35 Die richtige Entscheidung

Ihr versteht, was Ihr zu tun habt?«, wollte Egwene wissen und schlug den Weg zu ihren Gemächern in der Weißen Burg ein. Siuan nickte.

»Wenn sie auftauchen, lasst Ihr Euch nicht in einen Kampf verwickeln.«

»Wir sind keine Kinder, Mutter«, sagte Siuan trocken.

»Nein, Ihr seid Aes Sedai – fast genauso schlimm darin, Befehle zu befolgen.«

Siuan warf ihr einen schwer zu deutenden Blick zu, und Egwene bereute ihre Worte. Das war unangebracht gewesen; sie war nervös. Sie zwang sich zur Ruhe.

Bis jetzt hatte sie Mesaana mit mehreren verschiedenen Ködern herauslocken wollen, aber sie war nicht einmal in die Nähe gekommen. Egwene hätte geschworen, förmlich fühlen zu können, wie die Frau sie in Tel’aran’rhiod beobachtete. Yukiri und ihre Gruppe kamen nicht weiter.

Ihre beste Hoffnung war das für diese Nacht angesetzte Treffen. Es musste sie anlocken. Egwene lief die Zeit davon – die von ihr überredeten Monarchen begaben sich bereits auf die Reise, und Rands Streitkräfte sammelten sich.

Heute Nacht. Es musste heute Nacht geschehen.

»Geht«, sagte Egwene. »Sprecht mit den anderen. Ich will nicht, dass irgendwelche albernen Fehler vorkommen.«

»Ja, Mutter«, grummelte Siuan und wandte sich ab.

»Und … Siuan«, rief Egwene ihr hinterher.

Die ehemalige Amyrlin zögerte.

»Achtet heute Nacht auf Eure Sicherheit«, sagte Egwene. »Ich möchte Euch nicht verlieren.«

Siuan hatte für solche Besorgnis meistens nur barsche Bemerkungen übrig, aber an diesem Abend lächelte sie. Egwene schüttelte den Kopf und eilte weiter zu ihren Gemächern, wo Silviana bereits wartete.

»Gawyn?«, fragte Egwene.

»Nichts Neues«, erwiderte Silviana. »Ich habe heute Nachmittag einen Boten geschickt, aber der Bote ist nicht zurückgekehrt. Ich vermute, dass Gawyn seine Antwort verzögert, um schwierig zu sein.«

»Er ist einfach nur stur«, sagte Egwene. Ohne ihn fühlte sie sich schutzlos. Das war überraschend, da sie ihm ausdrücklich befohlen hatte, sich von ihrer Tür fernzuhalten. Jetzt machte sie sich Sorgen, weil er nicht da war?

»Verdoppelt meine Wächter, und sorgt dafür, dass in der Nähe Soldaten stationiert sind. Wenn meine Schutzgewebe ausgelöst werden, machen sie Lärm.«

»Ja, Mutter«, sagte Silviana.

»Und schickt Gawyn einen weiteren Boten. Mit einem höflicher formulierten Brief. Bittet ihn zurückzukehren; befehlt es ihm nicht.« Egwene kannte Silvianas Meinung über Gawyn und war davon überzeugt, dass der erste Brief bestenfalls brüsk gewesen war.

Und damit holte Egwene tief Luft, betrat ihre Räume, überprüfte ihre Schutzgewebe und machte sich zum Schlafen bereit.


Ich sollte mich nicht so erschöpft fühlen, dachte Perrin, als er aus Trabers Sattel stieg. Ich habe doch bloß geredet.

Das Verfahren lastete schwer auf ihm. Es schien auf dem ganzen Heer zu lasten. Perrin betrachtete die Männer, als sie zurück ins Lager geritten kamen. Morgase war da, allein. Faile hatte sie den ganzen Rückweg lang gemustert und nach Wut gerochen, dabei aber kein Wort gesagt. Alliandre und Berelain hatten Distanz gehalten.

Morgase hatte ihn verurteilt, aber das war ihm eigentlich egal. Er hatte die Weißmäntel abgewehrt; jetzt musste er seine Leute in Sicherheit bringen. Morgase ritt durch das Lager und suchte Lini und Meister Gill. Sie waren unversehrt eingetroffen, zusammen mit all den anderen Gefangenen, genau wie Galad Damodred versprochen hatte. Überraschenderweise hatte er ihnen auch sämtliche Karren und Vorräte geschickt.

