EPILOG Etwas später

Gaendal suchte in ihrem neuen Palast eilig zusammen, was sie brauchte. Sie holte das kleine Angreal aus dem Schreibtisch, das Mesaana ihr im Gegenzug für Informationen gegeben hatte. Es hatte die Gestalt eines kleinen Messers mit Elfenbeingriff; al’Thors Angriff hatte sie ihren Goldring gekostet.

Graendal warf es in ihre Tasche, dann schnappte sie sich einen Papierstapel von ihrem Bett. Namen von Kontakten, Augen-und-Ohren – alles, woran sie sich noch von den in Natrins Hügel zerstörten Unterlagen hatte erinnern können.

Draußen schlugen Wellen gegen die Felsen. Es war noch dunkel. Es war erst Augenblicke her, dass ihr letztes Werkzeug sie im Stich gelassen hatte. Aybara hatte das Schlachtfeld lebend verlassen. Das hätte funktionieren müssen!

Sie befand sich in ihrem eleganten Herrenhaus ein paar Meilen von Ebou Dar entfernt. Jetzt, da es Semirhage nicht mehr gab, hatte Graendal angefangen, ein paar Angelhaken nach der neuen kindhaften Kaiserin auszuwerfen. Diese Pläne würde sie jetzt verwerfen müssen.

Perrin Aybara war entkommen. Sie fühlte sich wie betäubt. Ein perfekter Plan nach dem anderen war genauso verlaufen, wie er sollte. Und dann … er war entkommen. Wie war das möglich? Die Prophezeiung … sie hatte doch gesagt…

Isam, dieser Narr, dachte Graendal und stopfte die Papiere in ihre Tasche. Und dieser schwachsinnige Weißmantel! Sie schwitzte. Sie hätte nicht schwitzen sollen.

Sie warf ein paar Ter’angreale von ihrem Schreibtisch in die Tasche, dann wühlte sie in ihrem Schrank nach Kleidung zum Wechseln. Er konnte sie auf der ganzen Welt finden. Aber vielleicht eines der Spiegelreiche der Portalsteine. Ja. Dort waren seine Verbindungen nicht…

Sie drehte sich mit dem Arm voller Seidengewänder um und erstarrte. Eine Gestalt stand im Raum. Groß, wie eine in dunkle Roben gehüllte Säule. Augenlos. Lächelnde Lippen in der Farbe des Todes.

Graendal warf sich auf die Knie, schleuderte die Kleidung zur Seite. Schweiß rann ihre Schläfen hinunter zur Wange.

»Graendal«, sagte der hochgewachsene Myrddraal. Seine Stimme war schrecklich, wie das letzte Flüstern eines Sterbenden. »Du hast versagt, Graendal.«

Schaidar Haran. Ganz schlimm. »Ich…«, sagte sie und leckte über ihre trockenen Lippen. Wie konnte man das in einen Sieg verdrehen? »Es geht alles nach Plan. Das ist bloß ein kleiner …«

»Ich kenne dein Herz. Ich kann dein Entsetzen schmecken.« Sie kniff die Augen zusammen.

»Mesaana ist gefallen«, flüsterte Schaidar Haran. »Drei Auserwählte, die durch dein Handeln vernichtet wurden. Die Konstruktion, ein Gitterwerk des Versagens, ein Rahmen der Inkompetenz.«

»Ich hatte nichts mit Mesaanas Fall zu tun!«

»Nichts? Graendal, der Traumnagel war da. Die, die an Mesaanas Seite kämpften, berichteten, dass sie die Aes Sedai an einen Ort locken wollten, wo sie die Falle hätten zuschnappen lassen. Sie sollten nicht in der Weißen Burg kämpfen. Sie kamen nicht weg. Wegen dir.«

»Isam…«

»Ein dir überlassenes Werkzeug. Das ist dein Fehler, Graendal.«

Sie fuhr sich wieder über die Lippen. Ihr Mund war ganz trocken. Es musste einen Ausweg geben. »Ich habe einen besseren Plan, viel kühner. Ihr werdet beeindruckt sein. Al’Thor hält mich für tot, und so kann ich …«

»Nein.« Eine so leise Stimme, aber so schrecklich. Graendal entdeckte, dass sie keinen Ton hervorbringen konnte. Etwas hatte ihr die Stimme genommen. »Nein«, fuhr Schaidar Haran fort. »Diese Gelegenheit bekam jemand anderes. Aber dich wird man nicht vergessen, Graendal.«

Sie schaute auf, von plötzlicher Hoffnung erfüllt. Diese toten Lippen lächelten breit, dieser augenlose Blick war auf sie gerichtet. Eine schreckliche Vorahnung stieg in ihr auf.

»Nein«, sagte Schaidar Haran, »ich werde dich nicht vergessen, und du wirst nicht vergessen, was jetzt kommt.«

Sie riss die Augen weit auf und stieß einen markerschütternden Schrei aus, als er nach ihr griff.


Der Himmel grollte, um Perrin erbebte das Gras. Das Gras hatte schwarze Flecken, genau wie in der richtigen Welt. Selbst der Wolfstraum lag im Sterben.

Die Luft war voller Gerüche, die nicht hergehörten. Ein brennendes Feuer. Trocknendes Blut. Das tote Fleisch eines Tieres, das er nicht erkannte. Faulende Eier.

Nein, dachte er. Nein, so soll das nicht sein.

Er sammelte seine Willenskraft. Diese Gerüche würden verschwinden. Das taten sie dann auch und wurden ersetzt durch den Duft des Sommers. Gras, Maulwürfe, Käfer, Moos, Mäuse, Blaumeisen, Purpurfinken. Sie traten in einem Kreis um ihn herum ins Leben.

