15 Nimm einen Stein

Nynaeve eilte durch die gepflasterten Straßen von Tear, den Asha’man Naeff an ihrer Seite. Sie konnte noch immer den Sturm im Norden spüren, weit entfernt, aber furchterregend. Unnatürlich. Und er bewegte sich nach Süden.

Dort oben ritt Lan. »Möge das Licht ihn beschützen«, flüsterte sie.

»Was, Nynaeve Sedai?«, fragte Naeff.

»Nichts.« Langsam gewöhnte sie sich daran, die schwarz gekleideten Männer um sich zu haben. Sie verspürte kein unbehagliches Frösteln, wenn sie Naeff ansah. Das wäre albern gewesen. Saidin war gereinigt worden, sie hatte dabei geholfen. Kein Grund, sich unbehaglich zu fühlen. Selbst wenn die Asha’man manchmal ins Leere starrten und vor sich hin murmelten. So wie Naeff, der mit der Hand am Schwertgriff in die Schatten eines nahe stehenden Gebäudes blickte.

»Vorsicht, Nynaeve Sedai«, sagte er. »Ein weiterer Myrddraal folgt uns.«

»Seid Ihr Euch da … sicher, Naeff?«

Der hochgewachsene Mann mit dem kantigen Gesicht nickte. Er konnte geschickt Gewebe schmieden, vor allem mit Luft, was für einen Mann eher ungewöhnlich war, und er behandelte Aes Sedai mit ausgesuchter Höflichkeit, was ebenfalls im Gegensatz zu anderen Asha’man stand. »Ja, ich bin mir sicher«, sagte er. »Ich weiß nicht, warum ich sie sehen kann und andere nicht. Ich muss das Talent dafür haben. Sie verbergen sich im Schatten, ich glaube, sie sind eine Art Späher. Noch haben sie nicht zugeschlagen; ich glaube, sie sind vorsichtig, weil sie wissen, dass ich sie sehen kann.«

Er hatte angefangen, nachts im Stein von Tear umherzuwandern und nach den Myrddraal Ausschau zu halten, die allein er sehen konnte. Sein Wahnsinn verschlimmerte sich nicht, aber alte Verletzungen würden nicht verschwinden. Diese Narbe würde er für alle Ewigkeit mit sich herumschleppen. Der arme Mann. Wenigstens war sein Wahnsinn nicht so schlimm wie der von anderen.

Nynaeve schaute nach vorn und marschierte die breite, gepflasterte Straße entlang. Zu beiden Seiten erhoben sich Gebäude, die man auf die zufällige Art von Tear gebaut hatte. Neben einem Gasthaus mit bescheidenen Ausmaßen stand ein großes Herrenhaus mit zwei kleinen Türmen und einer bronzenen, torähnlichen Eingangstür. Ihnen gegenüber gab es eine Reihe von Wohnhäusern, deren Türen und Fenster vergittert waren, aber genau in der Mitte dieser Reihe befand sich ein Metzgerladen.

Nynaeve und Naeff wollten zum Sommerviertel, das sich direkt an der Westmauer befand. Es war nicht das wohlhabendste Viertel von Tear, aber es gedieh durchaus. Natürlich gab es in Tear nur zwei gesellschaftliche Schichten: man war entweder Adliger oder Untertan. Viele der Adligen betrachteten die normalen Bürger noch immer als vollkommen andersartige und in jeder Hinsicht minderwertige Kreaturen.

Sie passierten einige dieser normalen Bürger. Männer in locker sitzenden Hosen, die an den Knöcheln verschnürt waren, mit farbigen Schärpen um die Taille. Frauen in hochgeschlossenen Kleidern mit vorgebundenen Schürzen. Breite Strohhüte mit flachen Kronen waren üblich, oder Stoffmützen, die an der Seite herunterhingen. Viele Leute trugen Holzschuhe an Schnüren über den Schultern, die sie bei der Rückkehr nach Maule wieder anzogen.

Die Leute, die Nynaeve jetzt entgegenkamen, zeigten beunruhigte Mienen, und einige blickten angsterfüllt über die Schulter. Dort hatte eine Blase des Bösen die Stadt getroffen.

Hoffentlich gab es nicht zu viele Verletzte, denn sie hatte nicht viel Zeit. Sie musste in die Weiße Burg zurückkehren. Es ärgerte sie, Egwene gehorchen zu müssen. Aber sie würde gehorchen und sofort nach Rands Rückkehr aufbrechen. Er war an diesem Morgen irgendwohin verschwunden. Unerträglicher Mann. Wenigstens hatte er Töchter mitgenommen. Angeblich musste er etwas holen.

Nynaeve beschleunigte ihre Schritte, Naeff an der Seite, bis sie beinahe liefen. Ein Wegetor wäre schneller gewesen, aber auch nicht sicher; sie konnte nicht ausschließen, dass sie damit jemanden zerstückelte. Wir werden viel zu sehr von diesen Wegetoren abhängig, dachte sie. Unsere eigenen Füße scheinen nicht mehr gut genug für uns zu sein.

Sie bogen um eine Ecke in eine Straße, wo eine Abteilung nervöser Verteidiger – die Männer trugen schwarze Mäntel und silberne Harnische, die silbernen oder schwarzen Ärmel waren aufgeplustert – in einer Reihe Aufstellung genommen hatte. Sie ließen Nynaeve und Naeff durch, und obwohl sie erleichtert schienen, dass sie endlich eingetroffen waren, lockerten sie dennoch nicht den Griff um ihre Stangenwaffen.

Die Stadt hinter den Männern sah irgendwie … heller als sonst aus. Ausgewaschen. Die Pflastersteine wiesen ein helleres Grau auf, die Häuserwände ein lichteres Braun oder Grau.

»Männer durchkämmen sie nach Verwundeten?«, fragte Nynaeve.

Einer der Verteidiger schüttelte den Kopf. »Wir haben die Leute ferngehalten, äh, Lady Aes Sedai. Es ist nicht sicher.«

Die meisten Tairener waren noch immer nicht daran gewöhnt, den Aes Sedai den nötigen Respekt zu erweisen. Bis vor Kurzem war Machtlenken in der Stadt verboten gewesen.