Das Gerichtsverfahren war also ein Sieg. Seine Männer schienen das nicht so zu sehen. Die Soldaten teilten sich in Gruppen auf, als sie ins Lager geschlichen kamen. Es wurde nur wenig gesprochen.

Gaul schüttelte den Kopf. »Zwei Silberpunkte«, sagte er.

»Was?«, fragte Perrin und übergab Traber an einen Pferdeknecht.

»Ein Sprichwort«, sagte Gaul und schaute zum Himmel hinauf. »Zwei Silberpunkte. Zweimal sind wir in die Schlacht geritten und haben keinen Feind vorgefunden. Noch einmal, und wir verlieren Ehre.«

»Es ist besser, keinen Feind zu finden, Gaul«, sagte Perrin. »Es ist besser, wenn kein Blut vergossen wird.«

Gaul lachte. »Ich sage ja nicht, dass ich den Traum beenden will, Perrin Aybara. Aber sieh dir deine Männer an. Sie können fühlen, was ich sage. Du solltest den Tanz der Speere nicht sinnlos tanzen, aber du solltest auch nicht zu oft verlangen, dass sich die Männer aufs Töten vorbereiten und ihnen dann niemand zu bekämpfen geben.«

»Ich tue das, so oft es mir gefällt«, knurrte Perrin, »wenn man dadurch eine Schlacht vermeiden kann. Ich …«

Pferdehufe trommelten auf den Boden, und der Wind trug ihm Failes Duft heran, als er sich zu ihr umdrehte.

»Eine Schlacht wurde in der Tat vermieden, Perrin Aybara «, sagte Gaul,» und zu einer anderen aufgefordert. Mögest du Wasser und Schatten finden.« Er lief los, als Faile abstieg.

Perrin holte tief Luft.

»Also gut, mein Gemahl«, sagte sie und kam auf ihn zu.

»Du wirst mir jetzt erklären, was du dir dabei gedacht hast. Du lässt ihn das Urteil über dich fällen? Du hast versprochen, dich ihm auszuliefern? Ich hatte nicht den Eindruck, einen Narren geheiratet zu haben!«

»Ich bin kein Narr, Frau«, brüllte er zurück. »Du sagst mir doch immer, dass ich führen muss. Nun, heute bin ich deinem Rat gefolgt!«

»Du bist ihm gefolgt und hast die falsche Entscheidung getroffen.«

» Eine richtige Entscheidung gab es nicht!«

»Wir hätten gegen sie kämpfen können!«

»Sie wollen in der Letzten Schlacht kämpfen«, sagte Perrin. »Jeder Weißmantel, den wir töten, wäre ein Mann weniger im Kampf gegen den Dunklen König. Ich, meine Männer, die Weißmäntel – verglichen mit dem, was auf uns zukommt, ist keiner von uns wichtig! Sie mussten leben, genau wie wir. Und das war die einzige Möglichkeit!«

Beim Licht, sie anzubrüllen fühlte sich so verkehrt an. Aber es besänftigte ihr Temperament. Erstaunlicherweise fingen die umstehenden Soldaten an zu nicken, als hätten sie die Wahrheit nicht erkennen können, bevor er sie herausgebrüllt hatte.

»Ich will, dass du das Kommando über den Rückzug übernimmt«, sagte Perrin zu Faile. »Die Falle ist noch nicht zugeschnappt, aber ich werde jede Minute unruhiger. Etwas beobachtet uns; sie haben uns unsere Wegetore weggenommen, und sie wollen uns tot sehen. Jetzt wissen sie, dass wir nicht gegen die Weißmäntel kämpfen werden, was bedeutet, dass sie bald angreifen. Vielleicht heute Abend; wenn wir Glück haben, warten sie bis morgen früh.«

»Diese Diskussion ist noch nicht zu Ende«, warnte sie.

»Was erledigt ist, ist erledigt, Faile. Sieh nach vorn.«

»Also gut.« Sie roch noch immer wütend, in ihren wunderschönen dunklen Augen lag ein wilder Blick, aber sie beherrschte sich.