Er biss die Zähne zusammen. Diese Realität breitete sich wellenförmig von ihm aus, und das Schwarz auf den Pflanzen verblich. Über ihm wogten die Wolken und teilten sich dann. Sonnenlicht strömte in die Tiefe. Der Donner verklang.

Und Springer lebt, dachte Perrin. Das tut er! Ich rieche sein Fell, höre ihn durch das Gras laufen.

Vor ihm erschien ein Wolf, bildete sich wie aus Nebel. Silbergraues Fell, von langen Jahren des Lebens ergraut. Perrin labte sich an seiner Macht. Es war real.

Und dann sah er die Augen des Wolfs. Leblos.

Der Geruch wurde abgestanden und falsch.

Die Anstrengung, sich so sehr zu konzentrieren, ließ Perrin schwitzen. In ihm brach etwas auseinander. Er klammerte sich zu sehr am Wolfstraum fest; der Versuch, diesen Ort in jeder Einzelheit zu kontrollieren, war wie der Versuch, einen Wolf in einem Kasten zu halten.

Mit einem Aufschrei fiel er auf die Knie. Der nebelhafte Nicht-Springer verschwand in einer Aufwallung, und die Wolken krachten wieder zusammen. Blitze zuckten, auf dem Gras breiteten sich schwarze Flecken aus. Die falschen Gerüche kehrten zurück.

Perrin kniete schweißüberströmt da, eine Hand auf dem stacheligen braunen und schwarzen Gras. Zu steif.

Er dachte an Faile, die auf dem Feld von Merrilor in ihrem Zelt lag. Sie war sein Zuhause. Es gab viel zu tun. Rand war wie versprochen erschienen. Morgen würde er Egwene gegenübertreten müssen. Die Gedanken an die reale Welt gaben ihm einen Anker und verhinderten, dass er sich zu sehr an den Wolfstraum festklammerte.

Er stand auf. Mit diesem Ort konnte er viele Dinge machen, aber es gab Grenzen. Es gab immer Grenzen.

Suche Grenzenlos. Er wird es erklären.

Springers letzte Botschaft an ihn. Was bedeutete sie? Springer hatte behauptet, dass er die Antwort gefunden hatte. Und trotzdem würde Grenzenlos diese Antwort erklären? Die Botschaft war überlagert gewesen von Schmerz, Verlust und der Zufriedenheit, dass Perrin den Wolf in sich akzeptiert hatte. Ein letztes Bild eines Wolfs, der mit leuchtendem Fell und entschlossenem Geruch stolz in die Dunkelheit sprang.

Perrin versetzte sich zur Jehannah-Straße. Grenzenlos war oft hier, zusammen mit den Resten des Rudels. Perrin tastete umher und fand ihn: ein jugendliches Männchen, von schmalem Wuchs mit braunem Fell. Grenzenlos neckte ihn, schickte das Bild von Perrin als Bullen, der einen Hirschbock niedertrampelte. Die anderen hatten dieses Bild schon lange verworfen, aber Grenzenlos erinnerte sich weiterhin daran.

Grenzenlos, sandte Perrin die Botschaft. Springer sagte mir, dass ich dich brauche. Der Wolf verschwand.

Perrin zuckte zusammen, dann sprang er an die Stelle, wo sich der Wolf aufgehalten hatte – eine Felsklippe mehrere Meilen von der Straße entfernt. Er fing den Hauch des Ziels des Wolfs auf und begab sich dorthin. Ein offenes Feld mit angrenzender Scheune, die verfallen aussah.

Grenzenlos? Der Wolf hockte in der Nähe in einem Gebüsch.

Nein. Nein. Grenzenlos übermittelte Furcht und Gefahr. Was habe ich getan?

Der Wolf schoss so schnell davon, dass er nur als Schemen zu sehen war. Perrin knurrte, ließ sich auf alle viere herunter und verwandelte sich in einen Wolf. Junger Bulle nahm die Verfolgung auf, und der Wind brauste in seinen Ohren. Er zwang ihn, sich vor ihm zu teilen, und wurde so noch schneller.

Grenzenlos versuchte zu verschwinden, aber Junger Bulle folgte ihm und erschien mitten auf dem Ozean. Er landete auf den Wellen, aber das Wasser unter seinen Pfoten war fest, und er hetzte Grenzenlos hinterher, ohne ins Stolpern zu kommen.

Grenzenlos’ Botschaften waren ein Gemisch aufzuckender Bilder. Wälder. Städte. Felder. Ein Bild von Perrin, der vor einem Käfig stand und auf ihn herabschaute.

Perrin erstarrte und wurde wieder zum Menschen. Er blieb auf den schäumenden Wellen stehen und stieg langsam in die Luft. Was? Die Botschaft hatte einen jüngeren Perrin gezeigt. Und Moiraine war bei ihm gewesen. Wie konnte Grenzenlos denn nur …

Und plötzlich erkannte Perrin die Wahrheit. Grenzenlos war im Wolfstraum stets in Ghealdan zu finden.

Noam, rief er dem fernen Wolf hinterher.

Da kam ein überraschtes Zusammenzucken, dann verschwand das Bewusstsein. Perrin versetzte sich zu dem Ort, an dem Grenzenlos gewesen war, und dort roch er ein kleines Dorf. Eine Scheune. Einen Käfig.

Perrin erschien dort. Grenzenlos lag zwischen zwei Häusern und schaute zu Perrin hoch. Er unterschied sich nicht von anderen Wölfen, obwohl Perrin nun die Wahrheit zu kennen glaubte. Das war kein Wolf. Er war ein Mann.

»Grenzenlos«, sagte Perrin und ließ sich auf ein Knie herab, um dem Wolf in die Augen zu sehen. »Noam. Erinnerst du dich an mich?«

Natürlich. Du bist Junger Bulle.