»Schickt Eure Männer auf die Suche«, sagte Nynaeve energisch. »Der Lord Drache wird ärgerlich sein, wenn Eure Zögerlichkeit Leben kosten sollte. Fangt an der Grenzlinie an. Schickt nach mir, wenn ihr jemanden findet, dem ich helfen kann.«

Die Wächter setzten sich in Bewegung. Nynaeve sah Naeff an, und er nickte. Sie wandte sich ab und machte einen Schritt in den betroffenen Stadtteil. Als ihr Fuß den ersten Pflasterstein berührte, verwandelte sich der Stein zu Staub. Ihr Fuß sank durch das zerbröckelnde Straßenpflaster und landete auf der festgestampften Erde.

Sie schaute nach unten und fröstelte. Dann ging sie weiter, und die Steine zerfielen zu Staub, sobald sie sie berührte. Naeff im Schlepptau ging sie zu einem der Gebäude, dabei hinterließen sie eine Spur zu Staub zerfallener Steine.

Bei dem Gebäude handelte es sich um ein Gasthaus mit hübschen Balkonen im ersten Stock, schmiedeeisernem Kunsthandwerk vor den Glasfenstern und einer Veranda mit dunklen Flecken. Die Tür stand offen, und als sie den Fuß hob, um sie zu betreten, verwandelten sich die Planken ebenfalls zu Staub. Sie erstarrte und blickte zu Boden. Naeff trat an ihre Seite, dann kniete er nieder und zerrieb den Staub zwischen den Fingern.

»Ich habe noch nie so ein feines Pulver berührt«, sagte er leise.

Die Luft roch natürlich frisch, was einen seltsamen Kontrast zu der stillen Straße bot. Nynaeve holte tief Luft, dann betrat sie das Gasthaus. Das Vorankommen kostete Mühe, denn die Holzbohlen lösten sich bei der geringsten Berührung auf, und der Boden reichte ihr bis zu den Knien.

Drinnen war es ziemlich dunkel. Die Stehlampen brannten nicht mehr. Im Raum verteilt saßen Leute, mitten in der Bewegung erstarrt. Die meisten von ihnen waren Adlige in teurer Kleidung; die Männer trugen ihre Barte zu einer Spitze geölt. Einer von ihnen saß in der Nähe an einem hohen Tisch mit langbeinigen Stühlen. Er hatte den Becher mit Morgenale zur Hälfte bis an die Lippen geführt. Reglos saß er da, den Mund bereits für das Getränk geöffnet.

Naeffs Gesicht war grimmig, obwohl den Asha’man nur wenig zu überraschen schien oder aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Als er einen Schritt nach vorn machen wollte, beugte sich Nynaeve blitzschnell nach vorn und packte ihn am Arm. Stirnrunzelnd sah er sie an, und sie zeigte nach unten. Direkt vor ihm, kaum erkennbar durch den unversehrten Fußboden vor ihnen, ging es steil in die Tiefe. Er war nur einen Schritt vom Gasthauskeller entfernt.

»Beim Licht!« Naeff trat zurück. Er ging auf die Knie und klopfte auf eine Bohle. Sie zerfiel zu Staub und regnete in den dunklen Keller hinab.

Nynaeve webte Geist, Luft und Wasser zusammen und unterzog den Mann auf dem Stuhl neben ihr der Tiefenschau. Normalerweise berührte sie das Objekt ihrer Tiefenschau, aber dieses Mal zögerte sie. Es würde auch ohne die Berührung funktionieren, auch wenn es später das Heilen erschwerte.

Ihre Tiefenschau fand nichts. Kein Leben, kein Hinweis, dass der Mann je gelebt hatte. Sein Körper bestand nicht einmal aus Fleisch. Mit einem üblen Gefühl in der Magengrube richtete sie die Tiefenschau auf die anderen Personen in dem dunklen Raum. Eine Magd, die drei andoranischen Kaufleuten das Frühstück brachte. Ein korpulenter Wirt, der Mühe gehabt haben musste, sich zwischen den nahe beieinander stehenden Tischen hindurchzuzwängen. Eine Frau in einem kostbaren Gewand im hinteren Teil des Raums, die sittsam in einem kleinen Buch las.

In keinem von ihnen war Leben. Es waren keine Leichen, es waren Hüllen. Mit zitternden Fingern streckte Nynaeve die Hand aus und berührte den Mann an dem hohen Tisch an der Schulter. Er zerfiel sofort zu Staub; eine Pulverwolke rieselte zu Boden. Stuhl und Bodendielen lösten sich nicht auf.

»Hier kann man keinen mehr retten«, sagte Nynaeve.

»Die armen Leute«, meinte Naeff. »Das Licht behütete ihre Seelen.«

Es fiel Nynaeve oft schwer, Mitleid für die tairenischen Adligen zu empfinden – von allen Menschen, die ihr begegnet waren, schienen sie mit Abstand die arrogantesten zu sein. Aber das hier verdiente niemand. Davon abgesehen hatte diese Blase auch eine große Zahl ganz gewöhnlicher Bürger erwischt.

Sie bahnten sich einen Weg aus dem Gebäude hinaus, und Nynaeves Frustration wuchs, als sie an ihrem Zopf zog. Sie hasste das Gefühl der Hilflosigkeit. Wie bei dem bedauernswerten Wachtposten, der in dem Herrenhaus in Arad Doman in Brand geraten war, oder den Menschen, die von seltsamen Krankheiten heimgesucht wurden. Heute diese staubigen Hüllen. Warum das Heilen lernen, wenn sie den Menschen nicht helfen konnte?

Und jetzt musste sie gehen. Zurück zur Weißen Burg. Es kam ihr so vor, als würde sie weglaufen. Sie sah Naeff an. »Wind«, sagte sie.

»Nynaeve Sedai?«

»Schickt einen Windstoß gegen das Gebäude. Ich will sehen, was passiert.«

Der Asha’man tat, worum sie gebeten hatte, seine unsichtbaren Gewebe entfachten einen Sturmwind. Das Gebäude zerplatzte zu Staub, der wie die weißen Samen eines Gänseblümchens von der Luft davongetragen wurde. Naeff wandte sich ihr wieder zu.