»Ich begebe mich in den Wolfstraum«, sagte Perrin und warf einen Blick zum Lagerrand, wo ihr Zelt stand. » Entweder zerstöre ich diese Kuppel, oder ich finde eine Möglichkeit, den Schlächter dazu zu zwingen, mir zu verraten, wie das Reisen wieder funktioniert. Bereite die Leute auf den Abmarsch vor, und die Asha’man sollen immer wieder bis hundert zählen und dann versuchen, ein Wegetor zu öffnen. In dem Augenblick, in dem es funktioniert, schaffst du die Leute hier weg.«

»Wohin?«, fragte Faile. »Jehannah?«

Perrin schüttelte den Kopf. »Zu nahe. Der Feind könnte es beobachten. Andor. Bring sie nach Caemlyn. Das heißt, nein. Weißbrücke. Bleiben wir allen Orten fern, die sie vielleicht erwarten. Außerdem will ich nicht mit einem Heer auf Elaynes Türschwelle auftauchen, bevor ich sie vorgewarnt habe.«

»Ein guter Plan«, sagte Faile. »Wenn du einen Angriff befürchtest, sollten wir zuerst den Tross herausschaffen, statt die Soldaten durchzuschleusen und uns ungeschützt zurückzulassen.«

Perrin nickte. »Aber fang an, sobald die Wegetore wieder funktionieren.«

»Und wenn du es nicht schaffst?« Faile hatte angefangen, entschlossen zu klingen. Ängstlich, aber entschlossen.

»Habe ich die Wegetore nicht in einer Stunde wiederhergestellt, fang an, sie zu der Grenze marschieren zu lassen, hinter der Neald Tore machen kann. Ich glaube nicht, dass es klappt; ich glaube, der Schlächter wird einfach die Kuppel verschieben und uns darunter festhalten. Aber es wäre ein Anfang.«

Faile nickte, aber ihr Geruch wurde zögerlich. »Es wird uns auf den Weg bringen, statt im Lager festzusitzen. Viel einfacher, uns so zu überfallen.«

»Ich weiß«, sagte Perrin. »Darum darf ich nicht scheitern.«

Sie nahm ihn in die Arme und legte den Kopf an seine Brust. Sie roch so wunderbar. Wie Faile. Das war seine Definition von wunderbar. »Du sagtest, er ist stärker als du«, flüsterte sie.

»Das ist er.«

»Kann ich etwas tun, um dir dabei zu helfen?«, fragte sie leise.

»Wenn du auf sie aufpasst, während ich weg bin, dann hilft das.«

»Was passiert, wenn er dich dort tötet?«

Perrin antwortete nicht.

» Es gibt keinen anderen Weg?«

Er löste sich von ihr. »Faile, ich bin mir ziemlich sicher, dass er Lord Luc ist. Sie riechen anders, aber sie haben auch eine gewisse Ähnlichkeit. Und als ich den Schlächter damals im Wolfstraum verletzte, hatte Luc dieselbe Verletzung.«

»Soll ich mich darum jetzt besser fühlen?«, fragte sie und verzog das Gesicht.

»Alles kommt wieder zurück. Wir sind in Maiden fertig und stoßen einen Steinwurf weiter auf die Reste der Weißmäntel, bei denen Byar und Bornhaid sind. Der Schlächter erscheint wieder im Wolfstraum. Der Mann, von dem ich dir erzählte, Noam, der in dem Käfig. Weißt du noch, wo ich ihn fand?«

»Du sagtest, du hättest Rand verfolgt. Durch …«

»Ghealdan«, sagte Perrin. »Es geschah keinen Wochenritt von hier.«

»Ein seltsamer Zufall, sicher, aber …«

»Keine Zufälle, Faile. Nicht bei mir. Ich bin aus einem bestimmten Grund hier. Er ist aus einem bestimmten Grund hier. Ich muss mich dem stellen.«

Sie nickte. Er wandte sich ihrem Zelt zu, und ihre Hände lösten sich voneinander. Die Weisen Frauen hatten ihm einen Tee gegeben, der ihn schlafen lassen würde, damit er den Wolfstraum betreten konnte.

Es war Zeit.


»Wie konntet Ihr ihn nur gehen lassen?«, sagte Byar, die Finger um den Schwertknauf verkrampft, während der weiße Umhang hinter ihm herflatterte. Er, Bornhaid und Galad schritten durch die Lagermitte.

»Ich tat, was richtig war«, erwiderte Galad.

