer war ein prächtiger Raum mit einem dunkelroten Teppich und holzgetäfelten Steinwänden. Er wusste aus Erfahrung, dass keiner der hier vorhandenen Stühle bequem war, aber es gab ein Fenster. Gawyn ging zu ihm, um etwas Luft zu schnappen, und legte die Arme auf die Fensterbank aus Stein, schaute hinaus auf das Gelände der Weißen Burg. Hier oben fühlte sich die Luft frischer, neuer an.

Unter ihm war das neue Übungsgelände der Behüter zu sehen. Das alte war aufgerissen worden, als Elaida mit ihrem Palastbau angefangen hatte. Niemand war sich sicher, was Egwene damit anfangen würde.

Auf dem Übungsgelände herrschte Betriebsamkeit. Gestalten kämpften, liefen, fochten. Der Zustrom an Flüchtlingen, Soldaten und Söldnern hatte viele gebracht, die sich für angehende Behüter hielten. Egwene hatte das Gelände für jeden geöffnet, der trainieren und sich beweisen wollte, da sie plante, im Verlauf der nächsten paar Wochen so viele Frauen, wie bereit waren, zu Aes Sedai zu erheben.

Gawyn hatte dort ein paar Tage absolviert, aber hier schienen die Geister der Männer, die er getötet hatte, viel mehr Präsenz zu haben. Das Übungsgelände war Teil seiner Vergangenheit, eine Zeit, bevor alles schiefgelaufen war. Andere Jünglinge waren mühelos – und glücklich – zu diesem Leben zurückgekehrt. Jisao, Rajar, Durrent und die meisten anderen seiner Offiziere waren bereits als Behüter erwählt worden. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würde nichts mehr von seiner Gruppe übrig sein. Ausgenommen er selbst.

Die Tür zum Innenraum öffnete sich, gefolgt von gedämpften Stimmen. Gawyn drehte sich um und sah Egwene, die zu Silviana ging, um mit ihr zu sprechen. Heute trug sie Grün und Gelb. Die Behüterin warf ihm einen Blick zu, und er glaubte so etwas wie den Ansatz eines Stirnrunzeins auf ihrem Gesicht entdecken zu können.

Egwene entdeckte ihn. Sie behielt ihre Aes Sedai-Gelassenheit bei – darin war sie so schnell so gut geworden -, und in ihm regte sich augenblicklich Unbehagen.

»Heute Morgen gab es einen weiteren Todesfall«, sagte er ruhig und kam auf sie zu.

»Genau genommen war das vergangene Nacht«, erwiderte Egwene.

»Ich muss mit dir sprechen«, sprudelte es aus Gawyn heraus.

Egwene und Silviana wechselten einen Blick. »Also gut«, sagte Egwene und rauschte zurück in ihr Arbeitszimmer.

Gawyn folgte ihr, ohne die Behüterin eines Blickes zu würdigen. Das Arbeitszimmer der Amyrlin gehörte zu den prächtigsten Räumen in der Burg. Die Wände waren mit hellem Holz voller phantasiereicher, wunderbar detaillierter Szenen getäfelt. Der Kamin bestand aus Marmor, der Boden aus dunkelroten, in Diamantform geschnittenen Steinfliesen. Egwenes großer, mit Schnitzereien verzierter Schreibtisch war mit zwei Lampen ausgestattet. Sie hatten die Form zweier Frauen, die ihre Arme in die Luft hoben und aus deren zusammengelegten Händen Flammen brannten.

An der einen Wand standen Regale mit Büchern, die allem Anschein nach Farbe und Größe sortiert waren statt nach Inhalt. Sie sollten das Arbeitszimmer der Amyrlin weniger nüchtern erscheinen lassen, bis Egwene ihre eigene Wahl getroffen hatte.

»Was gibt es denn so Dringendes zu besprechen?«, sagte Egwene und setzte sich hinter ihren Schreibtisch. »Die Morde«, sagte Gawyn. »Was ist damit?«

Gawyn schloss die Tür. »Verflucht, Egwene. Musst du mir jedes Mal die Amyrlin präsentieren, wenn wir miteinander sprechen? Darf ich wenigstens nicht einmal Egwene sehen?«

»Ich zeige dir die Amyrlin«, erwiderte Egwene, »weil du dich weigerst, sie zu akzeptieren. Sobald du das tust, können wir das vielleicht hinter uns lassen.«