»Ich meine, erinnerst du dich an davor, als wir uns in der wachen Welt begegneten? Du hast mir ein Bild davon geschickt. «

Noam öffnete die Schnauze, und ein Knochen erschien zwischen seinen Kiefern. Ein großer Oberschenkelknochen, an dem noch ein paar Fleischfetzen hafteten. Er blieb liegen und kaute darauf herum. Du bist junger Bulle, sagte er stur.

»Erinnerst du dich an den Käfig, Noam?«, fragte Perrin leise und übermittelte das Bild. Das Bild eines Mannes, dessen dreckige Lumpen zur Hälfte zerrissen waren, den seine Familie in einen Holzkäfig gesperrt hatte.

Noam erstarrte, und seine Gestalt flackerte kurz und wurde zu einem Mann. Die Wolfsgestalt kehrte sofort zurück, und er knurrte. Ein leises, gefährliches Knurren.

»Ich habe die schlimmen Zeiten nicht erwähnt, um dich wütend zu machen, Noam«, sagte Perrin. »Ich … nun, ich bin wie du.«

Ich bin ein Wolf.

»Ja«, sagte Perrin. »Aber nicht immer.« Immer.

»Nein«, sagte Perrin fest. »Einst warst du wie ich. Es abzustreiten ändert nichts daran.«

Hier tut es das schon, Junger Bulle. Hier schon.

Das stimmte allerdings. Warum beharrte er so auf dieser Sache? Aber Springer hatte ihn hergeschickt. Warum sollte Grenzenlos die Antwort haben? Ihn zu sehen und seine Identität zu kennen brachte sämtliche von Perrins Ängsten zurück. Er war endlich mit sich im Reinen, aber hier war ein Mann, der sich völlig im Wolf verloren hatte.

Davor hatte er entsetzliche Angst gehabt. Das hatte den Keil zwischen ihn und die anderen Wölfe getrieben. Und da er das jetzt überwunden hatte, warum sollte Springer ihn herschicken? Grenzenlos roch seine Verwirrung. Der Knochen verschwand, und Grenzenlos legte den Kopf auf die Pfoten und schaute zu ihm hoch.

Noam, der praktisch den Verstand verloren hatte, hatte nur den einen Gedanken gehabt, sich zu befreien und zu töten. Er war eine Gefahr für jeden in seiner Umgebung gewesen. Davon war nichts mehr zu erkennen. Grenzenlos schien seinen Frieden gefunden zu haben. Als sie Noam befreit hatten, hatte Perrin die Sorge gehabt, der Mann würde bald sterben, aber es schien ihm gut zu gehen. Zumindest lebte er – auch wenn man der Gestalt des Mannes im Wolfstraum unmöglich ablesen konnte, wie es um seine Gesundheit stand.

Trotzdem war Grenzenlos’ Verstand jetzt viel gesünder. Perrin runzelte die Stirn. Moiraine hatte behauptet, dass im Verstand dieser Kreatur nichts mehr von dem Menschen Noam übrig sei.

»Grenzenlos«, sagte er. »Was denkst du über die Welt der Menschen?«

Sofort traf ihn eine schnelle Bilderfolge. Schmerzen. Trauer. Verwelkende Ernten. Schmerzen. Ein großer, stämmiger Mann, der betrunken eine hübsche Frau schlug. Schmerzen. Ein Feuer. Furcht, Trauer. Schmerzen.

Perrin taumelte zurück. Grenzenlos schickte weiter die Bilder. Eines nach dem anderen. Ein Grab. Daneben ein kleineres Grab, wie für ein Kind. Das Feuer wurde größer. Ein zornentbrannter Mann – Noams Bruder; Perrin erkannte ihn, obwohl der Mann zum damaligen Zeitpunkt nicht gefährlich erschienen war.

Es war eine Flut, eine überwältigende Flut. Perrin stieß ein Heulen aus. Ein Klagelied für das Leben, das Noam geführt hatte, ein Trauergesang voller Qual und Schmerz. Kein Wunder, dass dieser Mann das Leben eines Wolfs vorzog.

Die Bilder hörten auf, und Grenzenlos wandte den Kopf ab. Perrin schnappte unwillkürlich nach Luft.

Ein Geschenk, sagte Grenzenlos.

»Beim Licht«, flüsterte Perrin. »Das war eine Entscheidung, nicht wahr? Du hast den Wolf absichtlich gewählt.« Grenzenlos schloss die Augen.

»Ich hatte immer befürchtet, dass er mich überwältigt, wenn ich nicht vorsichtig bin.« Der Wolf ist Frieden.

»Ja«, sagte Perrin und legte dem Wolf die Hand auf den Kopf. »Ich verstehe.«

Das war für Grenzenlos das Gleichgewicht. Ein ganz anderes Gleichgewicht als bei Elyas. Und auch anders als das, das er gefunden hatte. Er verstand. Es bedeutete nicht, dass die Art und Weise, auf die er die Kontrolle verlor, keine Gefahr darstellte. Aber es war das letzte Puzzleteil, das er benötigte, um es zu verstehen. Das letzte Teil von ihm selbst.

Danke, übermittelte Perrin die Botschaft. Das Bild von Junger Bulle dem Wolf und Perrin dem Mann, die Seite an Seite auf einem Hügel standen und beide denselben Geruch hatten. Er schickte das Bild hinaus in den Traum, mit so viel Kraft, wie er konnte. Zu Grenzenlos, zu den Wölfen in der Nähe. Zu jedem, der zuhören wollte.

Danke.


»Dovie’andi se tovya sagain«, sagte Olver und warf die Würfel. Sie rollten über den Tuchboden des Zelts. Olver lächelte, als sie ruhten. Nur schwarze Augen, keine Wellenlinien oder Dreiecke. In der Tat ein glücklicher Wurf.