»Ihn gehen zu lassen war nicht richtig!«, sagte Byar. »Ihr könnt doch nicht glauben …«

»Kind Byar«, sagte Galad leise, »ich finde Euer Verhalten zusehends aufsässig. Das bereitet mir Sorge. Es sollte Euch auch Sorgen bereiten.«

Byar schwieg, aber Galad entging nicht, dass es ihm außerordentlich schwerfiel, den Mund zu halten. Bornhaid ging schweigend hinter ihm und sah sehr aufgebracht aus.

»Ich glaube, dass sich Aybara an seinen Schwur halten wird«, sagte Galad. »Und wenn er es nicht tut, habe ich die legale Befugnis, ihn zu jagen und die Strafe zu vollstrecken. Es ist nicht ideal, aber seine Worte hatten etwas für sich. Ich glaube tatsächlich, dass die Letzte Schlacht kommt, und wenn es sich so verhält, dann ist es Zeit, sich gegen den Schatten zu vereinigen.«

»Mein Kommandierender Lordhauptmann«, sagte Byar und brachte seinen Tonfall unter Kontrolle, »bei allem Respekt, dieser Mann gehört zum Schatten. Er wird nicht an unserer Seite kämpfen, sondern gegen uns.«

»Sollte das so sein, haben wir immer noch Gelegenheit, ihm auf dem Schlachtfeld gegenüberzustehen«, sagte Galad. »Ich habe meine Entscheidung getroffen, Kind Byar.« Kind Harnesh kam heran und salutierte. »Kind Harnesh, brecht das Lager ab.«

»Mein Kommandierender Lordhauptmann? So spät am Tag?«

»Ja. Wir marschieren bis spät in der Nacht und sehen zu, etwas Abstand zu Aybara zu gewinnen, nur für alle Fälle. Lasst Späher zurück, vergewissert Euch, dass er uns nicht folgt. Wir brechen nach Lugard auf. Dort können wir rekrutieren und uns neu versorgen, dann geht es weiter nach Andor. «

»Ja, mein Kommandierender Lordhauptmann!«, sagte Harnesh.

Galad wandte sich wieder Byar zu, nachdem Harnesh weg war. Der hagere Mann salutierte, ein gefährlich aufrührerisches Funkeln in den tiefliegenden Augen, dann stolzierte er davon. Galad blieb zwischen weißen Zelten auf dem Feld stehen, verschränkte die Hände auf dem Rücken und sah zu, wie Boten seine Befehle im Lager verbreiteten.

»Ihr seid so still, Kind Bornhaid«, sagte er dann. »Seid Ihr genauso unzufrieden mit meinen Entscheidungen wie Kind Byar?«

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Bornhaid. »Seit einer Ewigkeit glaubte ich, Aybara hätte meinen Vater getötet. Aber wenn man sich Jarets Verhalten ansieht, seine Darstellungen … Es gibt keine Beweise. Es macht mich rasend, das zuzugeben, Galad, aber ich habe keine Beweise. Aber er hat Lathin und Yamwick getötet. Er hat Kinder getötet, also ist er ein Schattenfreund.«

»Ich tötete ebenfalls eines der Kinder«, erinnerte ihn Galad. »Und wurde dafür als Schattenfreund bezeichnet.«

»Das war etwas anderes.« Etwas schien Bornhaid zu beschäftigen, etwas, das er für sich behielt.

»Nun, das stimmt«, sagte Galad. »Ich bin keineswegs der Ansicht, dass man Aybara ungeschoren davonkommen lassen sollte, aber die Geschehnisse dieses Tages haben in mir eine seltsame Unruhe erzeugt.«

Er schüttelte den Kopf. Antworten zu finden sollte leicht sein. Ihm fiel immer das Richtige ein. Aber jedes Mal, wenn er glaubte, den richtigen Weg gefunden zu haben, wie man mit Aybara verfahren sollte, überfielen ihn nagende Zweifel.

Das Leben ist nicht so einfach wie der Wurf einer Münze, hatte seine Mutter gesagt. Die eine Seite oder die andere… deine einfachen Illusionen…

Er mochte das Gefühl nicht. Nicht im Mindesten.


Perrin atmete tief ein. Im Wolfstraum blühten Blumen, auch wenn der Himmel silbern, schwarz und golden wütete. Die Düfte passten so gar nicht zusammen. Backender Kirschkuchen. Pferdedung. Öl und Fett. Seife. Ein Holzfeuer. Arrath. Thymian. Katzenminze. Hundert andere Kräuter, die er nicht benennen konnte.

