PROLOG Unterschiede

Mandarbs Hufe trommelten einen vertrauten Rhythmus auf den unwegsamen Boden, als Lan Mandragoren seinem Tod entgegentritt. Die heiße Luft trocknete seinen Hals aus; die Erde war mit aus der Höhe gefallenen Salzkristallen weiß gesprenkelt. Im Norden erhoben sich in der Ferne rote Felsformationen, die von der Fäulnis befleckt wurden. Zeichen der Großen Fäule, sich langsam ausbreitende dunkle Ranken.

Er ritt weiter nach Osten, immer parallel zur Fäule. Das hier war noch immer Saldaea, wo ihn seine Frau abgesetzt und damit ihr Versprechen, ihn in die Grenzlande zu bringen, so gerade eben noch eingehalten hatte. Dieser Weg erstreckte sich nun schon lange Zeit vor ihm. Vor zwanzig Jahren hatte er ihm den Rücken gekehrt, als er einwilligte, Moiraine zu folgen, aber tief in seinem Inneren hatte er immer gewusst, dass er zurückkommen würde. Das bedeutete es, den Namen seiner Väter zu tragen sowie das Schwert an seiner Hüfte und den Hadori auf dem Haupt.

Diese felsige Gegend im nördlichen Saldaea war unter dem Namen Proskaebenen bekannt. Für einen Ritt war es ein grimmiger Ort; hier wuchs nicht eine Pflanze. Der Wind wehte aus Norden und trug einen fauligen Gestank herbei. Wie von einem tiefen brütenden Sumpf voller aufgedunsener Leichen. Der Himmel war stürmisch und finster.

Diese Frau, dachte Lan kopfschüttelnd. Wie schnell hatte Nynaeve doch gelernt, wie eine Aes Sedai zu reden und zu denken. In den Tod zu reiten bereitete ihm keine Qualen, aber das Wissen, dass sie Angst um ihn hatte… das schmerzte. Sogar sehr.

Schon seit Tagen hatte er keinen Menschen mehr gesehen. Die Saldaeaner hatten Festungen im Süden, aber das Land hier war von zerklüfteten Schluchten vernarbt, die Trolloc-Angriffe erschwerten; sie zogen es vor, in der Nähe von Maradon anzugreifen.

Dennoch bestand nicht der geringste Grund zur Nachlässigkeit. In dieser Nähe zur Fäule durfte man sich niemals entspannen. Ihm fiel ein Hügel ins Auge; ein guter Ort für einen Späherposten. Er hielt nach den geringsten Bewegungen Ausschau. Dann ritt er durch eine Bodensenke, nur für den Fall, dass dort jemand im Hinterhalt lauerte. Die Hand hielt er am Bogen. Ein Stück weiter im Osten würde er nach Saldaea hineinreiten und Kandor auf seinen guten Straßen durchqueren. Dann…

In der Nähe rollten ein paar Steinchen einen Hang hinunter.

Lan zog langsam einen Pfeil aus dem Köcher an Mandarbs Sattel. Wo war der Laut hergekommen? Von rechts, entschied er. Südlich. Der Hügel dort; jemand kam dahinter hervor.

Lan zügelte Mandarb nicht. Wenn sich der Hufschlag veränderte, war das nur eine Warnung. Er hob den Bogen und fühlte den Schweiß seiner Finger in den Hirschlederhandschuhen. Er hakte den Pfeil in die Sehne und spannte sie in aller Ruhe, zog ihn bis zur Wange und atmete seinen Duft ein. Gänsefedern, Harz.

Eine Gestalt kam um die südliche Hügelseite. Der Mann erstarrte, das alte Lastpferd mit der zotteligen Mähne an seiner Seite ging weiter. Es blieb erst stehen, als sich das Seil um seinen Hals spannte.

Der Mann trug ein braunes, mit Schnüren geschlossenes Hemd und staubige Hosen. An der Taille baumelte ein Schwert, und seine Arme waren dick und stark, aber er sah nicht bedrohlich aus. Tatsächlich erschien er sogar irgendwie vertraut.

»Lan Mandragoran!«, rief der Mann und eilte los, zerrte das Pferd hinter sich her. »Endlich habe ich Euch gefunden. Ich hatte angenommen, Ihr reist auf der Kremerstraße!«

Lan senkte den Bogen und brachte Mandarb zum Stehen. » Kenne ich Euch?«

»Ich habe Vorräte gebracht, mein Lord!« Der Mann hatte schwarze Haare und war gebräunt. Vermutlich ein Grenzländer. Übereifrig eilte er weiter und zerrte mit seinen dicken Fingern an dem Strick des überladenen Packpferdes. »Ich bin von der Annahme ausgegangen, dass Ihr nicht genügend Lebensmittel dabeihabt. Hier sind auch Zelte – vier Stück, nur für alle Fälle – und Wasser. Futter für die Pferde. Und …«

»Wer seid Ihr?«, bellte Lan. »Und woher wisst Ihr, wer ich bin?«

Der Mann richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Ich bin Bulen, mein Lord. Aus Kandor?«

Aus Kandor… Lan erinnerte sich an einen dürren jungen Botenjungen. Überrascht erkannte er die Ähnlichkeit. » Bulen? Aber das ist zwanzig Jahre her, Mann!«

»Ich weiß, Lord Mandragoran. Aber als sich im Palast die Neuigkeit verbreitete, dass der Goldene Kranich gehisst wird, wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich habe gelernt, gut mit dem Schwert umzugehen, mein Lord. Ich bin gekommen, um an Eurer Seite zu reiten und …«

»Die Nachricht von meiner Reise hat sich bis nach Aesdaishar verbreitet?«

»Ja, mein Lord. Ihr müsst wissen, El’Nynaeve, sie kam zu uns. Berichtete uns, was Ihr getan habt. Andere sammeln sich, aber ich brach als Erster auf. Ich wusste, dass Ihr Vorräte braucht.«

Soll man diese Frau doch zu Asche verbrennen, dachte Lan. Und sie hatte ihm den Schwur abgerungen, dass er jene akzeptierte, die mit ihm reiten wollten! Nun, wenn sie ihre Spielchen mit der Wahrheit treiben konnte, dann konnte er das erst recht. Er hatte versprochen, jeden zu nehmen, der mit ihm reiten wollte. Dieser Mann war kein Reiter. Ein kleinlicher Unterschied, aber zwanzig Jahre in der Gesellschaft von Aes Sedai hatten ihn einige Dinge darüber gelehrt, dass man auf seine genauen Worte achten musste.

»Kehrt nach Aesdaishar zurück«, sagte Lan. »Sagt allen, dass sich meine Frau geirrt hat und ich den Goldenen Kranich nicht gehisst habe.«

»Aber…«

»Ich brauche Euch nicht, mein Sohn. Geht.« Lan trieb Mandarb mit den Fersen zum Schritt an und passierte den Mann am Wegesrand. Ein paar Augenblicke lang glaubte er, dass man seinem Befehl gehorchen würde, obwohl es an seinem Gewissen nagte, wie er seinen Schwur umgangen hatte.

»Mein Vater war Malkieri«, sagte Bulen hinter ihm.

Lan ritt weiter.

»Er starb, als ich fünf war«, rief Bulen. »Er heiratete eine Kandori. Beide fielen Banditen zum Opfer. Ich erinnere mich nicht an viel von ihnen. Nur an eines, was mir mein Vater einmal sagte: eines Tages würden wir für den Goldenen Kranich kämpfen. Alles, was ich von ihm habe, ist das.«

Unwillkürlich drehte sich Lan um, während Mandarb weitertrottete. Bulen hielt einen schmalen Lederstreifen in die Höhe, den Hadori, den jeder Malkieri auf dem Kopf trug, der geschworen hatte, gegen den Schatten zu kämpfen.

»Ich würde den Hadori meines Vaters tragen«, rief Bulen, dessen Stimme lauter wurde. »Aber ich habe niemanden, den ich um Erlaubnis bitten kann. Das ist doch die Tradition, oder nicht? Jemand muss mir das Recht verleihen, ihn anzulegen. Nun, ich würde gegen den Schatten kämpfen, solange ich lebe.« Er schaute auf den Hadori, dann schaute er wieder auf und rief: »Ich würde mich der Finsternis entgegenstellen, al’Lan Mandragoran! Wollt Ihr mir sagen, dass ich das nicht darf?«

»Geht zum Wiedergeborenen Drachen«, erwiderte Lan. »Oder zur Armee Eurer Königin. Sie werden Euch beide aufnehmen. «

»Und Ihr? Ihr reitet den ganzen Weg zu den Sieben Türmen ohne Ausrüstung?«

»Ich kann mich selbst versorgen.«

»Entschuldigt, mein Lord, aber habt Ihr Euch schon dieses Land angesehen? Die Fäule breitet sich immer weiter nach Süden aus. Nichts wächst mehr, nicht einmal in einst fruchtbaren Ländern. Das Wild ist knapp.«

Lan zögerte. Er zügelte Mandarb.