»Wie groß war diese Blase angeblich noch einmal?«

»Etwa zwei Straßen in alle Richtungen.«

»Wir brauchen mehr Wind.« Sie begann zu weben. »Erschafft eine Böe, die so stark ist, wie Ihr könnt. Falls es dort irgendwo Verwundete gibt, werden wir sie auf diese Weise finden.«

Naeff nickte. Sie schritten vorwärts und erschufen Wind. Sie zerschmetterten Häuser, ließen sie platzen und einstürzen. Naeff war viel geschickter darin, dafür war sie stärker in der Einen Macht. Zusammen schoben sie die zusammensackenden Gebäude, Steine und Hüllen in einem Staubsturm vor sich her.

Es war eine anstrengende Arbeit, aber sie hielten nicht inne. Nynaeve hoffte, noch jemanden zu finden, dem sie helfen konnte, auch wenn es sinnlos war. Gebäude sackten vor ihr und Naeff zusammen; die Luftwirbel fingen den Staub. Sie stießen ihn in einen Kreis und bewegten sich in Richtung Mitte. Wie eine Frau, die den Boden fegte.

Sie kamen an Menschen vorbei, die mitten im Schritt auf den Straßen erstarrt waren. Ochsen zogen einen Karren. Kinder spielten in einer Gasse. Alle zerfielen zu Staub.

Lebende fanden sie keine. Schließlich hatten sie und Naeff den zerstörten Teil der Stadt aufgelöst und den Staub in die Mitte geblasen. Nynaeve betrachtete ihn und ließ ihn durch einen kleinen Wirbelsturm, den Naeff gewebt hatte, an Ort und Stelle kreisen. Einem inneren Impuls folgend, lenkte sie einen Strahl Feuer in den Luftwirbel, und eine riesige Stichflamme stieg in die Höhe.

Nynaeve keuchte auf; der Staub verbrannte wie trockenes Papier, das in ein Feuer geworfen wurde, und erschuf eine brüllende Flammenwand. Sie und Naeff wichen zurück, aber es war blitzartig vorbei. Es blieb keine Asche zurück.

Hätten wir das nicht zusammengeschoben, dachte sie und sah zu, wie das Feuer verblich, hätte jemand darin eine Kerze fallen lassen können. Ein Feuer wie das …

Naeff löste seinen Wind auf. Sie standen in der Mitte eines offenen Kreises aus nacktem Erdboden, der gelegentlich von Kellerlöchern unterbrochen wurde. An seinem Rand waren Gebäude aufgeschnitten worden, Zimmer lagen frei zugänglich, manche Häuser waren eingestürzt. Dieses leere Gelände zu sehen war unheimlich. Wie ein leeres Auge in einem ansonsten gesunden Gesicht.

Am Rand standen mehrere Gruppen Verteidiger. Nynaeve nickte Naeff zu, und sie begaben sich zu der größten Gruppe. »Habt ihr jemanden finden können?«, wollte sie wissen.

»Nein, Lady Aes Sedai«, sagte ein Mann. »Äh … nun, wir fanden ein paar Leute, aber sie waren bereits tot.«

Ein anderer Mann nickte, ein Bursche wie eine Tonne, dessen Uniform ausgesprochen eng saß. »Wie es aussah, fiel jeder tot um, der auch nur einen Zeh im Kreis hatte. Ein paar von ihnen fehlte bloß ein Fuß oder ein Teil des Arms. Aber sie waren trotzdem tot.« Der Mann erschauderte sichtlich.

Nynaeve schloss die Augen. Die ganze Welt fiel auseinander, und es lag nicht in ihrer Macht, sie zu Heilen. Ihr war übel, und sie war zornig.

»Vielleicht waren sie daran schuld«, sagte Naeff leise. Nynaeve öffnete die Augen und sah, wie er mit dem Kopf auf die Schatten eines nahe stehenden Gebäudes wies. »Die Blassen. Drei von ihnen beobachten uns, Nynaeve Sedai.«

»Naeff…«, setzte sie frustriert an. Ihm zu sagen, dass die Blassen nur in seiner Einbildung existierten, war sinnlos. Ich muss etwas tun, dachte sie. jemandem helfen. »Naeff, bewegt Euch nicht.« Sie ergriff seinen Arm und wandte die Tiefenschau an. Überrascht sah er sie an, erhob aber keine Einwände.

Der Wahnsinn in ihm grub sich wie ein dunkles Aderngeflecht in seinen Verstand. Er schien zu pulsieren wie ein kleines pochendes Herz. Kürzlich erst hatte Nynaeve einen ähnlichen Verfall in anderen Asha’man entdeckt. Ihre Fertigkeiten in der Tiefenschau wurden immer besser, ihre Gewebe feiner, und sie konnte Dinge finden, die ihr einst verborgen geblieben waren. Allerdings hatte sie keine Idee, wie sie diesen Schaden wieder richten sollte.

Alles sollte zu Heilen sein, sagte sie sich. Alles außer dem Tod. Sie konzentrierte sich und webte alle Fünf Mächte, dann tastete sie den Wahnsinn ganz behutsam ab, denn sie hatte nicht vergessen, was geschehen war, als sie Graendals unglücklichen Diener von seinem Zwang befreit hatte. Sie wollte Naeffs Verstand nicht noch mehr schädigen; da war er mit seinem Wahnsinn besser dran.

Seltsamerweise schien die Dunkelheit tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Zwang zu haben. Hatte der Makel das angerichtet? Männer, die die Eine Macht benutzten, mit dem Zwang des Dunklen Königs auf die Knie gezwungen?

Vorsichtig webte sie ein Gegengewebe über dem Wahnsinn, dann legte sie es auf Naeffs Verstand. Das Gewebe löste sich einfach in nichts auf und bewirkte nichts.

Sie knirschte mit den Zähnen. Das hätte funktionieren müssen. Aber wie so oft in letzter Zeit hatte es versagt.