Olver bewegte seinen Spielstein auf dem Spielbrett von Schlangen und Füchse, das sein Vater für ihn auf einem Tuch angefertigt hatte. Es schmerzte ihn jedes Mal, dieses Spielbrett zu sehen. Aber er ließ es sich nicht anmerken. Krieger weinten nicht. Davon abgesehen würde er eines Tages den Shaido finden, der seinen Vater getötet hatte. Dann würde er seine Rache bekommen.

So etwas tat ein Mann eben, wenn er ein Krieger war. Sicherlich würde Mat ihm helfen, sobald er die Sache mit der Letzten Schlacht erledigt hatte. Dann würde er ihm nämlich etwas schulden, und zwar nicht nur für die vielen Male, die er Mats Botenjunge gewesen war. Sondern für die Informationen, die er ihm über die Schlangen und Füchse gegeben hatte.

Talmanes saß neben Olver auf einem Stuhl. Der stoische Mann las in einem Buch und schenkte dem Spiel nur geringe Aufmerksamkeit. Mit ihm konnte man nicht annähernd so gut spielen wie mit Thom oder Noal. Aber Talmanes war ja auch nicht geschickt worden, um mit ihm zu spielen, sondern um auf ihn aufzupassen.

Mat wollte nicht, dass er wusste, dass sie zum Turm von Ghenjei aufgebrochen waren und ihn zurückgelassen hatten. Nun, er war kein Narr, und er wusste, was los war. Er war nicht wütend, jedenfalls nicht richtig. Noal war als Begleiter eine gute Wahl, und wenn Mat nur drei Männer mitnehmen konnte, nun … Noal konnte besser kämpfen als er. Also war es vernünftig, wenn er mitging.

Aber das nächste Mal würde er die Auswahl treffen. Und dann war Mat besser nett, oder er würde zurückbleiben müssen.

»Du bist dran, Talmanes«, sagte er.

Talmanes murmelte etwas, nahm die Würfel und warf, ohne vom Buch aufzusehen. Er war schon in Ordnung, wenn auch etwas steif. So einen Mann hätte er nicht mitgenommen, um einen schönen Abend zu erleben, mit Ale und den hübschen Bedienungen nachjagen. Natürlich wenn er alt genug war, um zu trinken und den hübschen Bedienungen nachzujagen. In einem oder spätestens zwei jähren würde er wohl so weit sein, schätzte er.

Er bewegte die Schlangen und Füchse, dann nahm er die Würfel für den nächsten Wurf. Er hatte alles genau geplant. Es gab eine Menge Shaido auf der Welt, und er hatte keine Ahnung, wie er den finden sollte, der seine Eltern umgebracht hatte. Aber die Aelfinn, die beantworteten Fragen. Er hatte Mat davon sprechen hören. Also würde er seine Antworten bekommen und den Mann dann aufspüren. Das war so leicht, wie ein Pferd zu reiten. Er musste bloß vorher mit der Bande üben, damit er auch gut genug kämpfen konnte, um das zu tun, was getan werden musste.

Er warf die Würfel. Wieder ein voller Lauf. Lächelnd bewegte er seinen Spielstein zurück auf die Mitte des Spielbretts zu, halb in Gedanken versunken und von dem Tag träumend, an dem er endlich seine Rache bekommen würde, wie es sich gehörte.

Er bewegte den Spielstein über eine weitere Linie und erstarrte dann.

Der Spielstein lag genau in der Mitte. »Ich habe gewonnen!«, rief er aus.

Talmanes schaute auf, und die Pfeife in seinem Mund senkte sich. Er legte den Kopf schief und starrte das Brett an. »Soll man mich doch zu Asche verbrennen«, murmelte er. »Wir müssen falsch gezählt haben oder …«

»Falsch gezählt?«

»Ich meine…« Talmanes sah erstaunt aus. »Du kannst nicht gewinnen. Das Spiel kann nicht gewonnen werden. Es geht einfach nicht.«

Das war natürlich Unsinn. Warum sollte er spielen, wenn er nicht gewinnen konnte? Mit einem Lächeln betrachtete er das Brett. Die Schlangen und Füchse waren nur einen Wurf davon entfernt, seinen Spielstein zu erwischen und ihn verlieren zu lassen. Aber dieses Mal war er den ganzen Weg zum Außenring und zurück gekommen. Er hatte gewonnen.

Was gut war. Langsam hatte er schon geglaubt, es nie zu schaffen!

Er stand auf und streckte die Beine. Talmanes erhob sich von seinem Stuhl, ging neben dem Spielbrett in die Hocke und kratzte sich am Kopf. Aus seiner Pfeife stieg eine Rauchfahne in die Höhe.

»Ich hoffe, Mat ist bald wieder da«, sagte Olver.

»Bestimmt«, erwiderte Talmanes. »Seine Aufgabe für Ihre Majestät müsste bald erledigt sein.« Das war die Lüge, die sie ihm erzählt hatten – dass Mat, Thom und Noal einen Geheimauftrag für die Königin zu erledigen hatten. Nun, noch ein Grund, dass Mat ihm etwas schuldete. Ehrlich, manchmal konnte Mat so steif sein; als könnte er sich nicht um sich selbst kümmern.

Olver schüttelte den Kopf und schlenderte zur anderen Seite des Zelts, wo ein Stapel von Mats Papieren auf seine Rückkehr wartete. Zwischen zwei Blättern spähte etwas Interessantes hervor. Etwas Rotes, wie Blut. Er griff zu und zog einen fleckigen Brief hervor. Er war mit einem Wachstropfen versiegelt.