»Beim Licht! Du hast gelernt, wie sie zu sprechen.«

»Weil ich eine von ihnen bin!«, sagte sie. »Die Wahl deiner Worte verrät dich. Die Amyrlin kann nicht die Hilfe jener akzeptieren, die sich weigern, ihre Autorität anzuerkennen.«

»Ich akzeptiere dich«, sagte Gawyn. »Das tue ich wirklich, Egwene. Aber ist es nicht wichtig, Menschen zu haben, die dich um deinetwillen akzeptieren und nicht allein wegen des Titels?«

»Solange sie wissen, dass es einen Platz für Gehorsam gibt.« Ihre Miene wurde weicher. »Du bist noch nicht bereit, Gawyn. Es tut mir leid.«

Er biss die Zähne zusammen. Jetzt keine Überreaktion, sagte er sich. »Also gut. Dann also diese Attentate. Uns ist klar geworden, dass keine der getöteten Frauen einen Behüter hatte.«

Egwene runzelte die Stirn.

»Wir bereiten uns auf die Letzte Schlacht vor. Trotzdem gibt es Schwestern ohne Behüter. Viele Schwestern. Einige hatten einen, nahmen aber nach seinem Tod keinen neuen an. Andere wollten nie einen haben. Ich glaube nicht, dass du dir das leisten kannst.«

»Was soll ich also deiner Meinung nach tun?« Sie verschränkte die Arme. »Den Frauen befehlen, sich einen Behüter zu nehmen?«

»Ja.«

Sie lachte. »Gawyn, diese Art Macht hat die Amyrlin nicht.«

»Dann sorg dafür, dass es der Saal tut.«

»Du weißt nicht, wovon du sprichst. Die Wahl eines Behüters ist eine sehr persönliche und intime Entscheidung. Keine Frau sollte dazu gezwungen werden.«

»Nun«, erwiderte Gawyn, der sich nicht einschüchtern lassen wollte, »die Entscheidung in den Krieg zu ziehen ist ebenfalls sehr ›persönlich‹ und ›intim‹, doch im ganzen Land ruft man Männer dazu auf. Manchmal sind Gefühle nicht so wichtig wie das Überleben.

Behüter erhalten Schwestern am Leben, und jede Aes Sedai wird bald von entscheidender Bedeutung sein. Es wird zahllose Legionen von Trollocs geben. Jede Schwester auf dem Schlachtfeld wird wertvoller als hundert Soldaten sein, und jede heilende Schwester wird Dutzende von Leben retten. Die Aes Sedai sind ein Guthaben, das der Menschheit gehört. Du kannst es dir nicht leisten, sie ohne Schutz zu lassen.«

Egwene lehnte sich zurück, vielleicht durch die Leidenschaft seiner Worte. Dann nickte sie unerwarteterweise. »Vielleicht… liegt Weisheit in diesen Worten, Gawyn.«

»Setze es im Saal auf die Tagesordnung. Im Grunde ist es selbstsüchtig, wenn sich eine Schwester nicht mit einem Behüter verbindet. Dieser Bund macht einen Mann zu einem besseren Soldaten, und wir brauchen jeden Vorteil, der sich uns bietet. Und es wird auch helfen, diese Morde zu verhindern.«

»Ich will sehen, was sich machen lässt.«

»Könntest du mir Einsicht in die Berichte der Schwestern gewähren?«, fragte Gawyn. »Die über die Morde, meine ich.«

»Gawyn«, erwiderte sie. »Ich habe dir erlaubt, an dieser Untersuchung teilzunehmen, weil ich der Meinung war, dass es gut sein könnte, alles noch aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Dir ihre Berichte zu geben würde dich nur beeinflussen und dieselben Schlüsse wie sie ziehen lassen.«

»Dann verrate mir wenigstens eines. Haben die Schwestern die Befürchtung zur Sprache gebracht, dass das nicht das Werk der Schwarzen Ajah sein könnte? Dass der Mörder ein Grauer Mann oder ein Schattenfreund sein könnte?«

»Nein, das haben sie nicht«, sagte Egwene, »weil wir wissen, dass der Attentäter nichts dergleichen ist.«

»Aber die Tür vergangene Nacht, sie wurde aufgebrochen. Und die Frauen werden mit Messern getötet, nicht mit der Einen Macht. Es gibt keine Spuren von Wegetoren oder …«

»Der Mörder hat Zugang zur Einen Macht«, sagte Egwene mit sorgfältig gewählten Worten. »Und vielleicht benutzen sie keine Wegetore.«