Nein, dachte sie. Nein, ich kann jetzt nicht einfach aufgehen. Sie Schaute tiefer. Die Dunkelheit hatte winzige dornen-ähnliche Stachel in Naeffs Verstand gebohrt. Nynaeve ignorierte die Leute, die sich um sie herum versammelten, und inspizierte diese Dornen. Vorsichtig webte sie Geist, um einen von ihnen herauszuziehen.

Er löste sich mit einigem Widerstand, und schnell Heilte sie die Stelle, an der er in Naeffs Fleisch eingedrungen war. Das Gehirn schien zu pulsieren und sah gesünder aus. Einen nach dem anderen zog sie auch den Rest heraus. Dabei musste sie ihre Gewebe aufrechterhalten, um die Stachel davon abzuhalten, sich wieder hineinzubohren. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Das Viertel zu säubern hatte sie bereits ermüdet, und sie konnte keine Konzentration erübrigen, um die Hitze von sich fernzuhalten. In Tear war es immer so schwül.

Sie arbeitete weiter, bereitete noch ein Gegengewebe vor. Sobald sie jeden Dorn herausgezogen hatte, ließ sie ihr neues Gewebe los. Der dunkle Fleck wogte und zitterte, als wäre er lebendig.

Dann verschwand er.

Fast bis zur absoluten Erschöpfung ausgelaugt, stolperte Nynaeve zurück. Naeff blinzelte, dann schaute er sich um. Er griff sich an den Kopf.

Beim Licht! Habe ich ihn verletzt? Ich hätte dort nicht hineingreifen dürfen. Ich hätte …

»Sie sind weg«, sagte Naeff. »Die Blassen… ich sehe sie nicht mehr.« Er blinzelte. »Warum sollten sich auch Blasse in den Schatten verbergen? Sie hätten mich doch getötet, wenn ich sie hätte sehen können und …« Er blickte sie an, riss sich zusammen. »Was habt Ihr getan?«

»Ich … ich glaube, ich habe gerade Euren Wahnsinn Geheilt.« Nun, sie hatte irgendetwas damit gemacht. Was sie da getan hatte, war kein normales Heilen gewesen, es war nicht einmal Heilgewebe gewesen. Aber anscheinend hat es funktioniert.

Naeff lächelte breit und erschien verblüfft. Er nahm mit beiden Händen ihre Hand, dann kniete er mit Tränen in den Augen vor ihr nieder. »Seit Monaten hatte ich das Gefühl, ständig unter Beobachtung zu stehen. Als würde ich in dem Augenblick ermordet, in dem ich den Schatten meinen Rücken zuwende. Und jetzt… Ich danke Euch. Ich muss zu Nelavaire.«

»Dann ab mit Euch«, sagte Nynaeve. Naeff schoss davon und rannte zurück in Richtung Stein, um seine Aes Sedai zu finden.

Ich darf nicht zulassen, dass ich zu der Überzeugung gelange, dass nichts von dem, was ich tue, von Bedeutung ist. Denn das will der Dunkle König. Während sie dem rennenden Naeff nachsah, bemerkte sie, wie am Himmel die Wolkendecke aufriss. Rand war zurückgekehrt.

Arbeiter fingen an, die Trümmer der Gebäude wegzuräumen, die nur zur Hälfte zu Staub zerfallen waren, und Nynaeve beruhigte die besorgten Tairener, die sich am Rand des Kreises versammelt hatten. Sie wollte keine Panik dulden; sie versicherte jedem, dass die Gefahr vorüber war, und dann bat sie darum, mit den Familien sprechen zu können, die Opfer zu beklagen hatten.

Sie war noch immer damit beschäftigt und unterhielt sich gerade leise mit einer dünnen, besorgten Frau, als Rand sie fand. Die Frau war eine Angehörige des gemeinen Volkes und trug ein hochgeschlossenes Kleid mit drei Schürzen und einem Strohhut. Ihr Ehemann hatte in dem Gasthaus gearbeitet, das Nynaeve betreten hatte. Die Frau schaute immer wieder verstohlen zu dem Loch im Boden, das der Keller gewesen war.

Erst nach einem Moment bemerkte Nynaeve Rand, der da stand und sie beobachtete, die Hände hinter dem Rücken, mit der ihm verbliebenen Hand den Stumpf umklammernd. Zwei Töchter beschützten ihn, zwei Frauen namens Somma und Kanara. Nynaeve beendete das Gespräch mit der Tairenerin, aber die tränennassen Augen der Frau schnitten ihr ins Herz. Wie würde sie reagieren, sollte sie Lan verlieren?

Möge das Licht ihn beschützen. Bitte, bitte, beschütze ihn, betete sie. Sie löste ihren Geldbeutel vom Gürtel und gab ihn der Frau. Vielleicht würde das helfen.

Rand trat auf sie zu. »Du kümmerst dich um mein Volk. Danke.«

»Ich kümmere mich um jeden, der Hilfe braucht«, erwiderte Nynaeve.

»So wie du es immer getan hast«, sagte Rand. »So wie du dich um einige kümmerst, die es nicht nötig haben.«

»So wie dich?«, fragte sie und hob eine Braue.

»Nein, ich brauchte das immer. Das und mehr.«

Nynaeve zögerte. Dass er das zugeben würde, damit hätte sie nie gerechnet. Warum hatte er diesen alten Umhang nicht weggeworfen? Er war verblichen und fadenscheinig.

»Das ist mein Fehler«, sagte Rand und wies mit dem Kopf auf das Loch in der Stadt.