Stirnrunzelnd drehte er den kleinen Brief herum. Er hatte gesehen, wie Mat ihn immer dabeigehabt hatte. Warum hatte er ihn nicht aufgemacht? So ein Verhalten war einfach unmöglich. Setalle hatte sich viel Mühe gegeben, ihm Anstand beizubringen, und auch wenn das meiste von dem, was sie da so sagte, nicht den geringsten Sinn ergab – er nickte immer bloß, damit er sich dann an sie anschmiegen durfte -, war er sich ziemlich sicher, dass man erhaltene Briefe öffnen sollte, um dann freundlich zu antworten.

Er drehte den Brief noch einmal um, dann zuckte er mit den Schultern und brach das Siegel. Schließlich war er Mats Botenjunge, ganz offiziell. Es war kein Wunder, dass Mat manchmal Dinge vergaß, aber es war seine Aufgabe, sich um ihn zu kümmern, jetzt, da es Lopin nicht mehr gab, musste man sich besonders um Mat kümmern. Das war einer der Gründe, warum er bei der Bande blieb. Er war sich einfach nicht sicher, was Mat ohne ihn anfangen würde.

Er entfaltete den Brief und nahm ein kleines, steifes Stück Papier heraus. Stirnrunzelnd bemühte er sich die Worte zu lesen. Langsam wurde er ganz gut darin, vor allem wegen Setalle, aber manche Worte bereiteten ihm Schwierigkeiten. Er kratzte sich am Kopf. »Talmanes«, sagte er. »Ich glaube, du solltest das hier lesen.«

»Was ist das?«, fragte der Mann und schaute vom Spiel hoch. »Also ehrlich! Olver, was tust du da? Das sollte nicht geöffnet werden!« Der Mann erhob sich, kam herüber und riss ihm das Blatt aus den Fingern.

»Aber …«

»Lord Mat hat das nicht geöffnet«, sagte Talmanes. »Er wusste, dass uns das bloß in die Politik der Weißen Burg verstrickt. Er hat die ganzen Wochen abgewartet! Und jetzt schau, was du angerichtet hast. Ich frage mich, ob wir ihn nicht wieder zumachen können und …«

»Talmanes«, beharrte Olver. »Ich glaube, es ist wichtig!«

Talmanes zögerte. Einen Augenblick lang erschien er unentschlossen, dann hielt er den Brief so, dass mehr Licht darauf fiel. Er las ihn schnell, mit dem Gebaren eines Jungen, der Essen vom Wagen eines Straßenverkäufers stahl und sich in den Mund stopfte, bevor man ihn erwischte.

Lautlos stieß Talmanes einen Fluch aus. Er las den Brief erneut, dann fluchte er lauter. Er schnappte sich sein Schwert, das an der Wand lehnte, und eilte aus dem Zelt. Den Brief hatte er zu Boden fallen lassen.

Olver betrachtete ihn erneut und sagte die Worte, die er beim ersten Mal nicht verstanden hatte, laut auf.


Matrim,

Wenn Ihr das hier öffnet, bin ich tot. Ich hatte geplant, innerhalb eines einzigen Tages zu Euch zurückzukehren und Euch von Eurem Eid zu entbinden. Aber meine nächste Aufgabe birgt viele Komplikationen, und es besteht die große Wahrscheinlichkeit, dass ich sie nicht überlebe. Ich musste wissen, dass ich jemanden zurückließ, der diese Arbeit erledigen kann.

Glücklicherweise kann ich mich meiner Ansicht nach bei Euch auf eine Sache verlassen, und das ist Eure Neugier. Ich vermute, dass Ihr ein paar Tage lang durchhalten werdet, bevor Ihr diesen Brief öffnet, was mir genug Zeit für eine mögliche Rückkehr lässt, falls das möglich ist. Andernfalls fällt diese Aufgabe an Euch.

In Caemlyn gibt es ein Tor der Kurzen Wege. Es ist bewacht, verbarrikadiert und als sicher befunden. Das ist es nicht.

Eine gewaltige Streitmacht Schattengezücht bewegt sich durch die Wege auf Caemlyn zu. Ich vermag nicht zu sagen, wann sie genau aufgebrochen ist, aber es müsste ausreichend Zeit sein, sie aufzuhalten. Ihr müsst zur Königin vordringen und sie dazu überreden, dieses Tor zu zerstören. Das kann man schaffen; es zuzumauern reicht nicht. Falls Ihr es nicht zerstören könnt, muss die Königin diesen Ort von all ihren Streitkräften bewachen lassen.

Solltet Ihr darin versagen, fürchte ich, dass Caemlyn noch vor Ende des Monats verloren sein wird.

Ich grüße Euch Verin Mathwin


Olver rieb sich das Kinn. Was war ein Tor der Kurzen Wege? Er glaubte, Mat und Thom davon sprechen gehört zu haben. Zusammen mit dem Brief verließ er das Zelt.

Talmanes stand direkt vor dem Eingang und sah nach Osten. In Richtung Caemlyn. Ein rötlicher Dunst hing am Horizont, über der Stadt lag ein Glühen. Es war viel größer als in anderen Nächten.

»Das Licht stehe uns bei«, flüsterte Talmanes. »Sie brennt. Die Stadt brennt.« Er schüttelte den Kopf, als wollte er ihn klarbekommen, dann stieß er einen Ruf aus. »Zu den Waffen! Trollocs sind in Caemlyn. Die Stadt ist im Krieg! Männer, zu den Waffen! Verflucht, wir müssen es in die Stadt schaffen und diese Drachen retten! Sollten sie in die Hände des Schattens fallen, sind wir alle tot!«

Mit großen Augen senkte Olver den Brief in seiner Hand. Trollocs in Caemlyn? Das würde genau wie die Shaido in Cairhien sein, nur schlimmer.