Gawyn kniff die Augen zusammen. Das klang nach den Worten einer Frau, die um ihren Eid herumtänzelte, um nicht lügen zu müssen. »Du hast Geheimnisse«, sagte er. »Nicht nur vor mir. Vor der ganzen Burg.«

»Manchmal sind Geheimnisse nötig, Gawyn.«

»Kannst du sie mir nicht anvertrauen?« Er zögerte. »Ich mache mir Sorgen, dass der Attentäter dich angreift, Egwene. Du hast keinen Behüter.«

»Zweifellos wird sie irgendwann auf mich losgehen.« Sie spielte mit etwas auf ihrem Schreibtisch. Es sah wie ein abgenutzter Lederriemen aus, wie man ihn zur Bestrafung eines Delinquenten benutzte. Seltsam.

Sie? »Bitte«, sagte er. »Was geht hier vor?«

Sie musterte ihn, dann seufzte sie. »Also gut. Ich habe es auch den Frauen gesagt, die die Untersuchung durchführen. Vielleicht sollte ich es auch dir sagen. In der Weißen Burg hält sich eine der Verlorenen auf.«

Er legte die Hand auf den Schwertgriff. »Was? Wo! Hältst du sie gefangen?«

»Nein«, sagte Egwene. »Sie ist die Attentäterin.«

»Das weißt du genau?«

»Ich weiß, dass Mesaana hier ist. Ich habe Geträumt, dass es stimmt. Sie verbirgt sich unter uns. Und jetzt sind vier Aes Sedai tot? Sie ist es, Gawyn. Es ist das Einzige, was Sinn macht.«

Er verkniff sich Fragen. Er wusste nicht viel über das Träumen, aber er wusste, dass Egwene dieses Talent hatte. Angeblich war das so ähnlich wie eine Vorhersehung.

»Ich habe das nicht in der ganzen Burg bekannt gemacht«, fuhr Egwene fort, »denn ich habe folgende Befürchtung: Sollten alle wissen, dass eine der Schwestern in unserer Umgebung insgeheim eine der Verlorenen ist, würde uns das alle wieder auseinanderbringen wie bei Elaida. Wir würden einander misstrauen.

Es ist jetzt schon schlimm genug, wo alle glauben, dass Schwarze Schwestern mithilfe des Reisens eindringen und diese Morde begehen, aber wenigstens erregt das kein Misstrauen untereinander. Und vielleicht wird Mesaana glauben, dass ich keine Ahnung habe, dass sie es ist. Nun ja, das ist das Geheimnis, das du unbedingt wissen wolltest. Wir jagen keine Schwarze Schwester, sondern eine der Verlorenen.«

Es war eine beängstigende Vorstellung – aber auch nicht schlimmer, als dass der Wiedergeborene Drache durch das Land streifte. Beim Licht, eine Verlorene in der Weißen Burg erschien plausibler, als dass Egwene die Amyrlin-Sitz war! »Wir schaffen das«, sagte er und klang zuversichtlicher, als er sich fühlte.

»Ich lasse Schwestern den Lebenslauf von jedem in der Burg untersuchen«, sagte Egwene. »Andere halten nach verdächtigen Worten oder Geschehnissen Ausschau. Wir finden sie. Aber ich wüsste nicht, wie wir die Frauen besser schützen können, ohne eine viel gefährliche Panik zu verursachen.«

»Behüter«, sagte Gawyn überzeugt.

»Ich denke darüber nach, Gawyn. Aber im Augenblick brauche ich dich für etwas anderes.«

»Wenn es in meiner Macht liegt.« Er trat einen Schritt auf sie zu. »Das weißt du.«

»Tatsächlich?«, fragte sie trocken. »Also gut. Ich will, dass du aufhörst, nachts meine Türe zu bewachen.«

» Was? Egwene, nein!«

Sie schüttelte den Kopf. »Siehst du? Deine erste Reaktion besteht darin, mir zu widersprechen.«

»Es ist die Pflicht eines Behüters, unter vier Augen zu widersprechen, wenn es um seine Aes Sedai geht!« Hammar hatte ihm das beigebracht.

»Du bist aber nicht mein Behüter.«

Das nahm ihm den Wind aus den Segeln.