»Vor diesen vielen Jahren«, rief Bulen, setzte sich in Bewegung und zog das Packpferd hinter sich her, »da wusste ich kaum, wer Ihr seid, allerdings wusste ich, dass Ihr jemanden unter uns verloren hattet, der Euch viel bedeutete. Jahrelang habe ich mich dafür verflucht, Euch nicht besser gedient zu haben. Ich schwor, dass ich eines Tages an Eurer Seite stehe.« Er hatte Lan erreicht. »Ich frage Euch, weil ich keinen Vater habe. Darf ich den Hadori tragen und an Eurer Seite kämpfen, al’Lan Mandragoran? Meinem König?«

Lan atmete langsam aus und brachte seine Gefühle unter Kontrolle. Nynaeve, wenn ich dich das nächste Mal sehe… Aber er würde sie nicht wiedersehen. Er versuchte, nicht darüber nachzudenken.

Er hatte einen Schwur geleistet. Aes Sedai mogelten sich um ihre Versprechen herum, aber gab ihm das das gleiche Recht? Nein. Ein Mann war seine Ehre. Er konnte Bulen nicht abweisen.

»Wir reiten unerkannt«, sagte er. »Wir hissen nicht den Goldenen Kranich. Ihr werdet keinem sagen, wer ich bin.«

»Ja, mein Lord«, sagte Bulen.

»Dann tragt den Hadori mit Stolz«, sagte Lan. »Viel zu wenige befolgen die alten Sitten. Und ja, Ihr dürft Euch mir anschließen.«

Lan trieb Mandarb wieder an. Bulen folgte ihm zu Fuß. Und aus einem wurden zwei.


Perrin schlug den Hammer auf das rotglühende Eisen. Funken sprühten schimmernden Insekten gleich in die Luft. Schweißtropfen perlten sein Gesicht hinunter.

So mancher fand das Klirren von Eisen auf Eisen nervtötend. Perrin nicht. Dieser Laut war beruhigend. Er hob den Hammer und schlug zu.

Funken. Fliegende Lichter, die von seiner Lederweste und seiner Schürze abprallten. Mit jedem Hieb schmolzen die Wände des Raumes – stabiles Zwerglorbeerholz – und reagierten auf die rhythmischen Schläge. Er träumte, auch wenn er sich nicht im Wolfstraum befand. Das wusste er, obwohl er nicht zu sagen vermochte, warum er es wusste.

Die Fenster waren dunkel, der einzige Lichtschein kam von dem dunkelroten Feuer, das rechts von ihm brannte. Zwei Eisenstäbe glühten zwischen den Kohlen und warteten darauf, dass sie an die Reihe kamen. Perrin ließ den Hammer wieder in die Tiefe sausen.

Das war Frieden. Das war Zuhause.

Er erschuf etwas Wichtiges. Etwas außerordentlich Wichtiges. Ein Teil von etwas Größerem. Wenn man etwas erschaffen wollte, bestand der erste Schritt darin, sich die einzelnen Teile vorzustellen. Das hatte Meister Luhhan Perrin an seinem ersten Tag in der Schmiede beigebracht. Man konnte keinen Spaten herstellen, ohne zu begreifen, wie der Stiel ins Schaufelblatt passte. Man konnte kein Scharnier herstellen, ohne zu wissen, wie sich die beiden Teile um den Bolzen bewegten. Man konnte nicht einmal einen Nagel schmieden, ohne vorher seine Teile zu kennen: Kopf, Schaft, Spitze.

Verstehe die einzelnen Teile, Perrin.

In der Ecke lag ein Wolf. Er war groß und grau; der Pelz hatte die Farbe von hellgrauen Flusskieseln und trug die Narben von einem Leben voller Kämpfe und Jagden. Der Wolf legte den Kopf auf die Pfoten und beobachtete Perrin. Das war völlig natürlich. Natürlich lag ein Wolf in der Ecke. Wie hätte es auch anders sein können? Es war Springer.

Perrin arbeitete und genoss die brennende Hitze des Schmiedefeuers, das Gefühl von an seinen Armen herunterrinnenden Schweißes, den Geruch des Feuers. Er formte das Eisenstück, einen Schlag für jeden zweiten Schlag seines Herzens. Das Metall kühlte niemals ab, sondern behielt sein formbares rotgelbes Glühen.

Was mache ich da? Perrin hob das glühende Eisenstück mit der Zange in die Höhe. Die Luft darum verformte sich.

Drauf, drauf, drauf, sagte Springer in Gedanken und kommunizierte in Bildern und Gerüchen. Wie ein Welpe, der nach Schmetterlingen springt.

Springer sah nicht ein, warum man Eisen neu formen sollte, und fand es amüsant, dass Menschen so etwas taten. Für einen Wolf war ein Ding das, was es war. Warum sich so viel Mühe machen, um daraus etwas anderes zu machen?

Perrin legte das Werkstück zur Seite. Es kühlte augenblicklich aus, wurde gelb, wurde orangerot, dann blutrot, dann mattschwarz. Perrin hatte es zu einem unförmigen Klumpen gehämmert, der ungefähr die Größe von zwei Fäusten aufwies. Meister Luhhan würde sich schämen, wenn er so schlampige Arbeit sah. Perrin musste bald in Erfahrung bringen, was genau er da eigentlich herstellen sollte, bevor sein Meister zurückkehrte.

Nein. Das war falsch. Der Traum erzitterte, und die Wände verwandelten sich in Nebel.

Ich bin kein Lehrling. Perrin hob die Hand in dem dicken Handschuh zum Kopf. Ich befinde mich nicht länger in den Zwei Flüssen. Ich bin ein Mann, ein verheirateter Mann.

Perrin ergriff den formlosen Eisenklumpen mit der Zange und stieß ihn auf den Amboss. Heiß flammte er wieder auf. Noch immer ist alles falsch. Perrin drosch mit dem Hammer zu. Mittlerweile müsste alles besser sein. Aber das ist es nicht. Irgendwie scheint es sogar schlimmer zu sein.

Er schlug weiter zu. Er hasste die Gerüchte, die die Männer am Lagerfeuer flüsternd über ihn in die Welt setzten. Perrin war krank gewesen, und Berelain hatte ihn gepflegt. Das war alles. Trotzdem kamen die Gerüchte nicht zur Ruhe.

Immer wieder schlug er mit dem Hammer zu. Funken flogen in die Luft, als wären es Wasserspritzer, für ein Eisenstück waren es viel zu viele. Er tat einen letzten Schlag, dann atmete er ein und aus.

Der Klumpen hatte sich nicht verändert. Perrin knurrte und griff nach der Zange, legte den Klumpen zur Seite und nahm eine neue Stange aus den Kohlen. Er musste dieses Werkstück fertigstellen. Es war so wichtig. Aber was stellte er da eigentlich her?

Er hämmerte drauflos. Ich muss Zeit mit Faile verbringen, die Dinge ergründen, das Unbehagen zwischen uns beseitigen. Aber dazu ist keine Zeit! Diese vom Licht geblendeten Narren um ihn herum waren nicht dazu in der Lage, sich um sich selbst zu kümmern. In den Zwei Flüssen hatte nie jemand einen Lord gebraucht.

Er arbeitete eine Weile, dann hielt er das zweite Stück Eisen in die Höhe. Es kühlte ab und verwandelte sich in eine unförmige flach gedrückte Stange von der Länge seines Unterarms. Noch eine schlampige Arbeit. Er legte sie zur Seite.

Wenn du unglücklich bist, sagte Springer, dann nimm dein Weibchen und geh. Wenn du das Rudel nicht führen willst, wird es ein anderer tun. Die Botschaft des Wolfes bestand aus dem Lauf über offene Felder, Weizen strich über seine Schnauze. Ein offener Himmel, eine kühle Brise, Lust auf Abenteuer. Es roch nach frischem Regen, nach wilden Weidegründen.