Er eilte zurück in Mats Zelt, stolperte über den Teppich und warf sich neben seiner Schlafpritsche auf die Knie. Hastig zerrte er an der Seitennaht der Matratze. Durch die Öffnung drang die Wollfüllung heraus. Er griff hinein, tastete umher und zog das große Messer hervor, das er dort verborgen hatte. Es steckte in einer Lederscheide. Er hatte es von Bergevin stibitzt, einem der Quartiermeister der Bande, als der gerade einmal nicht hingesehen hatte.

Nach Cairhien hatte sich Olver geschworen, nie wieder ein Feigling zu sein. Er packte das große Messer so fest mit beiden Händen, dass seine Knöchel weiß hervortraten, dann rannte er aus dem Zelt.

Es war Zeit, zu kämpfen.


Barriga schwankte, als er an einem umgestürzten Baumstamm vorbeikroch. Aus seiner Stirn tropfte Blut zu Boden, und die dunkel gesprenkelten Nesseln schienen es aufzusaugen, sich von seinem Leben zu nähren. Mit zitternder Hand griff er nach der Stirn. Der Verband war durchgeblutet.

Keine Zeit für eine Rast. Keine Zeit! Er zwang sich wieder auf die Füße und eilte durch die braunen Korianderbüsche. Dabei bemühte er sich, die schwarzen Flecken auf den Pflanzen zu übersehen. Die Fäule, er hatte die Große Fäule betreten. Aber was hätte er sonst tun können? Die Trollocs tobten nach Süden; die Türme waren gefallen. Kandor selbst war gefallen.

Barriga stolperte und stürzte. Stöhnend wälzte er sich auf den Rücken. Er befand sich in einer Mulde zwischen zwei Hügeln nördlich vom Heeth-Turm. Seine ehemals schöne Kleidung – Mantel und Weste waren aus kostbarem Samt – war zerrissen und blutbefleckt. Er stank nach Qualm, und wenn er die Augen schloss, sah er die Trollocs. Wie sie seine Karawane überfielen und seine Diener und Soldaten abschlachteten.

Sie alle waren tot. Thum, Yang … beide tot. Beim Licht, sie alle waren tot.

Barriga erschauderte. Wie hatte es nur dazu kommen können? Er war bloß ein Kaufmann. Ich hätte auf Rebek hören sollen, dachte er. Hinter ihm stieg Qualm vom Heeth-Turm auf. Das war das Ziel seiner Karawane gewesen. Wie hatte das nur geschehen können?

Er musste in Bewegung bleiben. Osten. Er würde nach Arafel gehen. Die anderen Grenzlande würden nicht gefallen sein, oder doch?

Er stieg einen Hügel hinauf, zog sich an den kurzen Schlingpflanzen empor. Sie fühlten sich wie Würmer an. Ihm wurde schwindelig. Die Wolken am Himmel waren ein Sturm. Vor ihm erschienen drei Gestalten in Schwarz und Braun, die sich mit derselben Anmut bewegten. Myrddraals!

Nein. Er blinzelte Tränen und Blut aus den Augen. Nein, das waren keine Myrddraals. Es waren Männer, die rote Schleier vor dem Gesicht trugen. Sie gingen geduckt, überprüften das Gelände, trugen Kurzspeere auf dem Rücken.

»Dem Licht sei Dank«, flüsterte er. »Aiel.« Er war in Andor gewesen, als Rand al’Thor gekommen war. Jeder wusste, dass die Aiel dem Wiedergeborenen Drachen folgten. Er hatte sie gezähmt.

Ich bin in Sicherheit!

Einer der Aiel trat an Barriga heran. Warum war der Schleier des Mannes rot? Das war ungewöhnlich. Die dunklen Augen des Aiel waren ganz glasig. Der Mann nahm den Schleier ab und enthüllte ein lächelndes Gesicht.

Seine Zähne waren spitz zugefeilt. Sein Lächeln wurde breiter, und er zog ein Messer aus dem Gürtel.

Barriga stotterte, starrte den schrecklichen Rachen und die unverhohlene Begeisterung in den Augen des Mannes an, als er zum Todesstoß ausholte. Das waren keine Aiel. Sie waren etwas anderes.

Etwas Schreckliches.

Rand al’Thor, der Wiedergeborene Drache, saß friedlich in seinem Traum. Er atmete die kühle Luft. Weiße Wolken trieben sanft an ihm vorbei und küssten seine Haut mit ihrer Feuchtigkeit.

Sein Thron für die Nacht war ein flacher Felsen auf einem Berghang; durch die Wolken schaute er auf ein schmales Tal hinab. Das war nicht der reale Ort. Es war nicht einmal die Welt der Träume, dieser Ort, an dem er gegen die Verlorenen gekämpft hatte, dieser Ort, der angeblich so gefährlich sein sollte.

Nein, es handelte sich um einen seiner eigenen ganz normalen Träume. Er kontrollierte sie jetzt. Sie waren ein Ort, an dem er beschützt von Schutzgeweben Frieden fand, um nachdenken zu können, während sein Körper neben Min in ihrem neuen Lager schlief, umgeben von Grenzländern, auf dem Feld von Merrilor. Egwene war da, mit vielen Armeen. Dafür war er bereit. Er hatte sich darauf verlassen.

Am morgigen Tag würden sie seine Forderungen hören. Nicht, was er fordern würde, um im Gegenzug darauf zu verzichten, die Siegel zu brechen – das würde er trotzdem tun, ganz egal was Egwene zu sagen hatte. Nein, es würden die Forderungen sein, die er an die Monarchen der Welt richtete, um dafür zum Shayol Ghul zu gehen und sich dem Dunklen König zu stellen.