»Davon abgesehen könntest du kaum etwas gegen eine der Verlorenen ausrichten«, sagte Egwene. »Dieser Kampf wird von den Schwestern ausgetragen, und ich bin sehr sorgfältig, was die von mir angebrachten Schutzgewebe angeht. Ich will, dass meine Gemächer einladend aussehen. Wenn sie versucht, mich anzugreifen, kann ich sie vielleicht mit einem Hinterhalt überraschen.«

»Du willst den Köder spielen?« Gawyn brachte die Worte kaum hervor. »Das ist doch Wahnsinn.«

»Nein. Es ist Verzweiflung. Frauen, für die ich verantwortlich bin, sterben. Werden in der Nacht ermordet, in einer Zeit, in der wir jede von ihnen brauchen, wie du selbst gesagt hast.«

Zum ersten Mal schimmerte Müdigkeit durch ihre Maske; eine Müdigkeit, die sich in ihrem Tonfall und einem leichten Erschlaffen ihrer Haltung zeigte. Sie faltete die Hände und erschien plötzlich erschöpft.

»Ich lasse Schwestern alles zusammentragen, was wir über Mesaana wissen«, fuhr sie fort. »Sie ist keine Kriegerin. Sie ist Verwalterin, eine Planerin. Wenn ich sie konfrontieren kann, dann kann ich sie besiegen. Aber zuerst müssen wir sie finden. Mich verwundbar zu machen ist nur einer meiner Pläne – und du hast recht, es ist gefährlich. Aber meine Vorkehrungen sind weitläufig gewesen.«

»Es gefällt mir nicht.«

»Deine Zustimmung ist nicht nötig.« Sie betrachtete ihn. »Du wirst mir einfach vertrauen müssen.«

»Ich vertraue dir.«

»Ich bitte lediglich darum, dass du es mir einmal zeigst.«

Gawyn biss die Zähne zusammen. Dann verneigte er sich und verließ das Arbeitszimmer, bemühte sich, die Tür nicht zu laut zu schließen, wobei er kläglich versagte. Silviana warf ihm einen missbilligenden Blick zu, als er an ihr vorbeiging.

Von dort begab er sich auf direktem Weg zum Übungsgelände, auch wenn er sich dort unbehaglich fühlte. Er brauchte eine Übungsrunde mit dem Schwert.


Egwene stieß einen langen Seufzer aus, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Warum fiel es ihr so schwer, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, wenn sie es mit Gawyn zu tun hatte? Sie kam sich nie so sehr als schlechte Aes Sedai vor, als wenn sie mit ihm sprach.

So viele Gefühle brodelten in ihrem Inneren, als würden verschiedene Weine miteinander vermischt: Zorn wegen seiner Sturheit, brennendes Verlangen nach seinen Armen, Verwirrung über die eigene Unfähigkeit, eines davon vor das andere zu setzen.

Gawyn hatte diese Art, ihr unter die Haut und weiter bis ins Herz zu gehen. Seine Leidenschaft war bezaubernd. Sie machte sich Sorgen, dass sie sie anstecken würde, wenn sie mit ihm den Bund einging. Funktionierte das so? Wie fühlte es sich wohl an, miteinander verbunden zu sein und die Gefühle des anderen zu spüren?

Das wollte sie mit ihm teilen, diese Verbindung, die andere hatten. Und es war wichtig, dass sie Menschen hatte, bei denen sie sich darauf verlassen konnte, dass sie ihr unter vier Augen auch mal widersprachen. Menschen, die sie als Egwene kannten und nicht als die Amyrlin.

Aber Gawyn war noch immer zu unbeherrscht, vertraute ihr nicht genug.

Sie richtete den Blick wieder auf den Brief an den neuen König von Tear, in dem sie erklärte, dass Rand drohte, die Siegel zu brechen. Ihr Plan, ihn aufzuhalten, würde von der Unterstützung von Leuten abhängen, denen sie vertraute. Über Darlin Sisnera hatte sie widersprüchliche Informationen. Manche behaupteten, er sei einer von Rands glühendster Anhängern, während andere sagten, er sei einer seiner größten Widersacher.

Sie legte den Brief für den Moment zur Seite und schrieb ein paar Gedanken nieder, wie sie sich dem Saal in der Frage der Behüter nähern sollte. Gawyn hatte ausgezeichnete Argumente geliefert, auch wenn er zu weit gegangen war und zu viel vorausgesetzt hatte. An die Frauen zu appellieren, die keinen Behüter hatten, sämtliche Vorteile zu erklären und darauf hinzuweisen, dass es Leben retten und bei dem Sieg über den Schatten helfen würde … das würde angemessen sein.