Perrin griff mit der Zange nach der letzten Eisenstange. Sie loderte in einem gefährlich aussehenden Gelb. »Ich kann nicht gehen.« Er hielt die Stange dem Wolf entgegen. »Es würde bedeuten, dem Wolf in mir nachzugeben. Es würde bedeuten, mich zu verlieren. Das werde ich nicht tun.«

Er hielt das beinahe geschmolzene Eisen zwischen sie beide, und Springer musterte ihn; gelbe Lichtpunkte spiegelten sich in den Augen des Wolfes. Dieser Traum war so seltsam. In der Vergangenheit waren Perrins gewöhnliche Träume und der Wolfstraum stets voneinander getrennt gewesen. Was hatte diese Vermischung zu bedeuten?

Perrin verspürte Angst. Er hatte einen brüchigen Waffenstillstand mit dem Wolf in ihm geschlossen. Es war gefährlich, den Wölfen zu nahe zu kommen, aber das hatte ihn nicht daran gehindert, sich auf der Suche nach Faile an sie zu wenden. Alles für Faile. Dies hatte ihn um ein Haar den Verstand gekostet, und er hatte sogar versucht, Springer zu töten.

Perrin hatte nicht annähernd die Kontrolle, die er zu haben glaubte. Der Wolf in ihm konnte noch immer die Herrschaft ergreifen.

Springer gähnte und ließ die Zunge aus dem Maul baumeln. Er roch nach süßer Belustigung.

»Das ist nicht komisch.« Perrin legte die letzte Stange zur Seite, ohne sie bearbeitet zu haben. Sie kühlte ab und nahm die Form eines dünnen Rechtecks an, das eine gewisse Ähnlichkeit mit den Anfängen eines Scharniers hatte.

Probleme sind nicht amüsant, Junger Bulle, gab Springer ihm recht. Aber du kletterst immer auf derselben Wand hin und her. Komm. Lass uns laufen.

Wölfe lebten im Jetzt; obwohl sie sich an die Vergangenheit erinnerten und ein seltsames Gespür für die Zukunft zu haben schienen, machten sie sich über beides keine Sorgen. Nicht so wie Menschen. Wölfe liefen frei und jagten den Wind. Sich ihnen anzuschließen würde bedeuten, Schmerz, Trauer und Enttäuschung zu ignorieren. Frei zu sein …

Diese Freiheit würde Perrin zu viel kosten. Er würde Faile verlieren, sein Ich. Er wollte kein Wolf sein. Er wollte ein Mensch sein. »Gibt es eine Möglichkeit, das wieder umzukehren, was mit mir passiert ist?«

Umzukehren? Springer legte den Kopf schief. Zurückzugehen war nicht die Art der Wölfe.

»Kann ich …« Perrin hatte Mühe, die richtigen Worte für eine Erklärung zu finden. »Kann ich so weit laufen, dass die Wölfe mich nicht hören können?«

Springer erschien verwirrt. Nein. »Verwirrt« beschrieb nicht die gequälten Bilder, die er übermittelte. Das Nichts, der Geruch von verfaulendem Fleisch, Wölfe, die gequält heulten. Abgeschnitten zu sein, so etwas konnte sich Springer nicht vorstellen.

Perrins Gedanken verschwammen. Warum hatte er mit der Arbeit aufgehört? Er musste fertig werden. Meister Luhhan würde so enttäuscht sein! Diese Klumpen waren schrecklich. Am besten versteckte er sie. Am besten schmiedete er etwas anderes, um zu zeigen, wozu er fähig war. Er konnte schmieden. Oder nicht?

Neben ihm ertönte ein Zischen. Perrin drehte sich um und sah überrascht, dass eines der Abschreckfässer neben dem Ofen kochte. Natürlich, dachte er. Die ersten Stücke, die ich fertiggestellt habe. Ich habe sie dort hineingeworfen.

Von plötzlicher Unruhe ergriffen, schnappte sich Perrin die Zange und griff in das aufgewühlte Wasser; Dampf hüllte sein Gesicht ein. Er entdeckte etwas am Grund des Fasses und holte es mit seiner Zange nach oben: einen Klumpen weißglühendes Metall.

Das Glühen verblich. Tatsächlich war der Klumpen eine kleine Stahlfigur in Gestalt eines hochgewachsenen dünnen Mannes, der ein Schwert auf den Rücken geschnallt trug. Alles war in den kleinsten Einzelheiten dargestellt, die Falten des Hemdes, die Lederriemen an dem winzigen Schwertgriff. Aber das Gesicht war verzerrt, der Mund zu einem schrecklichen Schrei geöffnet.

Ar am, dachte Perrin. Sein Name war Aram.

Das konnte er unmöglich Meister Luhhan zeigen! Warum hatte er so ein Ding gemacht?

Der Mund der Figur öffnete sich noch weiter und schrie lautlos. Mit einem Aufschrei ließ Perrin sie aus der Zange gleiten und sprang zurück. Die Figur fiel auf den Holzboden und zerbrach.

Warum denkst du so viel über den da nach? Springer gähnte ein großes Wolfsgähnen, seine Zunge rollte sich auf. Es ist ganz normal, dass ein junger Welpe den Rudelführer herausfordert. Er war dumm, und du hast ihn besiegt.

»Nein«, flüsterte Perrin. »Für Menschen ist das nicht normal. Nicht unter Freunden.«

Plötzlich schmolz die Seitenwand des Ofens und verwandelte sich in Rauch. Es erschien Perrin wie ein ganz normaler Vorgang. Draußen sah er eine offene Straße in hellem Tageslicht. Eine Stadt mit Geschäften, deren Fenster zerbrochen waren.

»Maiden«, sagte Perrin.

Draußen stand ein rauchiges, durchsichtiges Abbild von ihm. Das Abbild trug keinen Mantel; die nackten Arme strotzten vor Muskeln. Der Bart war kurz geschnitten, aber es ließ ihn älter und energischer aussehen. Sah er tatsächlich so imposant aus? Eine gedrungene Festung von Mann mit goldenen Augen, die zu glühen schienen, in der Hand eine funkelnde Axt mit halbmondförmiger Klinge von der Größe eines Männerkopfes.

Etwas stimmte nicht mit dieser Axt. Perrin verließ die Schmiede und trat durch seine Schattenversion hindurch. Als er das tat, wurde er zu dem Abbild; die Axt lag schwer in seiner Hand, und die Arbeitskleidung verschwand und wurde durch Kampfausrüstung ersetzt.

Er rannte los. Ja, das hier war Maiden. Aiel waren auf den Straßen. Er hatte diese Schlacht erlebt, obwohl er dieses Mal viel ruhiger war. Zuvor hatte er sich in der Aufregung des Kampfes und der Suche nach Faile verloren. Mitten auf der Straße blieb er stehen. »Das ist falsch. In Maiden trug ich meinen Hammer. Ich habe meine Axt weggeworfen.«

Ein Horn oder ein Huf, Junger Bulle, spielt es eine Rolle, was man zur Jagd benutzt? Springer saß neben ihm auf der sonnenhellen Straße.

»Ja. Es spielt eine Rolle. Jedenfalls für mich.«

Zwei Shaido Aiel kamen um eine Hausecke gebogen. Sie beobachteten etwas links von ihnen, etwas, das Perrin nicht sehen konnte. Er lief los, um sie anzugreifen.

Er durchtrennte das Kinn des einen, dann rammte er dem anderen den Dorn der Axt in die Brust. Es war ein brutaler, schrecklicher Angriff, und alle drei landeten auf dem Boden. Es brauchte mehrere Stiche mit dem Dorn, um den zweiten Shaido zu töten.

Perrin stand auf. Er erinnerte sich daran, die beiden Aiel getötet zu haben, allerdings hatte er es mit Hammer und Messer getan. Er bedauerte ihren Tod nicht. Manchmal musste ein Mann eben kämpfen, so war das nun einmal. Der Tod war schrecklich, aber manchmal war es eben nötig. Tatsächlich war es wunderbar gewesen, mit den Aiel zu kämpfen. Er hatte sich gefühlt wie ein Wolf auf der Jagd.

Wenn Perrin kämpfte, kam er nahe daran, ein anderer zu werden. Und das war gefährlich.

Er schaute Springer anklagend an, der sich an der Straßenecke herumtrieb. »Warum lässt du mich das träumen?«

Ich mache das?, fragte Springer. Das ist nicht mein Traum, Junger Bulle. Siehst du meine Zähne an deinem Hals, die dich zwingen, das zu denken?

Perrins Axt war blutverschmiert. Er wusste, was nun kam. Er drehte sich um. Hinter ihm kam Aram heran, Mordlust in den Augen. Die eine Gesichtshälfte des ehemaligen Kesselflickers war blutig, und es tropfte von seinem Kinn und verschmutzte seinen rot gestreiften Mantel.

Aram zielte mit dem Schwert nach Perrins Hals. Stahl zischte durch die Luft. Perrin trat zurück. Er weigerte sich, noch einmal gegen den Jungen zu kämpfen.