Er war sich nicht sicher, was er tun würde, wenn sie sich weigerten. Es würde ihnen jedenfalls sehr schwerfallen. Manchmal konnte der Ruf, völlig unberechenbar zu sein, sehr nützlich sein.

Er atmete tief ein, von Frieden erfüllt. Hier in seinen Träumen waren alle Hügel grün. Wie er sie in Erinnerung hatte. In diesem namenlosen Tal dort unten, das behütet in den Verschleierten Bergen lag, hatte er eine Reise begonnen. Nicht seine erste und nicht seine letzte, aber vielleicht die wichtigste. Auf jeden Fall eine seiner schmerzhaftesten.

»Und jetzt komme ich zurück«, flüsterte er. »Ich habe mich erneut verändert. Ein Mann verändert sich ständig.«

Die Rückkehr an diesen Ort erzeugte in ihm ein Gefühl der Einheit, dieser Ort, an dem er das erste Mal den Mörder in seinem Inneren konfrontiert hatte. Der Ort, an dem er das erste Mal den Versuch unternommen hatte, vor jenen zu fliehen, die er in seiner Nähe hätte behalten sollen. Er schloss die Augen und genoss die Beschaulichkeit. Die Ruhe. Die Harmonie.

In der Ferne hörte er Schmerzensschreie.

Rand schlug die Augen auf. Was war das gewesen? Er stand auf, drehte sich um. Dieser Ort war aus seinem eigenen Verstand entstanden, war geschützt und sicher. Es war unmöglich…

Wieder ertönte ein Schrei. In der Ferne. Stirnrunzelnd hob er die Hand. Die Umgebung um ihn herum verschwand, löste sich in Nebel auf. Er stand in Finsternis.

Da, dachte er. Er befand sich in einem langen Korridor mit dunkler Holztäfelung. Er setzte sich in Bewegung, seine Stiefel polterten laut. Diese Schreie. Sie erschütterten seinen Frieden. Da litt jemand Schmerzen. Er wurde gebraucht.

Rand fing an zu laufen. Er kam zu einer Tür am Ende des Korridors. Das rostbraune Holz war knorrig und voller Vorwölbungen, wie die dicken Wurzeln eines uralten Baumes. Rand griff nach der Klinke – ebenfalls eine Wurzel – und riss die Tür auf.

Unverfälschte Schwärze erfüllte den dahinter liegenden Raum, lichtlos, wie in einer Höhle tief unter der Erde. Der Raum schien das Licht aufzusaugen und zu vernichten. Die schreiende Stimme kam von hier. Sie war schwach, als würde die Dunkelheit sie ersticken.

Rand trat ein. Die Dunkelheit verschluckte ihn. Sie schien ihm das Leben auszusaugen, wie hundert Blutegel, die ihm das Blut aus den Adern saugten. Er ging trotzdem weiter. Er konnte die Richtung nicht erkennen, aus der die Schreie kamen, also tastete er sich an der Wand entlang; sie fühlte sich wie Knochen an, glatt, aber mit gelegentlichen Sprüngen versehen.

Der Raum war rund. Als stünde er im Inneren eines gewaltigen Schädels.

Da! Schwacher Lichtschein erschien voraus, eine einzelne Kerze, die einen schwarzen Marmorboden beleuchtete. Er eilte darauf zu. Ja, da war eine Gestalt. Sie kauerte an der knochenweißen Wand. Es war eine Frau mit silbrigem Haar, die nur ein dünnes weißes Unterhemd trug.

Sie schluchzte jetzt, zitterte und bebte am ganzen Körper. Er kniete neben ihr nieder, und die Bewegung ließ die Kerze flackern. Wie war diese Frau in seinen Traum gekommen? Existierte sie in der Realität, oder war sie ein Produkt seiner Einbildungskraft? Er berührte sie an der Schulter.

Sie schaute ihn mit roten Augen an, ihr Gesicht war eine Maske der Qual, Tränen tropften ihr vom Kinn. »Bitte«, flehte sie. »Bitte. Er hat mich.«

»Wer bist du?«

»Du kennst mich«, flüsterte sie, ergriff seine Hand, klammerte sich daran fest. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Er hat mich. Jeden Abend peitscht er meine Seele wieder aus. Oh, bitte! Es soll aufhören.« Die Tränen strömten nun schneller.

»Ich kenne dich nicht«, sagte Rand. »Ich …«

Diese Augen. Diese wunderschönen, schrecklichen Augen. Er keuchte auf, ließ ihre Hand los. Das Gesicht war anders. Aber diese Seele war ihm bekannt. »Mierin? Du bist tot. Ich sah dich sterben!«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich wäre tot. Ich wünschte es. Bitte! Er zermahlt meine Knochen und zerbricht sie wie Zweige, dann lässt er mich sterbend zurück, bevor er mich gerade genug Heilt, um mich am Leben zu erhalten. Er …« Sie unterbrach sich, zuckte.

»Was?«

Sie riss die Augen weit auf und fuhr zur Wand herum. »Nein!«, schrie sie. »Er kommt! Der Schatten im Geist eines jeden Mannes, der Mörder der Wahrheit. Nein!« Sie griff wieder nach Rand, aber etwas zog sie mit einem Ruck nach hinten. Die Wand zerbrach, und sie fiel in die Dunkelheit.

Rand machte einen Satz nach vorn, griff nach ihr, aber er kam zu spät. Er sah noch einen Schimmer von ihr, bevor sie unter ihm in der Dunkelheit verschwand.

Er starrte in die Grube. Er suchte nach Ruhe, konnte sie aber nicht finden. Stattdessen fühlte er Hass, Sorge und Verlangen, das sich einer zischenden Natter gleich in ihm erhob. Das war Mierin Eronaile gewesen, eine Frau, die er einst Lady Selene genannt hatte.