Nur wenige passten auf die Lichtung, auf der er erschienen war. Er hatte dafür gesorgt, nicht dort zu erscheinen, wo sich sein Lager im Wolfstraum befand; das hätte ihn zu sehr in die Nähe des Schlächters gebracht.

Die Gerüche waren flüchtig. Verschwanden zu schnell, als hätte es sie in Wirklichkeit nie gegeben.

Springer, rief er.

Ich bin hier, Junger Bulle. Der Wolf tauchte neben ihm auf. »Es riecht seltsam.«

Gerüche vermischen sich. Wie die Fluten tausender Ströme. Das ist nicht natürlich. Das ist nicht gut. Dieser Ort bricht auseinander.

Perrin nickte. Er versetzte sich und stand knietief in braunen Spitzkletten direkt vor der violetten Kuppel. Springer erschien zu seiner Rechten; die Pflanzen raschelten, als er sich durch sie hindurchschob.

Die Kuppel erhob sich unheilverkündend und unnatürlich. Wind kam auf, zupfte an den Pflanzen und schüttelte Bäume. Lautlos zuckten Blitze über den Himmel.

Er ist hier. Immerzu.

Perrin nickte. Ob der Schlächter den Wolfstraum auf die gleiche Weise wie er betrat? Und ermüdete ihn die hier verbrachte Zeit auch? Der Mann schien diese Gegend niemals zu verlassen.

Er bewachte etwas. Es musste eine Möglichkeit geben, die Kuppel im Wolfstraum zu vernichten.

Junger Bulle, wir kommen. Das war Eichentänzerin. Ihr mittlerweile nur noch drei Tiere umfassendes Rudel näherte sich. Funke, Grenzenlos und Eichentänzerin. Sie hatten sich entschieden herzukommen, statt sich den nach Norden laufenden Wölfen anzuschließen.

Die drei erschienen hinter Springer. Perrin übermittelte ihnen seine Sorge. Das wird gefährlich. Wölfe könnten sterben.

Ihre Antwort war beharrlich. Der Schlächter muss für seine Taten sterben. Zusammen sind wir stark. Junger Bulle sollte ein so gefährliches Wild nicht allein jagen.

Er nickte zustimmend und ließ den Hammer in seiner rechten Hand entstehen. Gemeinsam näherten sie sich der Kuppel. Perrin ging mit langsamen, entschlossenen Schritten hinein. Er weigerte sich, Schwäche zu fühlen. Er war stark. Die Kuppel war nichts anderes als Luft. Er glaubte, dass die Welt so sein würde, wie er sie wünschte.

Er stolperte, aber er schob sich ins Kuppelinnere. Hier fühlte sich die Landschaft irgendwie etwas dunkler an. Die Rinde älterer Bäume war finsterer, die verwelkenden Hundskamillen grüner oder brauner. Springer und das Rudel durchdrangen die Kuppelwand.

Wir gehen zur Mitte, teilte Perrin mit. Wenn es ein Geheimnis zu entdecken gibt, dann vermutlich dort.

Langsam bewegten sie sich durch Baumgruppen und Unterholz. Perrin zwang dem Terrain seinen Willen auf, und die Blätter raschelten nicht länger, und die Pflanzen blieben stumm, wenn er durch sie hindurchstrich. Das war natürlich. So hätten die Dinge sein sollen. So war das.

Zur Mitte würde es ein langer Weg sein, also fing Perrin an, größere Sätze zu machen. Nicht einfach Sprünge oder Schritte; er blieb einfach an einer Stelle stehen und erschien an einem anderen Ort. Er verschleierte seinen Geruch, auch wenn der Schlächter kein Wolf war.

Das ist mein Vorteil geworden, dachte Perrin, als sie sich dem Zentrum immer mehr näherten. Er ist erfahrener als ich. Aber ich trage den Wolf in mir. Dieser Ort ist unser Traum. Er ist ein Eindringling. So geschickt er auch sein mag, er ist keiner von uns.

Und darum werde ich siegen.

Perrin roch etwas; eine zunehmende nicht hierher gehörende Verpestung der Luft. Er und die Wölfe schlichen einen großen Hügel hinauf und spähten durch eine Kluft auf das auf der anderen Seite befindliche Land. Direkt voraus erhob sich eine kleine Gruppe Holunderbäume, vielleicht fünfzig Schritte entfernt. Perrin schaute auf und kam zu dem Schluss, dass das so ziemlich die Kuppelmitte sein musste. Mit der Art der Wölfe hatten sie eine Strecke von mehreren Stunden Marsch in wenigen Minuten zurückgelegt.