Seine Schattenversion löste sich aus ihm und ließ den echten Perrin in seiner Schmiedkleidung zurück. Der Schatten teilte Hiebe mit Aram aus. Der Prophet hat es mir erklärt… in Wirklichkeit gehörst du dem Schattengezücht an… ich muss Lady Faile vor dir retten …

Plötzlich verwandelte sich der Schatten-Perrin in einen Wolf. Sein Fell war beinahe so dunkel wie das eines Schattenbruders; er schnellte in die Höhe und riss Aram die Kehle heraus.

»Nein! So hat sich das nicht abgespielt!« Das ist ein Traum, sagte Springer.

»Aber ich tötete ihn nicht«, protestierte Perrin. »Ein Aiel durchbohrte ihn in dem Augenblick mit Pfeilen, bevor …« Bevor Aram ihn getötet hätte.

Horn, Huf oder Zahn. Springer drehte sich um und hielt auf ein Gebäude zu. Seine Wand verschwand und enthüllte Meister Luhhans Schmiede. Spielt es eine Rolle? Die Toten sind tot. Zweibeiner kommen nicht her, nachdem sie gestorben sind, normalerweise nicht. Ich weiß nicht, wo sie hingehen, wenn sie gehen.

Perrin betrachtete Arams Leichnam. »Ich hätte diesem Narren das Schwert in dem Moment abnehmen sollen, indem er es ergriff. Ich hätte ihn zu seiner Familie zurückschicken sollen.«

Verdient ein Welpe nicht seine Reißzähne?, fragte Springer offensichtlich verwirrt. Warum solltest du sie ihm ziehen?

»Das ist eine Sache unter Menschen«, sagte Perrin.

Eine Sache der Zweibeiner, der Menschen. Tür dich ist es immer eine Sache der Menschen. Was ist mit der Sache der Wölfe?

»Ich bin kein Wolf.«

Springer trottete in die Schmiede, und Perrin folgte ihm zögernd. Das Fass brodelte noch immer. Die Wand bildete sich neu, und Perrin trug wieder Lederweste und Schürze, die Zange in der Hand.

Er beugte sich darüber und holte eine weitere Figur heraus. Es war die Gestalt von Tod al’Caar. Als sie abkühlte, entdeckte Perrin, dass das Gesicht nicht so wie bei Aram verzerrt war, auch wenn die untere Hälfte noch immer ein umgeformter Eisenblock war. Die Figur glühte weiterhin leicht rötlich, nachdem Perrin sie auf dem Boden abstellte. Er stieß die Zange zurück ins Wasser und holte eine Figur von Jori Congar hervor, dann eine von Azi al’Thone.

Immer wieder trat Perrin zu dem brodelnden Fass und holte eine Figur nach der anderen heraus. Wie in Träumen üblich nahm es nur eine kurze Sekunde in Anspruch, sie alle zu holen, kam ihm aber wie Stunden vor. Als er fertig war, standen Hunderte von Figuren auf dem Boden und schauten ihn an. Beobachteten ihn. In jeder Stahlfigur brannte ein winziges Feuer, als warteten sie darauf, den Schmiedehammer zu spüren.

Aber derartige Figuren schmiedete man nicht; man goss sie. »Was bedeutet das?« Perrin ließ sich auf einen Hocker nieder.

Bedeuten? Springer öffnete den Rachen zu einem Wolfslachen. Es bedeutet, dass viele kleine Männer auf dem Boden stehen, von denen man keinen essen kann. Deine Art hat viel zu viel für Steine übrig und dem, was sie enthalten.

Die Figuren schienen ihn anzuklagen. Um sie herum lagen Arams Scherben, die größer zu werden schienen. Bewegung kam in die zersplitterten Hände, und sie krallten über den Boden. Sämtliche Scherben verwandelten sich in kleine Hände, die sich auf Perrin zuarbeiteten und nach ihm griffen.

Perrin keuchte auf und sprang auf die Füße. In der Ferne hörte er Gelächter, das immer näher kam und das Gebäude erzittern ließ. Springer sprang auf und krachte gegen ihn. Und dann …

Perrin fuhr in die Höhe. Er war zurück in seinem Zelt, auf dem Feld, wo sie nun schon seit ein paar Tagen lagerten. Eine Woche zuvor waren sie einer Blase des Bösen begegnet, die überall im Lager wütende rote ölige Schlangen aus dem Boden hatte kriechen lassen. Ihre Bisse hatten mehrere Hundert Menschen krank gemacht; die Aes Sedai hatten die meisten von ihnen mit ihrer Fähigkeit des Heilens am Leben halten können, sie aber nicht vollständig kuriert.

Faile schlummerte friedlich neben Perrin. Draußen schlug einer seiner Männer gegen einen Pfosten, um die Stunde zu schlagen. Drei Schläge. Noch Stunden bis zur Morgendämmerung.

Perrins Herz pochte leise, und er legte eine Hand auf die nackte Brust. Fast erwartete er, dass ein Heer winziger Eisenhände unter seinem Bettzeug hervorkroch.

Schließlich zwang er sich dazu, die Augen zu schließen und sich zu entspannen. Dieses Mal wollte der Schlaf nur langsam kommen.


Graendal nippte an ihrem Wein, der in einem mit Silbernetzen verzierten Kristallpokal funkelte. Der Pokal war mit Blutstropfen geschmückt, die innerhalb des Kristalls ein Ringmuster bildeten. Winzige hellrote Blasen, die für alle Ewigkeit erstarrt waren.

»Wir sollten etwas tun«, sagte Aran’gar, der sich auf dem Diwan fläzte und eines von Graendals männlichen Schoßtieren, das gerade vorbeiging, mit raubtierhaftem Hunger anstarrte. »Ich weiß nicht, wie Ihr das ertragen könnt, sich so weit abseits von den wichtigen Ereignissen aufhalten zu müssen, wie ein Gelehrter, der sich in eine staubige Ecke verkriecht.«

Graendal hob eine Braue. Ein Gelehrter? In einer staubigen Ecke? Verglichen mit einigen der Paläste, die sie im vorherigen Zeitalter kennengelernt hatte, war Natrins Hügel bescheiden, aber es war kaum eine Elendsbehausung. Die Möbel waren kostbar, die Wände mit einem Bogenmuster aus dickem, dunklen Hartholz versehen, der Bodenmarmor funkelte mit eingelegten Perlmutt- und Goldstücken.

Aran’gar wollte sie bloß provozieren. Graendal unterdrückte ihre Gereiztheit. Das Feuer im Kamin brannte nur noch niedrig, aber die Flügeltür, die auf den befestigten Wehrgang drei Stockwerke hoch in der Luft führte, stand offen und ließ die kühle Brise Landluft ein. Sie ließ nur selten ein Fenster oder eine Tür geöffnet, aber heute gefiel ihr der Kontrast: Wärme von der einen Seite, eine kühle Brise von der anderen.

Der Sinn des Lebens bestand darin, etwas zu fühlen. Berührungen der Haut, sowohl leidenschaftlich wie auch eiskalt. Alles, nur nicht das Normale, das Gewöhnliche, das Lauwarme.

»Hört Ihr mir überhaupt zu?«, fragte Aran’gar.

»Ich höre immer zu«, erwiderte Graendal, stellte den Pokal ab und setzte sich auf ihrem eigenen Diwan auf. Sie trug ein goldenes, alles verhüllendes Kleid, bis zum Hals zugeknöpft, aber dennoch durchscheinend. Was für eine wunderbare Mode diese Domani doch hatten; sie gestattete tiefe Einblicke und war doch ideal, um aufreizend zu sein.

»Ich verabscheue es, so weit abseits von den Dingen zu sein«, fuhr Aran’gar fort. »Dieses Zeitalter ist aufregend. Primitive Menschen können so interessant sein.« Die Frau mit der Elfenbeinhaut und den üppigen Kurven drückte den Rücken durch und streckte die Arme in Richtung Wand. »Wir verpassen die ganze Aufregung.«

»Aufregung verfolgt man am besten aus der Distanz«, sagte Graendal. »Eigentlich hätte ich gedacht, dass Ihr das begriffen habt.«

Aran’gar verstummte. Der Große Herr war nicht zufrieden mit ihr gewesen, dass sie die Kontrolle über Egwene al’Vere verloren hatte.