Eine Frau, die die meisten Leute bei dem Namen kannten, den sie selbst angenommen hatte.

Lanfear.


Ein bösartiger trockener Wind blies Lan ins Gesicht, als er die von der Fäule verdorbene Landschaft betrachtete. DerTarwin-Pass war ein breiter und steiniger Durchgang, gesprenkelt mit von der Fäulnis befallenem Messergras. Das hier war einst ein Teil von Malkier gewesen. Er war wieder zu Hause. Das letzte Mal.

Auf der anderen Passseite drängten sich Horden von Trollocs. Tausende. Zehntausende. Möglicherweise sogar Hunderttausende. Leicht zehnmal so viel wie die Männer, die Lan während seines Marsches durch die Grenzlande aufgesammelt hatte. Normalerweise blieben Menschen auf ihrer Seite des Passes, aber das konnte Lan nicht tun.

Er war gekommen, um anzugreifen, um für Malkier zu reiten. Links neben ihm ritt Andere heran, der junge Kaisei von Kandor kam von rechts. Da war ein Gefühl aus weiter Ferne, das ihm in letzter Zeit Kraft gegeben hatte. Der Bund hatte sich verändert. Die Gefühle hatten sich verändert.

Er konnte Nynaeve noch immer im Hinterkopf fühlen, so wunderbar, mitfühlend und leidenschaftlich. Das Wissen, dass sein Tod ihr Leid bringen würde, hätte ihn quälen müssen. Stattdessen verlieh ihm diese Nähe zu ihr Kraft – diese letzte Nähe.

Der heiße Wind erschien zu trocken; er roch nach Staub und Dreck und zog ihm die Flüssigkeit aus den Augen, ließ ihn blinzeln.

»Ist doch passend«, sagte Kaisei. »Was?«, fragte Lan. »Dass wir hier zuschlagen sollen.« »Ja«, sagte Lan.

»Vielleicht«, bemerkte Kaisei. »Aber es ist kühn. Es zeigt dem Schatten, dass wir uns nicht geschlagen geben, dass wir uns nicht zusammenkauern. Das ist Euer Land, Lord Mandragoran. «

Mein Land, dachte er. Ja, das war es. Er trieb Mandarb an.

»Ich bin a’Lan Mandragoran«, brüllte er. »Herr der Sieben Türme, Verteidiger des Walls der Ersten Feuer, Träger des Schwertes der Tausend Seen! Einst nannte man mich Aan allein, aber ich weise diesen Titel zurück, denn ich bin nicht länger allein. Fürchte mich, Schatten! Fürchte mich und wisse! Ich bin zurückgekehrt, um mir zu holen, was mir gehört. Vielleicht bin ich ein König ohne Land. Aber ich bin noch immer ein König!«

Brüllend hob er das Schwert. Hinter ihm ertönte Jubel. Er schickte ein letztes, mächtiges Gefühl der Liebe an Nynaeve und trieb Mandarb zum Galopp an.

Hinter ihm folgte seine Armee seinem Beispiel, jeder Mann zu Pferd – Kandori, Arafeler, Schienarer und Saldaeaner. Aber vor allem Malkieri. Es hätte Lan nicht überrascht, hätte er jeden lebenden Mann seines einstigen Königreichs angezogen, der noch eine Waffe halten konnte.

Jubelnd ritten sie, schwenkten Schwerter und senkten Lanzen. Ihre Hufe waren wie Donner, ihre Stimmen wie Wellen, die ans Ufer brandeten, ihr Stolz stärker als die sengende Sonne. Sie waren zwölftausend. Und sie griffen eine Streitmacht von mindestens einhundertfünfzigtausend an.

Dieser Tag wird in ehrenvoller Erinnerung bleiben, dachte Lan und preschte vorwärts. Der Letzte Sturm des Goldenen Kranichs. Der Fall der Malkieri.

Das Ende war da. Sie würden ihm mit erhobenen Schwertern begegnen.

So höret denn, für die Welt wird der Augenblick kommen, in dem das Gefängnis des Allerhöchsten so schwach wird wie die Glieder derer, die es erschufen. Wieder wird Sein glorreicher Mantel das Muster aller Dinge ersticken, und der Große Herr wird Seine Hand ausstrecken, um das zu fordern, was Ihm gehört. Die rebellischen Nationen sollen verheert werden, ihre Kinder Anlass zu Tränen haben. Es wird niemanden außer Ihm geben, und jenen, die ihre Augen Seiner Majestät zuwandten.


An jenem Tag, an dem der Einäugige Narr die Säle der Trauer bereist und der Ersfe unter dem Ungeziefer seine Hand hebt, um Ihm der zerstören wird die Freiheit zu bringen, brechen die letzten Tage für den Stolz des Gefallenen Schmiedes an. Ja, und der Gebrochene Wolf, der, der den Tod kannte, soll fallen und von den Türmen der Mitternacht verschlungen werden. Und seine Vernichtung soll Furcht und Trauer in die Herzen der Menschen tragen und ihren Willen erschüttern.


Und dann kommt der Herr des Abends. Und er wird unsere Augen nehmen, denn unsere Seelen werden sich vor Ihm verbeugen, und Er wird unsere Haut nehmen, denn unser Fleisch wird Ihm dienen, und Er wird unsere Lippen nehmen, denn nur Ihn werden wir preisen. Und der Herr des Abends wird dem Gebrochenen Helden gegenübertreten und sein Blut vergießen und uns die so wunderschöne Dunkelheit bringen. Lasst die Schreie beginnen, O ihr Anhänger des Schattens. Bettelt um eure Vernichtung!

Aus Die Prophezeiungen des Schatten

Загрузка...