Sie schenkte sich etwas Pfefferminztee aus der Kanne ein, die am Rand des Schreibtischs stand. Seltsamerweise war er nicht verdorben, wie es oft in letzter Zeit geschah, und diese Tasse schmeckte recht gut. Sie hatte Gawyn nicht den anderen Grund verraten, warum sie ihn gebeten hatte, nachts von ihrer Tür zu verschwinden. Es fiel ihr schwer zu schlafen, wenn sie wusste, dass er dort draußen war, nur wenige Schritte entfernt. Sie befürchtete nachzugeben und zu ihm zu gehen.

Silvianas Riemen hatte ihren Willen nicht brechen können, aber Gawyn Trakand … er kam dem gefährlich nahe.


Graendal hatte den Boten erwartet. Selbst hier, im geheimsten ihrer Verstecke, kam seine Ankunft nicht überraschend. Vor dem Großen Herrn konnten sich die Auserwählten nicht verstecken.

Das Versteck war kein Palast, kein prächtiges Herrenhaus oder eine uralte Festung. Es war eine Höhle auf einer Insel, die niemanden interessierte, in einem Teil des Aryth-Meeres, den nie jemand besuchte. Soweit Graendal bekannt war, gab es in ihrer Nähe nichts, das auch nur im Entferntesten für andere von Interesse war.

Die Unterbringung war einfach nur schrecklich. Sechs ihrer unbedeutenderen Schoßtiere kümmerten sich um den Ort, der bloß aus drei Gemächern bestand. Den Eingang hatte sie zugemauert, der Zugang war nur mit einem Wegetor möglich. Für frisches Wasser sorgte eine Naturquelle, das Essen kam von vorher angelegten Vorräten und die Atemluft durch Spalten. Es war feucht, und es war erbärmlich.

Mit anderen Worten, es war genau die Art von Ort, an dem sie niemand erwarten würde. Es war allgemein bekannt, dass sie es nicht ertragen konnte, auf Luxus zu verzichten. Das stimmte. Aber das Beste daran, vorhersehbar zu sein, bestand darin, dass es einem erlaubte, das Unerwartete zu tun.

Unglücklicherweise traf das nicht auf den Großen Herrn zu. Sie betrachtete das offene Wegetor vor ihr von dem mit gelber und blauer Seide bespannten Sessel. Der Bote war ein Mann mit flachen Zügen und tief gebräunter Haut, der Schwarz und Rot trug. Er brauchte nichts zu sagen – seine Anwesenheit war die Botschaft. Eines ihrer Schoßtiere, eine wunderschöne schwarzhaarige Frau mit großen braunen Augen, die einst eine tairenische Hochlady gewesen war, starrte das Wegetor an. Sie sah ängstlich aus. Graendal teilte das Gefühl.

Sie klappte die in Holz eingebundene Ausgabe von Ein Licht im Schnee zu und stand auf. Gekleidet war sie in ein Gewand aus schwarzer Seide mit eingearbeiteten Streifen aus Streith. Sie trat durch das Tor und gab sich alle Mühe, Selbstvertrauen auszustrahlen.

Moridin stand in seinem schwarzen Steinpalast. Der Raum wies keine Möbel auf, da war nur der Kamin, in dem ein Feuer brannte. Beim Großen Herrn! Ein Feuer an einem so warmen Tag? Sie behielt ihre Haltung bei und fing nicht an zu schwitzen.

Er wandte sich ihr zu; schwarze Flecken aus Saa trieben durch seine Augen. »Ihr wisst, warum ich Euch rief.« Das war keine Frage.

»Das tue ich.«

»Aran’gar ist tot, ist für uns verloren – und das, nachdem der Große Herr beim letzten Mal ihre Seele verwandelte. Man könnte glauben, Ihr macht Euch so etwas zur Gewohnheit, Graendal.«

»Ich lebe, um zu dienen, Nae’blis.« Selbstvertrauen! Sie musste zuversichtlich erscheinen.