»Nun.« Aran’gar stand auf. »Wenn das Eure Meinung dazu ist, suche ich mir eine interessantere Abendbeschäftigung.«

Ihre Stimme war kühl; möglicherweise zeigte ihre Allianz Abnutzungserscheinungen. In diesem Fall war die Zeit gekommen, sie wieder etwas zu untermauern. Graendal öffnete sich und akzeptierte die Dominanz des Großen Herrn, fühlte die kribbelnde Ekstase seiner Macht, seiner Leidenschaft, seiner Substanz. Dieser reißende, feurige Strom war so viel berauschender als die Eine Macht.

Er drohte sie zu überwältigen und zu verschlingen, und obwohl sie mit der Wahren Macht gefüllt war, vermochte sie nur ein winziges Tröpfeln davon zu lenken. Ein Geschenk von Moridin. Nein, vom Großen Herrn. Besser, sie fing nicht damit an, die beiden in Gedanken gleichzusetzen. Im Augenblick war Moridin der Nae’blis. Aber nur im Augenblick.

Graendal webte einen Streifen Luft. Mit der Wahren Macht zu arbeiten ähnelte der Arbeit mit der Einen Macht, war aber nicht identisch. Ein Gewebe aus Wahrer Macht funktionierte oft etwas anders oder brachte unerwartete Nebenwirkungen mit sich. Und einige Gewebe konnten allein mit der Wahren Macht erzeugt werden.

Die Essenz des Großen Herrn übte einen Zwang auf das Muster aus, setzte es einer großen Belastung aus und hinterließ Narben. Die Energien des Dunklen Königs konnten sogar etwas auftrennen, das dem Willen des Schöpfers zufolge für alle Ewigkeit hätte Bestand haben sollen. Das verkündete eine ewige Wahrheit – kam so nahe an etwas Heiliges heran, wie Graendal bereit war, zu akzeptieren. Was auch immer der Schöpfer erschuf, der Dunkle König konnte es vernichten.

Sie sandte den Strom Luft Aran’gar hinterher. Die andere Auserwählte war auf den Balkon hinausgetreten; Graendal hatte die Erschaffung von Wegetoren im Haus verboten, damit weder ihre Schoßtiere noch ihre Möbel beschädigt wurden. Sie führte die Luft zu Aran’gars Wange und liebkoste sie.

Aran’gar erstarrte. Misstrauisch drehte sie sich um, aber es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bevor sie die Augen weit aufriss. Keine Gänsehaut auf den Armen hätte ihr verraten können, dass Graendal die Macht lenkte. Die Wahre Macht verriet sich durch nichts. Weder Männer noch Frauen konnten die Gewebe sehen oder spüren – es sei denn, man hatte ihnen das Privileg gewährt, zur Wahren Macht greifen zu können.

»Was?«, fragte die Frau. »Wie? Moridin ist…«

»Der Nae’blis«, sagte Graendal. »Ja. Aber dieses eine Mal blieb die Gunst des Großen Herrn nicht auf den Nae’blis beschränkt.« Sie liebkoste Aran’gars Wange weiter, und die Frau errötete.

Genau wie die anderen Auserwählten verzehrte sich Aran’gar nach der Wahren Macht, während sie sie zugleich fürchtete – sie war gefährlich, angenehm, verführerisch. Als Graendal den Strang Luft zurückzog, kam Aran’gar wieder ins Zimmer und kehrte zu ihrem Diwan zurück, dann befahl sie einem von Graendals Schoßtieren, ihre zahme Aes Sedai zu holen. Noch immer waren Aran’gars Wangen vor Lust gerötet; vermutlich würde sie sich mit Delana ablenken. Es schien sie zu amüsieren, die hässliche Aes Sedai zur Unterwürfigkeit zu zwingen.

Delana trat wenige Augenblicke später ein; sie hielt sich stets in der Nähe auf. Die Schienarerin hatte helle Haare und war stämmig gebaut, mit kräftigen Gliedmaßen. Graendal verzog geringschätzig die Lippen. So ein hässliches Ding. So ganz anders wie Aran’gar. Sie hätte ein ideales Schoßtier abgegeben. Vielleicht würde Graendal ja eines Tages die Gelegenheit bekommen, sie in eins zu verwandeln.

Aran’gar und Delana fingen an, auf dem Diwan Zärtlichkeiten auszutauschen. Aran’gar war unersättlich, eine Tatsache, die Graendal bei zahllosen Gelegenheiten ausgenutzt hatte. Die Verlockung der Wahren Macht war da nur die letzte in einer langen Reihe. Natürlich genoss Graendal selbst solche Vergnügungen, aber sie sorgte dafür, dass alle Welt sie für weitaus ausschweifender hielt, als sie in Wirklichkeit war. Wenn man wusste, was die Leute von einem erwarteten, konnte man diese Erwartungen benutzen. Wenn …

Graendal erstarrte, als ein Alarm in ihren Ohren losging, der Laut gegeneinander schmetternder Wellen. Aran’gar fuhr mit ihren Vergnügungen fort; sie konnte den Laut nicht hören. Das Gewebe war sehr spezifisch und an einem Ort angebracht, wo ihre Diener einem die Warnung zukommen lassen konnten.

Graendal stand auf und schlenderte ohne das geringste Anzeichen von Eile zur anderen Zimmerseite. An der Tür schickte sie ein paar ihrer Schoßtiere los, damit sie Aran’gar noch weiter ablenkten. Es war besser, das Ausmaß des Problems herauszufinden, bevor sie die andere Auserwählte darin verwickelte.

Graendal durchquerte einen Korridor voller Spiegel und goldener Kronleuchter. Auf der halben Höhe einer Treppe kam ihr Garumand entgegengelaufen, der Hauptmann ihrer Palastwache. Er war Saldaeaner, ein entfernter Cousin der Königin; er trug einen dichten Schnurrbart im schmalen, hübschen Gesicht. Der mit der Einen Macht herbeigeführte Zwang hatte ihn natürlich völlig loyal gemacht.

»Große Lady«, sagte er keuchend. »Man hat einen Mann gefangen genommen, der auf den Palast zukam. Meine Männer erkannten ihn als unbedeutenden Adligen aus Bandar Eban, einen Angehörigen von Haus Ramshalan.«

Graendal runzelte die Stirn, dann bedeutete sie Garumand ihr zu folgen, während sie den Weg zu einem ihrer Audienzgemächer einschlug. Es war ein kleiner, fensterloser Raum, den man in Scharlachrot eingerichtet hatte. Sie webte ein Schutzgewebe gegen Lauscher, dann befahl sie Garumand, den Eindringling zu holen.

Kurz darauf kehrte er mit ein paar Wächtern und einem Domani zurück. Der Fremde trug Hellgrün und Blau, auf der Wange prangte ein Schönheitsfleck in Form einer Glocke. Winzige Glöckchen waren in den sauber gestutzten kurzen Bart geflochten, die bimmelten, als ihn die Wächter vorwärtsstießen. Er klopfte sich die Ärmel ab, starrte die Soldaten böse an und richtete das zerknitterte Hemd. »Darf ich davon ausgehen, dass man mich …«

Er verstummte mit einem würgenden Laut, als Graendal ihn mit Geweben aus Luft fesselte und in seinen Verstand eindrang. Er stotterte, ein leerer Blick trat in seine Augen.

»Ich bin Piqor Ramshalan«, sagte er monoton. »Der Wiedergeborene Drache hat mich geschickt, um eine Allianz mit der Kaufmannsfamilie zu schließen, die in dieser Festung wohnt. Da ich bedeutend schlauer und wortgewandter als al’Thor bin, braucht er mich, um Bündnisse zu schmieden. Er fürchtet sich besonders vor den Bewohnern dieses Palastes, was ich lächerlich finde, da er abseits gelegen und unbedeutend ist.

Offensichtlich ist der Wiedergeborene Drache ein schwacher Mann. Wenn ich sein Vertrauen gewinne, kann ich der nächste König von Arad Doman werden, davon bin ich überzeugt. Ich wünsche, dass Ihr ein Bündnis mit mir eingeht und nicht mit ihm, und ich verspreche Euch große Vorteile, sobald ich König bin. Ich …«

Graendal schwenkte die Hand, und er unterbrach sich mitten im Wort. Sie verschränkte die Arme. Ihre Haare stellten sich auf, weil sie zitterte.

Der Wiedergeborene Drache hatte sie gefunden.

Er hatte ein Ablenkungsmanöver zu ihr geschickt.

Er glaubte, sie manipulieren zu können.

Augenblicklich webte sie ein Wegetor zu einem ihrer sichersten Verstecke. Kalte Luft wehte aus einem Teil der Welt, in dem es Morgen und nicht früher Abend war. Am besten war sie vorsichtig. Am besten, sie ergriff die Flucht. Und doch …

Sie zögerte. Er muss Schmerzen erleiden …er muss Enttäuschungen erleiden …er muss Seelenqualen erleiden. Verschaffe sie ihm. Du wirst belohnt werden.