Das ist es, sandte Perrin. Er schaute Springer an. Der Wolf hatte seinen Geruch verschleiert, aber mittlerweile kannte er die Wölfe gut genug, um die Sorge zu erkennen, die sich in seinem Blick und durch die Art zeigte, wie er die Vorderbeine ein winziges Stück beugte.

Etwas veränderte sich.

Perrin hörte nichts. Er roch nichts. Aber er fühlte etwas, ein kleines Beben im Boden.

Geht!, sagte er den Wölfen und verschwand. Zehn Schritte weiter tauchte er wieder auf und sah, wie ein Pfeil an der Stelle einschlug, wo er eben noch gestanden hatte. Der Schaft zersplitterte einen großen Stein und grub sich bis zur schwarzen Befiederung in Felsen und Erde.

Der Schlächter erhob sich aus seiner geduckten Stellung und schaute quer über die kurze Distanz offenes Gelände zwischen ihnen zu Perrin herüber. Seine Augen erschienen schwarz, sein kantiges Gesicht im Schatten liegend, der große Körper muskulös und gefährlich. Wie so oft lächelte er. Oder grinste vielmehr höhnisch. Er trug Lederhosen und ein dunkelgrünes Hemd, das die Unterarme frei ließ. In der Hand hielt er seinen gefährlichen Bogen aus dunklem Holz. Einen Köcher trug er nicht; er erschuf die Pfeile dann, wenn er sie brauchte.

Perrin erwiderte seinen Blick und trat wie zur Herausforderung vor. Das reichte als Ablenkung, damit die Wölfe von hinten angreifen konnten.

Der Schlächter brüllte auf und fuhr herum, als Grenzenlos in ihn hineinkrachte. Im nächsten Augenblick war Perrin da und ließ den Hammer nach unten sausen. Der Schlächter verschwand, und Perrin ließ nur Erde aufspritzen, aber er bekam einen Hauch von dem Ziel mit, zu dem der Schlächter unterwegs war.

Hier? Der Geruch gehörte dem Ort, an dem sich Perrin befand. Alarmiert schaute er in die Höhe und entdeckte den Schlächter genau über sich in der Luft schweben und den Bogen spannen.

Der Wind, dachte Perrin. Er ist so stark!

Der Pfeil raste los, aber eine plötzliche Windböe wehte ihn zur Seite. Er bohrte sich direkt neben Perrin in den Boden. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, hob er die Hände, und sein eigener Bogen erschien. Die Sehne bereits gespannt, den Pfeil an Ort und Stelle.

Der Schlächter riss die Augen weit auf, als Perrin schoss. Er verschwand und kam ein kurzes Stück weiter wieder am Boden zum Vorschein – und Springer stürzte sich aus der Höhe auf ihn und riss ihn von den Beinen. Der Schlächter stieß einen gutturalen Fluch aus und verschwand.

Hier! Springers Botschaft zeigte eine Hügelseite.

Mit dem Hammer in der Hand befand sich Perrin im nächsten Augenblick dort, begleitet von seinem Rudel. Der Schlächter hob Schwert und Messer, als Perrin und die vier Wölfe angriffen.

Perrin schlug zuerst zu, schwang aufbrüllend den Hammer. Der Schlächter versank tatsächlich im Boden, als bestünde er aus Flüssigkeit, und entging dem Hieb. Dabei stieß er mit dem Messer zu – und durchbohrte Eichentänzerins Brust und ließ scharlachrotes Blut aufspritzen. Die Klinge raste weiter und fuhr über Funkes Gesicht.

Eichentänzerin konnte nicht einmal mehr aufheulen; sie brach zusammen, und der Schlächter verschwand, während Perrin erneut mit dem Hammer zuschlug. Wimmernd gab Funke Schmerz und Panik von sich und verschwand. Er würde leben. Aber Eichentänzerin war tot.

Wieder hatte der Geruch des Schlächters von diesem Ort gekündet. Perrin schnellte herum und parierte mit dem Hammer das auf ihn zurasende Schwert, das ihn von hinten hatte durchbohren wollen. Wieder schaute der Schlächter überrascht aus. Der Mann bleckte die Zähne, wich zurück, behielt die letzten beiden Wölfe dabei misstrauisch im Auge. Wo Springer ihn gebissen hatte, blutete sein Unterarm.