»Rand, sei nicht albern.«

»Ich weiß nicht, ob man wirklich vermeiden kann, manchmal ein Narr zu sein«, sagte er. »Ich mache mir den Vorwurf, weil es meinerseits zu viele Verzögerungen gab. Wir haben die Konfrontation mit ihm viel zu lange herausgeschoben. Was ist heute hier passiert? Die Häuser haben sich in Staub verwandelt?«

»Ja. Ihr innerer Zusammenhalt wurde entfernt. Alles zerfiel in dem Moment, in dem wir es berührten.«

»Das würde er mit der ganzen Welt machen«, sagte Rand. Seine Stimme wurde leise. »Er regt sich. Je länger wir warten und uns so gerade eben behaupten, desto mehr zerstört er von dem, was noch unberührt ist. Wir können es nicht länger hinausschieben.«

Nynaeve runzelte die Stirn. »Aber Rand, wenn du ihn befreist, wird das nicht alles noch schlimmer machen?«

»Vielleicht gibt es kurzes Aufbäumen«, sagte Rand. »Den Bohrtunnel zu öffnen wird ihn nicht auf der Stelle befreien, aber es wird ihm mehr Kraft verleihen. Trotzdem muss es gemacht werden. Stell dir unsere Aufgabe wie das Erklimmen einer hohen Steinmauer vor. Unglücklicherweise schieben wir es hinaus, laufen ein paar Runden, bevor wir uns an den Aufstieg machen. Jeder Schritt raubt uns etwas Kraft für den kommenden Kampf. Wir müssen ihm entgegentreten, solange wir noch stark sind. Darum muss ich die Siegel brechen. «

»Ich …«, sagte Nynaeve. »Ich fürchte, ich glaube dir.« Die Erkenntnis überraschte sie.

»Tatsächlich?« Er klang seltsam erleichtert. »Wirklich?«

»Ja.«

»Dann versuche bitte, Egwene davon zu überzeugen. Wenn sie kann, wird sie mich daran hindern.«

»Rand… sie hat mich zurück in die Burg befohlen. Ich muss noch heute gehen.«

Rand sah betrübt aus. »Nun, ich hatte schon so eine Ahnung, dass sie das irgendwann tun würde.« Er legte Nynaeve die Hand auf die Schulter, eine seltsame Geste. »Lass nicht zu, dass sie dich verderben, Nynaeve. Sie werden es versuchen.«

»Mich verderben?«

»Deine Leidenschaft gehört zu dir. Ich habe versucht, wie sie zu sein, auch wenn ich das niemals zugegeben hätte. Kalt. Immer derjenige zu sein, der alles unter Kontrolle hat. Um ein Haar hat mich das zerstört. Für manche liegt darin Stärke, aber es ist nicht die einzige Art Stärke, die es gibt. Vielleicht könntest du etwas mehr Selbstkontrolle lernen, aber ich mag dich so, wie du bist. Es macht dich wahrhaftig. Ich würde nur ungern zusehen, wie du zu einer weiteren ›perfekten‹ Aes Sedai wirst mit starrem, maskenhaften Antlitz und keinerlei Interesse für die Gefühle oder Bedürfnisse anderer.«

»Aes Sedai zu sein heißt beherrscht zu sein«, erwiderte Nynaeve.

»Aes Sedai zu sein heißt das zu sein, zu dem du dich entschieden hast«, sagte Rand, den Stumpf noch immer hinter dem Rücken verborgen. »Moiraine hat sich für andere interessiert. Man konnte es ihr ansehen, selbst wenn sie völlig beherrscht war. Die besten Aes Sedai, die ich kenne, sind diejenigen, über die sich andere beschweren, weil sie sich angeblich nicht so verhalten, wie es sich für eine Aes Sedai gehört.«

Nynaeve ertappte sich bei einem Nicken, dann ärgerte sie sich über sich selbst. Sie nahm einen Rat von Rand al’Thor an?

Etwas an Rand war nun anders. Eine stille Eindringlichkeit und sorgfältig gewählte Worte. Er war ein Mann, von dem man einen Rat annehmen konnte, ohne das Gefühl zu haben, dass er einen belehren wollte. Eigentlich war er wie sein Vater. Nicht, dass sie das jemals vor einem von ihnen zugegeben hätte.

»Geh zu Egwene«, sagte Rand und ließ ihre Schulter los. »Aber wenn es möglich ist, hätte ich gern, dass du zu mir zurückkehrst. Ich werde deinen Rat brauchen. Aber auf jeden Fall hätte ich dich gern an meiner Seite, wenn ich zum Shayol Ghul gehe. Ich kann ihn nicht allein mit Saidin besiegen, und wenn wir Callandor einsetzen wollen, dann brauche ich einen Zirkel mit zwei Frauen, denen ich vertrauen kann. Ich habe mich noch nicht entschieden, wer die andere sein soll. Aviendha oder vielleicht Elayne. Aber dich auf jeden Fall.«

»Rand, ich werde da sein.« Sie verspürte einen absurden Stolz. »Halte einen Augenblick lang still. Ich werde dir nicht wehtun. Ich verspreche es.«

Er hob eine Braue, wehrte sich aber nicht, als sie mit der Tiefenschau in ihn hineinblickte. Sie war so müde, aber wenn sie ihn schon verlassen musste, dann musste sie diese Gelegenheit ergreifen, um ihn von seinem Wahnsinn zu Heilen. Plötzlich kam es ihr als die wichtigste Sache vor, die sie für ihn tun konnte. Und für die Welt.

Sie schaute in ihn hinein, mied die Wunden an seiner Seite, die finstere Abgründe waren, die scheinbar ihre Energie verschlingen wollten. Sie hielt ihre Aufmerksamkeit auf seinen Verstand gerichtet. Wo war der …

Sie versteifte sich. Die Finsternis war gewaltig, erstreckte sich über seinen ganzen Geist. Abertausende der winzigen schwarzen Dornen stachen in sein Gehirn, aber darunter lag ein grellweißes Netz aus etwas Undefinierbarem. Eine weiße Strahlung, wie flüssige Macht. Licht, dem man Form und Leben verliehen hatte. Sie keuchte auf. Es überzog jeden der dunklen Stachel, drang mit ihnen zusammen in seinen Verstand ein. Was hatte das zu bedeuten?

Sie hatte keine Ahnung, wo sie hier überhaupt ansetzen sollte. Es waren so viele Dornen. Wie konnte er mit dem Druck von so viel Dunkelheit auf sein Gehirn überhaupt denken? Und was hatte dieses Weiß erschaffen? Sie hatte Rand schon zuvor Geheilt, und es war ihr nie zuvor aufgefallen. Natürlich hatte sie bis vor Kurzem auch diese Dunkelheit nie gesehen. Vermutlich lag es daran, dass sie mittlerweile die Tiefenschau besser beherrschte.