Aran’gar war aus ihrer Anstellung bei den Aes Sedai geflohen, weil sie dummerweise zugelassen hatte, dass jemand mitbekam, wie sie Saidin lenkte. Sie trug noch immer an der Strafe für ihr Versagen. Falls Graendal nun ging und auf die Gelegenheit verzichtete, al’Thor das Leben schwerzumachen, würde man sie auf ähnliche Weise bestrafen?

»Was ist los?«, ertönte Aran’gars Stimme vor der Tür. »Lasst mich durch, ihr Narren. Graendal? Was tut Ihr da?«

Graendal zischte leise, dann schloss sie das Tor und atmete tief durch. Mit einem Nicken erlaubte sie, dass man Aran’gar einließ. Die schlanke Frau trat ein, betrachtete Ramshalan und schätzte ihn ein. Graendal hätte besser darauf verzichtet, ihr ihre Schoßtiere zu schicken; das hatte vermutlich ihr Misstrauen geweckt.

»Al’Thor hat mich gefunden«, sagte Graendal knapp. »Er schickte den da, um ein ›Bündnis‹ mit mir zu schmieden, verriet ihm aber nicht, wer ich bin. Vermutlich will er, dass ich glaube, dass dieser Mann zufällig auf mich kam.«

Aran’gar schürzte die Lippen. »Also flieht Ihr? Verdrückt Euch wieder aus dem Mittelpunkt der Aufregung?«

»Das sagt gerade Ihr?«

»Ich war von Feinden umgeben. Flucht war meine einzige Möglichkeit.« Es klang wie auswendig gelernt.

Solche Worte waren eine Herausforderung. Aran’gar würde ihr dienen. Vielleicht…

»Was weiß Eure Aes Sedai über den Zwang?«

Aran’gar zuckte mit den Schultern. »Man hat sie darin ausgebildet. Ihre Fertigkeiten sind ganz passabel.«

»Holt sie.«

Aran’gar hob eine Braue, nickte dann aber fügsam und verschwand, um sich selbst darum zu kümmern – vermutlich um Zeit zu gewinnen, gründlich darüber nachzudenken. Graendal beauftragte einen Diener damit, einen ihrer Taubenkäfige zu holen. Der Vogel kam, bevor Aran’gar wieder da war, und Graendal webte sorgfältig mit der Wahren Macht – sie zu halten war erneut ein süßer Rausch – und erschuf ein kompliziertes Gewebe aus Geist. Konnte sie sich noch genau daran erinnern, wie man das machte? Es war so lange her.

Sie legte das Gewebe auf den Verstand des Vogels. Ihre Sicht schien zu zerreißen. Einen Augenblick lang sah sie zwei Bilder vor sich – die Welt, wie sie sie wahrnahm, und eine schattenhafte Version dessen, was der Vogel sah. Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie ihre Aufmerksamkeit von der einen zur anderen wechseln.

Es bereitete ihr Kopfschmerzen. Das Sehvermögen eines Vogels unterschied sich völlig von dem eines Menschen: die Tiere hatten ein viel größeres Sichtfeld, und die Farben waren so intensiv, dass sie sie fast schon blendeten, aber dafür war alles verschwommen, und es fiel Graendal schwer, die Entfernungen richtig einzuschätzen.

Sie drängte die Vogelsicht in den Hinterkopf. Eine Taube würde nicht weiter auffallen, aber sie war viel schwieriger zu benutzen als ein Rabe oder eine Ratte, die bevorzugten Augen des Dunklen Königs. Bei ihnen funktionierte das Gewebe besser als bei den meisten anderen Tieren. Allerdings musste das meiste Ungeziefer, das für den Dunklen König Dinge beobachtete, zuerst Bericht erstatten, bevor er wusste, was sie gesehen hatten. Warum das so war, vermochte sie nicht genau zu sagen – die Feinheiten der besonderen Gewebe der Wahren Macht hatten für sie noch nie viel Sinn ergeben. Zumindest bei Aginor war das anders gewesen.

Aran’gar kehrte mit ihrer Aes Sedai zurück, die neuerdings immer verzagter wirkte. Sie machte einen tiefen Knicks vor Graendal und verharrte in der unterwürfigen Position. Graendal löste vorsichtig ihren Zwang bei Ramshalan, was ihn benommen und desorientiert machte.

»Was soll ich tun, Erhabene Lady?«, fragte Delana, sah zuerst Aran’gar an und dann Graendal.

»Einen Zwang erschaffen«, befahl Graendal. »So kompliziert du es kannst.«

»Was soll er ausrichten, Erhabene Lady?«

»Er soll sich so verhalten wie immer«, sagte Graendal. »Aber entferne sämtliche Erinnerungen an die Geschehnisse hier. Ersetze sie durch die Erinnerungen an das Gespräch mit einer Kaufmannsfamilie und die Zusicherung ihrer Unterstützung. Füge noch ein paar zufällige Einzelheiten hinzu, was dir in den Sinn kommt.«

Delana runzelte die Stirn, aber sie hatte gelernt, die Auserwählten nicht infrage zu stellen. Graendal verschränkte die Arme und tippte mit einem Finger darauf, während sie der Aes Sedai bei der Arbeit zusah. Sie wurde immer nervöser. Al’Thor wusste, wo sie war. Würde er angreifen? Nein, er tat Frauen nichts an. Besonders dieser Fehler war wichtig. Es bedeutete, dass sie Zeit zur Reaktion hatte. Oder doch nicht?

Wie hatte er es geschafft, sie zu diesem Palast zu verfolgen? Sie hatte ihre Spuren perfekt verwischt. Die einzigen Handlanger, die sie aus den Augen gelassen hatte, unterlagen einem so schweren Zwang, dass es sie umbringen würde, sollte man ihn entfernen. Konnte es sein, dass die Aes Sedai, die er mit sich führte – Nynaeve, die Frau mit der Begabung im Heilen – ihre Gewebe erkennen und auflösen konnte?

Graendal brauchte Zeit, und sie musste herausfinden, was al’Thor wusste. Wenn Nynaeve al’Meara die nötigen Fähigkeiten hatte, um Zwänge zu lesen, war das gefährlich. Graendal musste eine falsche Spur für ihn legen, ihn ablenken – darum wollte sie auch, dass Delana einen starken Zwang mit seltsamen Einzelheiten erschuf.

Quäle ihn. Das konnte Graendal schaffen.

»Jetzt Ihr«, sagte sie zu Aran’gar, als Delana fertig war. »Etwas übermäßig Kompliziertes. Ich will, dass al’Thor und seine Aes Sedai in seinem Verstand die Berührung eines Mannes finden.« Das würde sie noch mehr verwirren.

Aran’gar zuckte mit den Schultern, tat aber das Gewünschte, versah den Verstand des unglücklichen Ramshalan mit einem dichten und komplizierten Zwang. In gewisser Weise war der Adlige gar nicht so hässlich. Glaubte al’Thor, sie würde ihn als Schoßtier haben wollen? Erinnerte er sich überhaupt genug an sein Leben als Lews Therin, um das von ihr zu wissen? Ihre Berichte über seine Erinnerungen an sein altes Leben waren widersprüchlich, aber sie schienen immer stärker zu werden. Das bereitete ihr Sorgen. Lews Therin hätte sie möglicherweise an diesen Ort verfolgen können. Sie hätte nie erwartet, dass das auch al’Thor schaffte.

Aran’gar kam zum Schluss.

» Und j etzt geht Ihr wieder und berichtet dem Wiedergeborenen Drachen von Eurem Erfolg«, sagte Graendal zu Ramshalan und löste ihr Gewebe aus Luft auf.

Ramshalan blinzelte, schüttelte den Kopf. »Ich … ja, meine Lady. Ich bin davon überzeugt, dass die Bande, die wir heute knüpften, für uns beide von außerordentlichen Wert sein dürften.« Er lächelte. Was für ein willensschwacher Narr. »Vielleicht sollten wir uns zu einem Mahl niedersetzen und auf unseren Erfolg anstoßen, Lady Basene? Ihr müsst wissen, es war eine ermüdende Reise, und ich …«

»Geht«, sagte Graendal kalt.

»Wie Ihr wünscht. Ihr werdet belohnt werden, wenn ich König bin.«

Die Wächter führten ihn hinaus, und er fing mit selbstzufriedenem Ausdruck an zu pfeifen. Graendal setzte sich und schloss die Augen; mehrere ihrer Soldaten bauten sich um sie herum auf; der dicke Teppich verschluckte das Geräusch ihrer Stiefel.