Er zögerte nur kurz. Gut. »Sicherlich wollt Ihr doch nicht andeuten, dass Aran’gar zum Verräter wurde.«

»Was?«, sagte Graendal. »Nein, natürlich nicht.«

»Und warum sollte Euer Tun dann ein Dienst sein?«

Graendal zwang einen Ausdruck besorgter Verwirrung aufs Gesicht. »Ich führte doch nur den Befehl aus, den man mir gab. Bin ich denn nicht hier, um ein Lob zu empfangen?«

»Ganz im Gegenteil«, sagte Moridin trocken. »Eure vorgetäuschte Verwirrung funktioniert bei mir nicht, Frau.«

»Das ist nicht vorgetäuscht«, sagte Graendal und bereitete ihre Lüge vor. »Natürlich erwartete ich nicht, dass der Große Herr begeistert sein würde, einen der Auserwählten zu verlieren, aber das Ergebnis war offensichtlich den Preis wert.«

»Welches Ergebnis?«, knurrte Moridin. »Ihr habt Euch überrumpeln lassen und törichterweise das Leben eines der Auserwählten verloren! Wir hätten uns darauf verlassen sollen können, dass gerade Ihr von allen Leuten Euch nicht von al’Thor ein Bein stellen lasst.«

Er wusste nicht, dass sie Aran’gar gefesselt und zum Sterben zurückgelassen hatte, er hielt es für ein Missgeschick. Gut. »Mich überrumpeln lassen?«, sagte sie und klang entsetzt. »Ich habe mich nie … Moridin, wie könnt Ihr auch nur glauben, ich hätte mich zufällig von ihm finden lassen!«

»Ihr habt es absichtlich getan?«

»Natürlich«, antwortete Graendal. »Ich musste ihn beinahe an die Hand nehmen, um ihn zu Natrins Hügel zu führen. Lews Therin konnte doch nie die Tatsachen erkennen, die er vor der Nase hatte. Moridin, versteht Ihr denn nicht? Wie wird Lews Therin auf das reagieren, was er getan hat? Eine ganze Festung, eine Miniaturstadt mit Hunderten von Bewohnern zu vernichten? Unschuldige zu töten, um sein Ziel zu erreichen? Wird ihm das gleichgültig sein?«

Moridin zögerte. Nein, darüber hatte er nicht nachgedacht. Insgeheim lächelte sie. Für ihn würden al’Thors Handlungen völlig normal gewesen sein. Es war der logischste und damit der vernünftigste Weg gewesen, das Ziel zu erreichen.

Aber al’Thor selbst… er steckte voller Tagträume über Ehre und Tugenden. Dieser Vorfall würde ihm garantiert zu schaffen machen, und ihn Moridin gegenüber als Lews Therin zu bezeichnen wurde das noch unterstreichen. Diese Taten würden an al’Thor nagen, an seiner Seele reißen, sein Herz wund und blutig peitschen. Er würde Albträume haben, würde die Schuld auf seinen Schultern tragen wie das Joch eines schwerbeladenen Karrens.

Sie konnte sich nur undeutlich daran erinnern, wie es gewesen war, diese ersten paar Schritte auf den Schatten zuzumachen. Hatte sie jemals diesen albernen Schmerz verspürt? Ja, leider. Das galt nicht für alle Auserwählten. Semirhage war von Anfang an korrupt bis auf die Knochen gewesen. Aber andere von ihnen hatten verschiedene Wege zum Schatten genommen, Ishamael eingeschlossen.

In Moridins Augen konnte sie die Erinnerungen sehen, so fern sie waren. Einst war sie sich nicht sicher gewesen, wer dieser Mann war, aber jetzt war sie es. Das Gesicht war anders, aber es war dieselbe Seele. Ja, er wusste genau, was al’Thor fühlte.

»Ihr habt mir befohlen, ihm Leid zuzufügen«, sagte sie. »Ihr habt mir befohlen, ihm Qualen zu bringen. Das war die beste Möglichkeit. Aran’gar half mir, aber sie floh nicht, als ich es vorschlug. Sie wollte immer mit dem Kopf durch die Wand. Aber ich bin sicher, der Große Herr findet andere Werkzeuge. Wir gingen ein Risiko ein, und es forderte einen Preis. Aber das Ergebnis … Davon abgesehen hält mich Lews Therin nun für tot. Das ist ein großer Vorteil.«

Sie lächelte. Nicht zu viel Vergnügen. Nur etwas Zufriedenheit. Moridin runzelte die Stirn, dann zögerte er und blickte zur Seite. Ins Nichts. »Ich werde Euch nicht bestrafen, jedenfalls jetzt nicht«, sagte er schließlich, obwohl er nicht erfreut darüber klang.

War das ein Austausch direkt mit dem Großen Herrn gewesen? Soweit sie wusste, mussten in diesem Zeitalter alle Auserwählten ihn im Shayol Ghul besuchen, um ihre Befehle zu erhalten. Oder einen Besuch von dieser schrecklichen Kreatur Schaidar Haran über sich ergehen lassen. Jetzt schien der Große Herr direkt mit dem Nae’blis zu sprechen. Interessant. Und beunruhigend.