Zögernd zog sie sich zurück. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich kann dich nicht Heilen.«

»Viele haben sich an diesen Wunden versucht – du doch auch. Sie sind einfach unheilbar. Heutzutage denke ich nicht viel an sie.«

»Nicht die Wunden in deiner Seite«, sagte sie. »Der Wahnsinn. Ich …«

»Du kannst Wahnsinn Heilen?«

»Ich glaube, bei Naeff habe ich es geschafft.«

Rand grinste breit. »Du hörst nie auf, mich zu … Nynaeve, ist dir eigentlich klar, dass selbst die talentiertesten Heiler im Zeitalter der Legenden bei Krankheiten des Verstandes nichts ausrichten konnten? Viele von ihnen vertraten die Ansicht, dass man Wahnsinn nicht mit der Einen Macht heilen kann.«

»Ich Heile die anderen«, sagte sie. »Vor meiner Abreise zumindest Narishma – und Flinn. Vermutlich haben sämtliche Asha’man wenigstens einen Hauch von diesem Makel in ihrem Verstand. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, in die Schwarze Burg zu gehen.« Oder ob ich dorthin will.

»Danke«, sagte Rand und sah nach Norden. »Aber nein, du solltest nicht zur Schwarzen Burg gehen. Ich muss jemanden dorthin schicken, aber das muss vorsichtig gehandhabt werden. Dort geht etwas vor. Aber ich habe so viel zu tun …«

Er schüttelte den Kopf, dann sah er sie wieder an. »Das ist eine Grube, die ich im Augenblick nicht überqueren kann.

Sprich bei Egwene gut von mir. Ich brauche sie als Verbündete. «

Nynaeve nickte, dann umarmte sie ihn – wobei sie sich albern vorkam – und eilte los, um Narishma und Flinn zu suchen. Eine Umarmung. Für den Wiedergeborenen Drachen. Sie wurde genauso närrisch wie Elayne. Kopfschüttelnd dachte sie, dass ihr der Aufenthalt in der Weißen Burg ja möglicherweise dabei half, ihre Vernunft wiederzufinden.


Die Wolken waren zurückgekehrt.

Egwene stand oben auf dem Turm der Weißen Burg, auf dem flachen, kreisrunden Dach, und stützte sich auf die hüfthohe Brüstung. Die Wolken hatten sich wie ein schleichender Pilz oder ein Insektenschwarm über Tar Valon geschlossen. Der Besuch des Sonnenlichts war willkommen, aber nur kurz gewesen.

Der Tee schmeckte wieder schal. Die entdeckten Kornlager leerten sich, und die neuen importierten Säcke waren voller Getreidekäfer. Das Land ist eins mit dem Drachen.

Sie atmete ein, roch die frische Luft und schaute auf Tar Valon. Ihr Tar Valon.

Saerin, Yukiri und Seaine – drei der Schwestern, die als Erste mit der Jagd auf die Schwarzen Ajah in der Burg begonnen hatten – warteten geduldig hinter ihr. Nun gehörten sie zu ihren glühendsten Anhängern, und zu den nützlichsten. Jedermann ging davon aus, dass sie die Frauen bevorzugte, die sich Elaida entgegengestellt hatten, darum war es hilfreich, dabei gesehen zu werden, wie sie Zeit mit Aes Sedai verbrachte, die in der Weißen Burg geblieben waren.

»Was habt ihr entdeckt?«, fragte sie.

Saerin schüttelte den Kopf und gesellte sich zu Egwene an die Brüstung. Die Narbe auf ihrer Wange und die weißen Haare an den Schläfen ließen die Braune mit der olivfarbenen Haut und dem kantigen Gesicht wie ein alternder General aussehen. »Manche der von Euch gewünschten Informationen waren selbst vor dreitausend Jahren unsicher, Mutter.«

»Was auch immer Ihr mir sagen könnt, Tochter, wird helfen«, erwiderte Egwene. »Solange wir uns nicht völlig auf die Fakten verlassen, ist unvollständiges Wissen besser als völliges Unwissen.«

Saerin schnaubte leise, erkannte aber offensichtlich das Zitat von Yasicca Cellach, einer Braunen Gelehrten der Vergangenheit.

»Und Ihr beide?«, wandte sich Egwene an Yukiri und Seaine.

»Wir suchen noch«, sagte Yukiri. »Seaine hat eine Liste mit Möglichkeiten. Einige davon erscheinen sogar vernünftig.«

Egwene runzelte die Stirn. Eine Weiße nach Theorien zu fragen war immer interessant, aber nicht immer unbedingt nützlich. Sie neigten dazu, das Plausible zu ignorieren, und konzentrierten sich auf die abstrakteren Möglichkeiten.

»Dann wollen wir damit anfangen«, sagte sie. »Seaine?«

»Nun, ich will mit der Bemerkung beginnen, dass eine der Verlorenen zweifellos über ein Wissen verfügt, das wir uns nicht einmal vorstellen können. Also lässt sich nicht feststellen, wie sie den Eidstab überwand. Zum Beispiel könnte die Möglichkeit bestehen, ihn für kurze Zeit außer Kraft zu setzen, vielleicht gibt es auch besondere Worte, mit denen man seiner Wirkung entgeht. Der Stab ist ein Gegenstand aus dem Zeitalter der Legenden, und auch wenn wir ihn seit Jahrtausenden benutzen, haben wir ihn noch nie richtig verstanden. Was ja auch bei den meisten Ter’angrealen der Fall ist.«

»Gut«, sagte Egwene.

»Aber wenn man das bedenkt, habe ich drei Theorien, wie man den Eid auf den Stab unbrauchbar machen kann«, fuhr Seaine fort und zog ein Blatt Papier hervor. »Möglicherweise besitzt die Frau einen weiteren Eidstab. Angeblich hat es früher noch andere gegeben, und es ist plausibel, dass ein Stab einen von den Eiden befreit, die man mit einem anderen abgelegt hat. Mesaana könnte einen besitzen. Sie könnte die Drei Eide abgelegt haben, während sie unseren Stab hält, und diese Eide dann irgendwie mit dem anderen außer Kraft setzen, bevor sie schwor, keine Schattenfreundin zu sein.«

»Das ist aber wenig einleuchtend«, sagte Egwene. »Wie hätte sie sich davon befreien sollen, ohne dass wir es bemerken? Dazu muss man Geist lenken.«

»Das zog ich in Betracht«, erwiderte Seaine.