Sie schaute durch die Augen der Taube und gewöhnte sich an die seltsame Sicht. Ein Diener ergriff sie nach einem Befehl von ihr und trug sie an ein Fenster im Korridor außerhalb des Raumes. Der Vogel hüpfte auf das Fensterbrett. Graendal gab ihm einen sanften Anstoß; zur völligen Kontrolle fehlte ihr die Übung. Das Fliegen war viel schwieriger, als es aussah.

Die Taube flatterte aus dem Fenster. Die Sonne ging gerade hinter den Bergen unter und zeichnete ihre zerklüfteten Umrisse in wilden roten und orangen Tönen nach, und der darunterliegende See verwandelte sich in ein schattenhaftes Blauschwarz. Der Anblick war erstaunlich, bereitete ihr aber auch Übelkeit, als sich die Taube in die Luft schwang und auf einem der Türme landete.

Schließlich kam Ramshalan unten aus einem der Tore. Graendal stieß die Taube sanft an, und sie sprang vom Turm und sauste dem Boden entgegen. Der Abstieg drehte Graendal den Magen um, und sie biss die Zähne zusammen, während die Palastmauern sich in einen Schemen verwandelten. Die Taube ging in den waagerechten Flug über und flatterte hinter Ramshalan her. Er schien vor sich hin zu murmeln, allerdings konnte sie durch die fremdartigen Ohren der Taube nur zusammenhangslose Laute wahrnehmen.

Graendal folgte ihm eine Weile durch den immer dunkler werdenden Wald. Eine Eule wäre besser gewesen, nur dass sie keine in Gefangenschaft hatte. Dafür schalt sie sich. Die Taube flog von Ast zu Ast. Der Waldboden war ein unordentliches Durcheinander aus Unterholz und abgefallenen Kiefernnadeln. Sie empfand das als ausgesprochen unangenehm.

Voraus glomm Lichtschein. Er war schwach, aber die Taubenaugen unterschieden mühelos zwischen Licht und Schatten, Bewegung und Stillstand. Graendal bewegte das Tier dazu, sich die Sache näher anzusehen und Ramshalan zurückzulassen.

Das Licht kam aus einem Wegetor in der Mitte einer kleinen Lichtung. Ein ganzes Stück davor standen mehrere Gestalten. Eine davon war al’Thor.

Sofort verspürte Graendal eine wilde Panik. Er war hier. Schaute den Hang hinunter, in ihre Richtung. Bei der Dunkelheit! Sie hatte nicht mit Sicherheit gewusst, ob er persönlich anwesend sein oder ob Ramshalan durch ein Wegetor schreiten würde, um Bericht zu erstatten. Was für ein Spiel spielte al’Thor da? Sie landete ihre Taube auf einem Ast. Aran’gar beschwerte sich und fragte sie, was sie da sah. Die Taube war der Auserwählten nicht entgangen, und sie wusste ganz genau, was Graendal da tat.

Graendal konzentrierte sich stärker. Der Wiedergeborene Drache, der Mann, der einst Lews Therin Telamon gewesen war. Er wusste, wo sie war. Einst hatte er sie aus tiefstem Herzen gehasst; an wie viel davon erinnerte er sich? Erinnerte er sich daran, dass sie Yant ermordet hatte?

Al’Thors zahme Aiel brachten Ramshalan, und Nynaeve untersuchte ihn. Ja, diese Nynaeve schien den Zwang zu erkennen. Zumindest wusste sie, wonach sie suchen musste. Sie würde sterben müssen; al’Thor verließ sich auf sie, ihr Tod würde ihn schmerzen. Und nach ihr kam al’Thors dunkelhaarige Geliebte an die Reihe.

Graendal scheuchte die Taube auf einen tieferen Ast. Was würde al’Thor tun? Ihre Instinkte sagten ihr, dass er keine Aktion wagen würde, nicht bevor er ihren Plan ergründet hatte. Er handelte heutzutage genauso wie in ihrem Zeitalter. Er hielt viel von Planung, davon, sich Zeit zu nehmen, um einen gewaltigen Angriff langsam aufzubauen.

Sie runzelte die Stirn. Was sagte er da? Sie konzentrierte sich stärker, versuchte den Lauten einen Sinn abzuringen. Diese verfluchten Vogelohren – die Stimmen klangen wie Krächzer. Callandor? Was redete er da von Callandorl Und einer Kiste …

Greller Lichtschein flammte in seiner Hand auf. Der Zugangsschlüssel. Graendal keuchte. Dieses Ding hatte er mitgebracht? Es war beinahe genauso schlimm wie Baalsfeuer.

Plötzlich begriff sie. Man hatte sie hereingelegt.

Von eiskalter Angst gepackt ließ sie die Taube los und riss die Augen auf. Noch immer saß sie in dem kleinen, fensterlosen Raum. Aran’gar lehnte mit verschränkten Armen neben der Tür an der Wand.

Al’Thor hatte damit gerechnet, dass man Ramshalan gefangen nahm, er hatte erwartet, dass man ihn mit einem Zwang versah. Ramshalan hatte allein dem Zweck gedient, al’Thor zu bestätigen, dass sie sich in der Festung aufhielt.

Beim Licht! Wie schlau er doch geworden ist.

Sie ließ die Wahre Macht los und umarmte das weniger wunderbare Saidar. Schnell! Sie war so verstört, dass ihre Umarmung um ein Haar scheiterte. Sie schwitzte.

Weg. Sie musste hier weg.

Sie öffnete ein neues Wegetor. Aran’gar drehte sich um und starrte durch die Mauern in al’Thors Richtung. »So viel Macht! Was tut er da?«

Aran’gar. Sie und Delana hatten das Zwangsgewebe hergestellt.

Al’Thor musste Graendal für tot halten. Wenn er den Palast vernichtete und die Zwangsgewebe blieben bestehen, würde er wissen, dass er gescheitert war und Graendal noch lebte.

Gedankenschnell erschuf Graendal zwei Abschirmungen und ließ sie einrasten, eine für Aran’gar, eine für Delana. Die Frauen keuchten auf. Graendal verknotete die Gewebe und fesselte beide mit Luft.

»Graendal?«, stieß Aran’gar panisch hervor. »Was soll das …«

Es kam heran. Graendal warf sich dem Tor entgegen, rollte hindurch, zerriss sich ihr Kleid an einem Ast. Hinter ihr wogte eine blendende Lichtflut. Hastig ließ sie das Tor zuschnappen und erhaschte einen Blick auf die entsetzte Aran’gar, bevor eine wunderschöne, reine Helligkeit alles hinter ihr verschlang.

Das Wegetor verschwand und ließ Graendal in Dunkelheit zurück.

Mit wild pochendem Herzen blieb sie dort liegen, um ein Haar geblendet vom grellen Licht. Sie hatte das schnellste Tor erschaffen, zu dem sie fähig war, das sie nur eine kurze Distanz fortbrachte. Sie lag im schmutzigen Unterholz auf einem Hügelkamm hinter dem Palast.

Eine Welle aus Falschheit überrollte sie, verzerrte die Luft. Das Muster selbst krümmte sich. Das nannte man auch Baalsschrei – ein Augenblick, in dem die Schöpfung selbst vor Schmerzen gequält aufschrie.

Am ganzen Körper zitternd, rang sie keuchend nach Luft. Aber sie musste es sehen. Sie musste es wissen. Sie stand auf. Der linke Knöchel war verstaucht. Sie humpelte zum Waldrand und schaute nach unten.

Natrins Hügel war weg – der ganze Palast. Aus dem Muster gebrannt. Sie konnte al’Thor auf seinem fernen Hügelkamm nicht sehen, aber sie wusste, wo er war.

»Du«, knurrte sie. »Du bist viel gefährlicher geworden, als ich je gedacht hätte.«

Hunderte schöner Männer und Frauen, die besten, die sie je um sich geschart hatte – weg. Ihre Festung, Dutzende Gegenstände der Macht, ihr bester Verbündeter unter den Auserwählten. Weg. Das war eine Katastrophe.

Nein, dachte sie. Ich lebe. Sie war ihm zuvorgekommen, wenn auch nur knapp. Jetzt würde er sie für tot halten.

Plötzlich war sie viel sicherer als je zuvor, seit sie aus dem Gefängnis des Dunklen Königs entkommen war. Allerdings hatte sie gerade den Tod eines Auserwählten verschuldet. Der Große Herr würde nicht erfreut sein.

Sie hinkte vom Kamm und plante bereits ihren nächsten Zug. Das würde man alles sehr sorgfältig in die Wege leiten müssen.