»Wie erschafft man die Kuppel, Luc?«, fragte Perrin. »Zeig es mir und geh. Ich lasse dich auch gehen.«

»Kühne Worte, Welpe«, fauchte der Schlächter zurück. »Für jemanden, der gerade zugesehen hat, wie ich eines seiner Rudeltiere getötet habe.«

Grenzenlos heulte vor Zorn auf und sprang. Perrin griff im gleichen Moment an, aber der Boden unter ihnen erbebte.

Nein, dachte Perrin. Sein Stand wurde unverrückbar, während Grenzenlos von den Beinen geholt wurde.

Der Schlächter machte einen Ausfall, und Perrin hob den Hammer, um zu parieren – aber die Waffe des Schlächters verwandelte sich in Rauch und passierte ihn, um auf der anderen Seite wieder zu Stahl zu werden. Mit einem Aufschrei versuchte Perrin auszuweichen, aber die Klinge fuhr über seine Brust, schlitzte das Hemd auf und hinterließ einen Schnitt, der von einem Arm zum anderen reichte. Ein greller Schmerz durchzuckte ihn.

Er keuchte auf, taumelte zurück. Der Schlächter setzte nach, aber aus der Höhe stürzte sich etwas auf ihn. Springer. Wieder riss der Wolf den Schlächter knurrend und mit aufblitzenden Fängen zu Boden.

Fluchend trat der Schlächter den Wolf von sich. Springer flog mit einem Wimmern ungefähr zwanzig Fuß durch die Luft. Grenzenlos hatte das Beben des Bodens unter Kontrolle gebracht, aber seine Pfote war verletzt.

Perrin schüttelte den Schmerz ab. Der Schlächter war stark in der Kontrolle dieser Welt. Bei jedem Schwung erschien Perrins Hammer schwerfällig, als wäre die Luft plötzlich dicker geworden.

Der Schlächter hatte gelächelt, als er Eichentänzerin getötet hatte. Wütend setzte sich Perrin in Bewegung. Der Schlächter war wieder auf den Beinen und eilte die Hügelseite hinunter, hielt auf die Bäume zu. Perrin ignorierte seine Verletzung und verfolgte ihn. Sie war nicht gravierend genug, um ihn aufzuhalten, obwohl er sich einen Verband vorstellte und das Hemd flickte und enger an der Brust machte, um den Blutfluss zu stoppen.

Er betrat die Baumgruppe direkt hinter dem Schlächter. Die Äste schlossen sich über seinem Kopf, aus den dunklen Schatten peitschten Schlingpflanzen heran. Perrin machte sich nicht die Mühe, sie abzuwehren. Schlingpflanzen bewegten sich nicht auf diese Weise. Sie konnten ihm nichts anhaben. Und tatsächlich verdorrten sie, sobald sie in seine Nähe kamen.

Der Schlächter fluchte und bewegte sich so schnell, dass er nur noch schemenhaft zu sehen war. Perrin folgte ihm und vergrößerte seine Geschwindigkeit.

Es war keine bewusste Entscheidung, sich auf alle viere fallen zu lassen, aber einen Herzschlag später jagte er den Schlächter wie zuvor den weißen Hirschbock.

Der Schlächter war schnell, aber er war bloß ein Mann. Junger Bulle war ein Teil des Landes, der Bäume, der Büsche, der Steine, der Flüsse. Er bewegte sich durch den Wald wie eine Brise über eine Lichtung und hielt nicht nur mit dem Schlächter mit, sondern näherte sich ihm. Jeder Zweig auf dem Weg des Schlächters war ein Hindernis, aber für Junger Bulle waren sie bloß ein natürlicher Teil des Weges.

Junger Bulle sprang zur Seite, stieß sich mit den Pfoten an den Baumstämmen ab. Er flog über Steine und Felsen, sprang vom einen zum nächsten, zeichnete einen verschwommenen Umriss in die Luft.

Zum ersten Mal roch der Schlächter ängstlich. Er verschwand, aber Junger Bulle folgte ihm und erschien auf dem Feld, auf dem das Heer im Schatten des riesigen Steinschwertes lagerte. Der Schlächter schaute über die Schulter, fluchte und verschwand erneut.

Junger Bulle folgte ihm. Zu dem Ort, an dem die Weißmäntel lagerten.

Auf ein kleines Plateau.