»Das überrascht mich nicht«, sagte Yukiri.

Seaine warf ihr einen Blick zu, machte dann aber weiter. »Aus diesem Grund würde Mesaana einen zweiten Eidstab brauchen. Sie hätte Geist darin hineinlenken, das Gewebe umdrehen und so damit verbunden bleiben können.«

»Das erscheint unwahrscheinlich«, meinte Egwene.

»Unwahrscheinlich?«, sagte Saerin. »Eher lächerlich. Hattet Ihr nicht behauptet, ein paar dieser Theorien wären plausibel, Yukiri?«

»Das ist die am wenigsten wahrscheinliche der drei Möglichkeiten«, sagte Seaine. »Die zweite Methode wäre leichter. Mesaana könnte jemanden geschickt haben, der ihr ähnlich sieht und den Spiegel des Nebels trägt. Eine erbarmungswürdige Schwester, die einem schweren Zwang unterliegt – oder eine Novizin oder auch eine nicht ausgebildete Frau, die die Macht lenken kann. Diese Frau könnte dazu gezwungen gewesen sein, anstelle von Mesaana die Eide abzulegen. Da diese Person keine Schattenfreundin sein würde, würde sie wahrheitsgemäß sagen, dass sie es nicht ist.«

Egwene nickte nachdenklich. »Dazu wären viele Vorbereitungen nötig gewesen.«

»Aus dem, was ich über sie in Erfahrung gebracht habe, geht hervor, dass Mesaana immer gut vorbereitet ist. Darin ist sie sogar ausgezeichnet.«

Saerin hatte die Aufgabe gehabt, so viel über Mesaanas wahre Natur zu entdecken, wie das nur möglich war. Die Geschichten waren ihnen allen bekannt – wer kannte die Namen eines jeden der Verlorenen und ihre schrecklichsten Taten nicht auswendig? Aber Egwene hielt nicht viel von Geschichten; sie wollte konkretere Informationen, falls das möglich war.

»Ihr spracht von einer dritten Möglichkeit?«

»Ja«, sagte Seaine. »Wir wissen, dass manche Gewebe mit Lauten spielen. Variationen von Lautgeweben werden dazu benutzt, eine Stimme zu verstärken, um sie in eine Menschenmenge zu projizieren, oder bei einem Gewebe gegen das Lauschen – tatsächlich basieren darauf sogar die ganzen Tricks, mit denen man hören kann, was in der Nähe gesagt wird. Der Spiegel der Nebel kann eine Stimme verändern, wenn man ihn entsprechend benutzt. Mit einiger Übung konnten Doesine und ich ein Gewebe so variieren, dass es die von uns gesprochenen Worte veränderte. Also sagten wir das eine, und der andere hörte etwas völlig anderes.«

»Das ist ein gefährliches Pflaster, Seaine«, sagte Saerin barsch. »Das ist genau die Art von Gewebe, die man für finstere Zwecke benutzen könnte.«

»Ich konnte damit nicht lügen«, erwiderte Seaine. »Ich habe es versucht. Die Eide hielten – ich konnte mit dem Gewebe keine Worte aussprechen, von denen ich wusste, dass der andere sie als Lügen hören würde, selbst wenn es die Wahrheit war, als sie über meine Lippen kamen. Trotzdem fiel es leicht, dieses Gewebe zu entwickeln. Verknotet und umgedreht hing es vor mir und veränderte meine Worte auf die von mir gewünschte Weise.

Falls Mesaana dieses Gewebe in stärkerer Ausführung benutzte, hätte sie theoretisch den Eidstab nehmen und schwören können, wozu immer sie Lust hatte. ›Ich schwöre, dass ich lügen werde, wann immer es mir in den Sinn kommt‹, zum Beispiel. Der Eidstab hätte sie mit diesem Schwur gebunden, aber das Gewebe hätte die Laute in der Luft verändert, nachdem sie sie aussprach. Wir hätten gehört, wie sie die richtige Eidformel aufsagt.«

Egwene knirschte mit den Zähnen. Sie hatte angenommen, dass der Eidstab nur mit großer Mühe zu besiegen war. Und doch gab es ein simples Gewebe, mit dem man so etwas erreichen konnte. Eigentlich hätte sie es wissen müssen – benutze nie einen Felsen, wenn ein Stein reicht, wie ihre Mutter so oft gesagt hatte.

»Damit hätten sie jahrelang Schattenfreunde in die Ränge der Aes Sedai schmuggeln können«, sagte sie.

»Das ist unwahrscheinlich«, erwiderte Saerin. »Keine der von uns gefangenen Schwarzen Schwestern kannte dieses Gewebe. Sonst hätten sie versucht, es zu benutzen, als wir sie die Eide erneut schwören ließen. Ich vermute, dass, sollte Mesaana diesen Trick kennen, sie ihn für sich behielt. Wenn zu viele Leute davon wüssten, würde er seinen Nutzen verlieren.«

»Trotzdem«, sagte Egwene. »Was sollen wir tun? Möglicherweise könnten wir eine Möglichkeit finden, nach diesem Gewebe Ausschau zu halten, wo wie wir es jetzt kennen, aber ich bezweifle, dass die Schwestern bereit wären, die Eide noch ein zweites Mal abzulegen.«

»Und wenn wir damit eine der Verlorenen entlarven?«, fragte Yukiri. »Es könnte sich lohnen, ein paar Federn in Unordnung zu bringen, um den Fuchs im Hühnerstall zu erwischen.«

»Sie würde sich nicht erwischen lassen«, sagte Egwene. »Davon abgesehen wissen wir nicht, ob sie eine dieser Methoden benutzt. Seaines Logik lässt annehmen, dass es möglich wäre, den Eidstab ohne große Probleme zu besiegen. Wie es Mesaana nun geschafft hat, ist weniger wichtig als die Tatsache, dass es grundsätzlich möglich ist.«

Seaine warf Yukiri einen Blick zu. Keine der drei Frauen hatte Egwenes Wissen infrage gestellt, dass sich eine der Verlorenen in der Weißen Burg aufhielt, aber sie wusste, dass alle skeptisch waren. Nun, zumindest war ihnen jetzt klar, dass es möglich war, den Eidstab zu bezwingen.