Es bedeutete, dass das Ende nah war. Es würde nicht mehr viel Zeit für Täuschungsmanöver übrig sein. Sie würde sich zur Nae’blis machen und diese Welt beherrschen, sobald die Letzte Schlacht geschlagen war.

»Ich glaube, ich sollte …«

»Ihr sollt Euch von al’Thor fernhalten«, befahl Moridin. »Ihr werdet nicht bestraft, aber ich sehe auch keinen Grund, Euch zu loben. Ja, möglicherweise ist al’Thor angeschlagen, aber Ihr habt mit Eurem Plan trotzdem versagt und uns ein nützliches Werkzeug gekostet.«

»Natürlich«, sagte Graendal glatt. »Ich diene, wie es dem Großen Herrn gefällt. Ich wollte sowieso nicht vorschlagen, auf direktem Weg gegen al’Thor vorzugehen. Er hält mich für tot, soll er also erst einmal in seiner Unwissenheit verharren, während ich anderswo arbeite.«

»Anderswo?«

Graendal brauchte einen Sieg, einen entscheidenden. Sie ging die verschiedenen Pläne durch, die sie geschmiedet hatte, wählte den aus, der die größte Erfolgsaussicht hatte. Sie konnte nicht gegen al’Thor vorgehen? Also gut. Dann würde sie dem Großen Herrn etwas anderes bringen, das er sich schon lange wünschte.

»Perrin Aybara«, sagte sie. Ihr Vorhaben Moridin enthüllen zu müssen gab ihr ein Gefühl der Blöße. Sie zog es vor, ihre Pläne für sich zu behalten. Aber sie bezweifelte, dass sie diesem Treffen entkommen wäre, ohne es ihm zu sagen. »Ich bringe Euch seinen Kopf.«

Moridin wandte sich dem Feuer zu, verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Er beobachtete die Flammen.

Entsetzt fühlte sie, wie ihr Schweiß die Stirn hinunterrann. Was? Sie konnte Hitze und Kälte meiden. Was stimmte nicht? Sie konzentrierte sich stärker … es wollte einfach nicht funktionieren. Nicht hier. Nicht in seiner Nähe.

Das bereitete ihr großes Unbehagen.

»Er ist wichtig«, sagte sie. »Die Prophezeiungen …«

»Ich kenne die Prophezeiungen«, meinte Moridin leise. Er drehte sich nicht um. »Wie wollt Ihr das anstellen?«

»Meine Spione haben sein Heer entdeckt«, sagte Graendal. »Ich habe bereits ein paar Vorkehrungen getroffen, für alle Fälle. Ich habe diese Gruppe Schattengezücht, die mir überlassen wurde, um Chaos zu stiften, und ich habe eine Falle vorbereitet. Sollte al’Thor Aybara verlieren, wird ihn das vernichten.«

»Es wird mehr als das«, sagte Moridin leise. »Aber das schafft Ihr nie. Seine Männer verfügen über Wegetore. Er wird Euch entkommen.«

»Ich…«

»Er wird Euch entkommen«, sagte Moridin leise.

Der Schweiß perlte ihre Wange hinunter, dann weiter zum Kinn. Sie wischte ihn unauffällig ab, aber neue Tropfen traten auf ihre Stirn.

»Kommt«, sagte Moridin und ging auf den Korridor außerhalb des Raumes zu.

Graendal folgte ihm neugierig, aber voller Furcht. Er führte sie zu einer Tür in der Nähe, die in die schwarze Steinwand eingelassen war. Er stieß sie auf.

Graendal folgte ihm hinein. Der schmale Raum war voller Regale. Sie enthielten Dutzende – vielleicht Hunderte – Gegenstände der Macht. Bei der Dunkelheit!, dachte sie. Wo hat er so viele davon her?

Moridin begab sich an das Ende des Raumes, wo er ein paar der Gegenstände näher betrachtete. »Ist das eine Schocklanze?«, fragte sie und zeigte auf ein langes dünnes Stück Metall. »Drei Bindestäbe? Ein Rema’kar? Diese Teile einer …«

» Das ist unwichtig «, sagte er und wählte einen Gegenstand.