Eine Höhle in einem Hügel.

Zur Mitte eines kleinen Sees. Junger Bulle rannte mühelos über die Wellen.

Er folgte dem Schlächter an jeden Ort, den er besuchte, und jeden Moment kam er näher. Es war keine Zeit für Schwerter, Hämmer oder Bogen. Das war eine Verfolgungsjagd, und dieses Mal war Junger Bulle der Jäger. Er …

Er sprang mitten auf ein Feld, und der Schlächter war nicht da. Aber er roch, wo der Mann hin war. Er folgte ihm und erschien auf einer anderen Stelle desselben Feldes. Überall roch es nach Orten. Was?

Perrin hielt an, und seine Stiefel bohrten sich in den Boden. Verwirrt drehte er sich um die eigene Achse. Der Schlächter musste auf diesem Feld blitzschnell von einer Stelle zur anderen gesprungen sein und seine Spur verwischt haben. Perrin versuchte sich zu entscheiden, welcher er folgen sollte, aber sie alle verblichen und vermischten sich miteinander.

»Soll er doch zu Asche verbrennen!«, rief er aus.

Junger Bulle! Das war Funke. Der Wolf war verletzt worden, aber er war nicht geflohen, wie Perrin angenommen hatte. Er übermittelte das Bild eines dünnen silbernen Gegenstandes von zwei Handspannen Länge, der wie ein Nagel mitten in einem Büschel Hundskamillen aus dem Boden ragte.

Perrin lächelte und versetzte sich an die Stelle. Der noch immer blutende verletzte Wolf lag neben dem Gegenstand. Es war offensichtlich eine Art Ter’angreal. Es schien aus Dutzenden drahtähnlichen Eisenfäden zu bestehen, die man wie einen Zopf miteinander verflochten hatte. Etwa zwei Handspannen lang war es mit der Spitze zuerst in den weichen Boden getrieben worden.

Perrin zog es heraus. Die Kuppel verschwand nicht. Er drehte den Nagel in der Hand herum, hatte aber nicht die geringste Idee, wie er die Kuppel zerstören sollte. Mit Willenskraft veranlasste er seinen Fund, sich in etwas anderes zu verwandeln, einen Stock, aber zu seiner Überraschung wehrte der Gegenstand ihn ab. Er schien seinen Verstand in der Tat wegzudrücken.

Er befindet sich real hier, übermittelte Funke. Die Botschaft schien etwas erklären zu wollen, dass dieser Gegenstand irgendwie realer als die meisten Dinge in der Traumwelt war.

Perrin hatte keine Zeit, sich lange darüber Gedanken zu machen. Sein dringlichstes Ziel bestand darin, falls möglich die Kuppel zu bewegen, fort von der Stelle, an der seine Leute lagerten. Er versetzte sich an den Ort, an dem er die Kuppel betreten hatte.

Wie erhofft bewegte sich der Mittelpunkt der Kuppel mit ihm. Er befand sich jetzt dort, wo er sie betreten hatte, aber die Wand hatte ihre Position verändert; die genaue Mitte der Kuppel entsprach nun Perrins neuem Standort. Noch immer dominierte sie den Himmel und erstreckte sich weit in jede Richtung.

Junger Bulle, übermittelte Funke. Ich bin frei. Das Übel ist verschwunden.

Geh, antwortete Perrin. Ich lasse diesen Gegenstand irgendwie verschwinden. Jeder von euch soll in eine andere Richtung gehen und heulen. Verwirrt den Schlächter.

Die Wölfe reagierten. Ein Teil von Perrin, der Jäger in ihm, war enttäuscht, dass er den Schlächter nicht hatte besiegen können. Aber das hier war wichtiger.

Er versuchte, sich an einen fernen Ort zu versetzen, aber das funktionierte nicht. Anscheinend unterlag er noch immer den Regeln der Kuppel, obwohl er das Ter’angreal in der Hand hielt.

Also versetzte er sich, so weit es ging. Neald hatte etwas von vier Wegstunden vom Lager bis zur Grenze gesagt, also begab sich Perrin so weit nach Norden und wiederholte das dann mehrmals. Die gewaltige Kuppel bewegte sich mit ihm; ihr Mittelpunkt schien sich immer genau über seinem Kopf zu befinden.

Er würde das Artefakt an einen sicheren Ort bringen, einen Ort, an dem es der Schlächter niemals finden würde.

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