»Ich möchte, dass ihr mit Eurer Arbeit weitermacht«, sagte sie. »Ihr und die anderen habt mehrere Schwarze Schwestern entlarven und gefangen nehmen können. Das ist so ziemlich das Gleiche.« Nur weitaus gefährlicher.

»Wir versuchen es, Mutter«, sagte Yukiri. »Aber eine Schwester unter Hunderten? Eine der durchtriebensten und bösartigsten Kreaturen, die je gelebt hat? Ich bezweifle, dass sie viele Spuren hinterlässt. Bis jetzt haben unsere Ermittlungen in den Mordfällen kaum Resultate erbracht.«

»Tut es trotzdem«, sagte Egwene. »Saerin, was habt Ihr zu berichten?«

»Geschichten, Gerüchte und Andeutungen hinter vorgehaltener Hand, Mutter«, sagte Saerin und verzog das Gesicht. »Vermutlich kennt Ihr die berühmtesten Geschichten über Mesaana – dass sie die Schulen leitete, die es in den im Krieg der Macht vom Schatten eroberten Ländern gab. Soweit ich es sagen kann, entsprechen diese Legenden durchaus der Wahrheit. Marsim von Manetheren berichtet davon ausführlich in ihren Annalen der Letzten Nächte, und sie ist oft eine verlässliche Quelle. Alrom erstellte einen recht ausführlichen Bericht, wie man eine dieser Schulen überlebte, und ein paar Fragmente davon sind überliefert.

Mesaana wollte Forscherin sein, wurde aber zurückgewiesen. Die Einzelheiten sind nicht klar. Sie lenkte auch die Aes Sedai, die zum Schatten überliefen, führte sie auch manchmal in der Schlacht an, falls man Alroms Bericht Glauben schenken will. Ich bin davon nicht unbedingt überzeugt; ich halte es eher für wahrscheinlich, dass Mesaanas Führung im übertragenen Sinn zu verstehen ist.«

Egwene nickte bedächtig. »Und was ist mit ihrer Persönlichkeit? Wer ist sie?«

Saerin schüttelte den Kopf. »Für die meisten sind die Verlorenen eher Ungeheuer der Nacht als echte ›Persönlichkeiten‹, Mutter, und es ist vieles verloren gegangen oder falsch wiedergegeben worden. Soweit ich das sagen kann, ist sie die Realistin unter den Verlorenen – diejenige, die nicht hoch auf einem Thron sitzt, sondern sich die Ärmel hochkrempelt und die Hände schmutzig macht. Elandria Borndats Beobachtungen während der Zerstörung der Welt beharrt darauf, dass Mesaana im Gegensatz zu Moghedien und Graendal bereit war, die Zügel direkt in die Hand zu nehmen.

Sie galt nie als die begabteste oder mächtigste der Verlorenen, aber sie war außerordentlich fähig. Elandria erklärt, dass sie tat, was getan werden musste. Wo die anderen Intrigen schmiedeten, baute sie sorgfältig ihre Verteidigung auf und bildete neue Rekruten aus.« Saerin zögerte. »Sie… nun, sie hat viel Ähnlichkeit mit einer Amyrlin, Mutter. Die Amyrlin des Schattens.«

»Beim Licht«, murmelte Yukiri. »Kein Wunder, dass sie sich hier einnistete.« Der Gedanke schien die Graue tief zu erschüttern.

»Die einzige andere relevante Sache, die ich herausfinden konnte, Mutter«, fuhr Saerin fort, »war ein seltsamer Verweis von der Blauen Gelehrten Lannis, die andeutete, dass Mesaana nur an Demandred heranreichte, was ihren Zorn betraf.«

Egwene runzelte die Stirn. »Ich hätte angenommen, dass alle Verlorenen voller Hass sind.«

»Nicht Hass. Zorn. Lannis vertrat die Meinung, dass Mesaana zornig war, weil sie nicht zu denen in der ersten Reihe gehörte. Zornig auf sich selbst, auf die Welt, auf die anderen Verlorenen. Das könnte sie sehr gefährlich machen.«

Egwene nickte langsam. Sie ist eine Organisatorin. Eine Verwalterin, die es hasst, auf diese Position verwiesen worden zu sein.

War sie aus diesem Grund in der Burg geblieben, nachdem man die Schwarzen Schwestern entlarvt hatte? Wollte sie dem Dunklen König um jeden Preis mit einer großen Leistung imponieren? Verin hatte gesagt, dass die Verlorenen eine Eigenschaft teilten: ihre Selbstsucht.

Sie wollte eine zerstörte Weiße Burg übergeben. Aber damit ist sie gescheitert. Vermutlich hat sie auch an dem Versuch teilgenommen, Rand zu entführen. Ein weiteres Fiasko. Und die Frauen, die man ausschickte, die Schwarze Burg zu vernichten?

Um so viele Fehler wiedergutzumachen, würde Mesaana einen großartigen Erfolg brauchen. Egwene zu töten würde da reichen. Möglicherweise würde das eine erneute Spaltung der Weißen Burg zur Folge haben.

Gawyn war über ihre Absicht, als Köder zu dienen, entsetzt gewesen. Konnte sie das wirklich wagen? Sie umklammerte die Brüstung und stand über der Burg, über der Stadt, die von ihr abhing, schaute auf eine Welt, die sie brauchte.

Etwas musste geschehen; Mesaana musste aus ihrem Versteck gelockt werden. Wenn Saerin recht hatte, dann war die Frau zu einer direkten Auseinandersetzung bereit – sie würde sich nicht verbergen und aus den Schatten zuschlagen. Also musste Egwene sie mit einer Gelegenheit locken, die nicht offensichtlich erschien, der sie aber nicht widerstehen konnte.

»Kommt«, sagte sie und ging auf die Rampe zu, die in den Turm führte. »Ich habe einige Vorbereitungen zu treffen.«

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