»Wenn ich nur …«

»Ihr steht kurz davor, an Gunst zu verlieren, Graendal.« Er drehte sich um und hielt ein langes spitzes silbriges Metallstück, an dessen Spitze sich ein großer Metallkopf mit goldenen Intarsien befand. »Von denen hier habe ich nur zwei gefunden. Das andere wird für einen guten Zweck benutzt. Ihr dürft das hier haben.«

»Ein Traumnagel?« Sie hatte die Augen weit aufgerissen. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, einen davon zu besitzen! »Ihr fandet zwei davon?«

Er schnippte gegen den Kopf des Traumnagels, und er verschwand aus seiner Hand. »Ihr wisst, wo er zu finden ist?«

»Ja«, antwortete sie mit wachsendem Verlangen. Das war ein Objekt von großer Macht. Nützlich auf so viele Arten.

Moridin trat einen Schritt vor und fixierte sie mit seinem Blick. »Graendal«, sagte er leise, gefährlich. »Ich kenne den Schlüssel des Nagels. Er wird nicht gegen mich oder einen der Auserwählten eingesetzt. Der Große Herr wird wissen, wenn Ihr das tut. Ich wünsche nicht, dass Ihr Eurer offensichtlichen Angewohnheit weiter nachgeht, nicht bis Aybara tot ist.«

»Ich … ja, natürlich.« Plötzlich war ihr kalt. Wieso konnte es ihr hier kalt sein? Obwohl sie immer noch schwitzte?

»Aybara kann in der Welt der Träume wandeln«, sagte Moridin. »Ich werde Euch ein weiteres Werkzeug überlassen, den Mann mit den zwei Seelen. Aber er gehört mir, so wie der Traumnagel mir gehört. So wie Ihr mir gehört. Habt Ihr verstanden?«

Sie nickte. Das konnte sie nicht verhindern. Der Raum schien dunkler zu werden. Seine Stimme … sie hatte eine geringe Ähnlichkeit mit der des Großen Herrn.

»Aber lasst mich Folgendes festhalten«, sagte Moridin, streckte die rechte Hand aus und ergriff ihr Kinn. »Solltet Ihr Erfolg haben, wird der Große Herr erfreut sein. Sehr erfreut. Was man Euch nur spärlich gewährte, damit wird man Euch im Ruhm überhäufen.«

Sie fuhr sich über die trockenen Lippen. Moridins Miene nahm einen abwesenden Ausdruck an.

»Moridin?«, fragte sie zögernd.

Er ignorierte sie, ließ ihr Kinn los und begab sich in die Mitte Ende des Raumes. Von einem Tisch nahm er ein dickes Buch, das in blasse Haut eingebunden war. Er schlug eine bestimmte Seite auf und studierte sie einen Moment lang. Dann winkte er sie heran.

Vorsichtig gehorchte sie. Als sie las, was auf der Seite stand, war sie völlig verblüfft.

Bei der Dunkelheit! »Was ist das für ein Buch?«, schaffte sie schließlich hervorzuquetschen. »Wo stammen diese Prophezeiungen her?«

»Sie sind mir schon lange bekannt«, sagte Moridin leise und schaute noch immer in das Buch. »Vielen anderen aber nicht, nicht einmal den Auserwählten. Die Frauen und Männer, die sie machten, waren isoliert und allein. Das Licht darf diese Worte niemals erfahren. Wir kennen seine Prophezeiungen, aber es wird niemals alle.von unseren erfahren.«

»Aber da steht…«, sagte sie und lass die Passage erneut. »Da steht, dass Aybara sterben wird!«

»Jede Prophezeiung kann auf vielerlei Weise interpretiert werden«, meinte Moridin. »Aber ja. Diese Voraussage verspricht, dass Aybara durch Eure Hand stirbt. Ihr bringt mir den Kopf dieses Wolfes, Graendal. Und wenn Ihr das tut, bekommt Ihr alles, worum Ihr bittet.« Er schlug das Buch zu. »Aber beachtet das Folgende. Versagt, und Ihr verliert, was Ihr erreicht habt. Und noch viel mehr.«

Mit einer Handbewegung öffnete er ein Portal für sie; ihre schwache Fähigkeit, die Wahre Macht zu berühren – das hatte man ihr nicht genommen -, erlaubte ihr, die verzerrten Gewebe zu sehen, die in die Luft stachen und sie zerfetzten, um ein Loch in das Muster zu reißen. Ein Schimmer lag dort. Das Portal würde sie zurück in ihre versteckte Höhle bringen, das wusste sie.

Wortlos trat sie hinein. Sie vertraute nicht darauf, sprechen zu können, ohne dass ihre Stimme zitterte.

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