Galad Damodred, Kommandierender Lordhauptmann der Kinder des Lichts, zog seinen Stiefel mit einem schmatzenden Laut aus dem knöcheltiefen Schlamm.

Mücken summten in der feuchtwarmen Luft. Der Gestank nach Schlamm und stehendem Wasser drohte ihn bei jedem Atemzug würgen zu lassen, während er sein Pferd auf trockeneren Boden zog. Hinter ihm schleppte sich eine lange, vier Männer breite Marschreihe dahin, von denen jeder genauso dreckig, verschwitzt und müde wie er war.

Sie befanden sich an der Grenze zwischen Ghealdan und Altara, in einem sumpfigen Feuchtland, in dem Eichen Lorbeerbäumen und spinnenhaften Zypressen gewichen waren, deren knorrige Wurzeln sich wie Knochenfinger spreizten.

Trotz des Schattens und der dichten Wolkendecke war die stinkende Luft heiß und dick. Als würde man eine faulige Suppe einatmen. Unter seinem Brustpanzer und Kettenhemd dampfte Galad förmlich; der konisch geformte Helm hing am Sattel. Seine Haut juckte von Dreck und salzigem Schweiß.

So elendig dieser Weg auch war, es war die beste Route. Asunawa würde nicht damit rechnen. Galad fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und bemühte sich für die Männer hinter ihm um einen aufrechten Gang mit hoch erhobenem Haupt. Siebentausend Männer, die sich für ihn statt für die seanchanischen Eindringlinge entschieden hatten.

Mattgrünes Moos hing von den Ästen wie Fleischfetzen von verfaulenden Leichen. Hier und da lockerten Farbexplosionen aus sich um dahinplätschernde Bäche drängende rosafarbene oder violette Blüten das kränklich erscheinende Grau und Grün auf. Die plötzlichen bunten Flecken kamen unerwartet, als hätte jemand wahllos Farbe auf dem Boden verspritzt.

Es war seltsam, an diesem Ort Schönheit zu finden. Konnte er auch in seiner eigenen Situation Licht finden? Das war vermutlich nicht so einfach, wie er befürchtete.

Er zog stärker an Stämmigs Zügel. Ihm entgingen keineswegs die besorgten Unterhaltungen in seinem Rücken, unterstrichen von gelegentlichen Flüchen. Dieser Ort mit seinem Gestank und den blutsaugenden Insekten stellte auch die besten Männer auf die Probe. Die ganze Welt verwandelte sich in einen Ort, der diejenigen, die sich Galad angeschlossen hatten, nervös machte. Eine Welt, in der dunkle Wolken ständig den Himmel verbargen, in der seltsame Verzerrungen des Musters guten Männern den Tod brachten und in der Valda – vor Galad der Kommandierende Lordhauptmann – sich als Mörder und Vergewaltiger entpuppt hatte.

Galad schüttelte den Kopf. Die Letzte Schlacht würde bald da sein.

Klirrende Kettenglieder verkündeten, dass jemand aus der Reihe nach vorn trat. Galad schaute über die Schulter, als Dain Bornhaid eintraf, salutierte und neben ihm weiterging. »Damodred«, sagte Dain leise, während ihre Stiefel im Schlamm versanken, »vielleicht sollten wir umkehren.«

»Der Rückweg führt bloß in die Vergangenheit«, erwiderte Galad und musterte den Weg vor ihnen. »Ich habe viel darüber nachgedacht, Kind Bornhaid. Dieser Himmel, das verkümmernde Land, so wie die Toten umherwandeln … Es ist keine Zeit mehr, um Verbündete zu finden und gegen die Seanchaner zu kämpfen. Wir müssen zur Letzten Schlacht marschieren.«

»Aber dieser Sumpf«, sagte Bornhaid und schaute zur Seite, wo sich eine große Schlange durch das Unterholz schlängelte. »Unseren Karten zufolge müssten wir ihn schon lange hinter uns gelassen haben.«

»Dann befinden wir uns sicherlich an seiner Grenze.«

»Vielleicht«, sagte Dain. Schweiß floss von seiner Stirn über die Seite seines schmalen Gesichts, das zuckte. Glücklicherweise hatte er vor ein paar Tagen den letzten Vorrat seines Branntweins getrunken. »Falls die Karte nicht irrt.«

Galad antwortete nicht. Einst verlässliche Karten erwiesen sich in diesen Tagen als falsch. Offene Felder verwandelten sich in zerklüftete Hügel, Dörfer verschwanden, Weidegründe waren an einem Tag noch anbaufähig, um unvermutet von Schlingpflanzen und Pilzen überwuchert zu werden. Durchaus vorstellbar, dass der Sumpf größer geworden war.

»Die Männer sind erschöpft«, sagte Bornhaid. »Es sind gute Männer – das wisst Ihr genau. Aber sie fangen an zu murren.« Er zuckte zusammen, als würde er eine Zurechtweisung erwarten.

Vielleicht hätte Galad einst auch so reagiert. Die Kinder ertrugen ihre Strapazen mit Stolz. Aber da gab es Erinnerungen an Lektionen, die Morgase ihm beigebracht hatte – Lektionen, die er in seiner Jugend nicht begriffen hatte – und die nun an ihm nagten. Führe, indem du ein Beispiel gibst. Verlange Stärke, aber zeige sie zuerst selbst.

Galad nickte. Sie näherten sich einer trockenen Lichtung.

»Holt die Männer zusammen. Ich spreche zu denen, die vorn sind. Lasst meine Worte notieren und sie dann an die hinten weitergeben.«

Bornhaid sah überrascht aus, gehorchte aber. Galad trat zur Seite und erklomm einen kleinen Hügel. Er legte die Hand auf den Schwertgriff und musterte seine Männer, während sich die vorderen Kompanien versammelten. Zusammengesunken standen sie da, die Beine schlammverschmiert. Hände schlugen nach Mücken oder kratzten an Kragen.

»Wir sind die Kinder des Lichts«, verkündete Galad, nachdem sie sich versammelt hatten. »Das sind die dunkelsten Tage der Menschheit. Tage, in denen die Hoffnung schwach ist, Tage, in denen der Tod herrscht. Aber in den dunkelsten Nächten ist das Licht am wunderbarsten. Am Tag kann ein strahlend helles Leuchtfeuer schwach erscheinen. Aber wenn alle anderen Lichter versagen, wird es führen!

Wir sind dieses Leuchtfeuer. Dieser Sumpf ist eine Heimsuchung. Aber wir sind die Kinder des Lichts, und unsere Heimsuchungen sind unsere Stärke. Wir werden von jenen gejagt, die uns lieben sollten, und andere Wege führen zu unseren Gräbern. Und so werden wir vorwärtsgehen. Für die, die wir beschützen müssen, für die Letzte Schlacht, für das Licht!

Wo liegt der Sieg dieses Sumpfes? Ich weigere mich, seinen Biss zu spüren, denn ich bin stolz. Stolz, in diesen Tagen zu leben, stolz, ein Teil dessen zu sein, was auf uns zukommt. Sämtliche Leben, die uns in diesem Zeitalter vorangingen, warteten auf unseren Tag, den Tag, an dem die Menschheit geprüft wird. Sollen andere ihr Schicksal bejammern. Wir werden das nicht, denn wir stellen uns dieser Prüfung erhobenen Hauptes. Und sie wird beweisen, dass wir stark sind!«

Keine lange Rede, er wollte nicht ihre Zeit im Sumpf verlängern. Aber sie schien ihren Zweck zu erfüllen. Die Männer hielten sich aufrechter, und sie nickten. Vorher ausgewählte Kinder schrieben die Worte nieder und gingen dann los, um sie jenen vorzulesen, die sie nicht hatten hören können.

Als sich die Truppe wieder in Bewegung setzte, waren die Schritte nicht länger schleppend und die Haltung nicht länger zusammengesunken. Galad blieb auf seinem Hügel, nahm ein paar Berichte entgegen und stellte sich den Blicken seiner Männer, als sie ihn passierten.

Als die letzten der Siebentausend vorbei waren, entdeckte er eine kleine Gruppe am Fuß des Hügels. Kind Jaret Byar stand dabei und schaute zu ihm hoch, ein fanatisches Funkeln in den tiefliegenden Augen. Er war hager und hatte ein schmales Gesicht.

»Kind Byar«, sagte Galad und kam von dem Hügel herunter.

»Das war eine gute Rede, mein Kommandierender Lordhauptmann«, sagte Byar andächtig. »Die Letzte Schlacht. Ja, die Zeit dafür ist gekommen.«

»Sie ist unsere Last«, sagte Galad. »Und unsere Pflicht.«

»Wir reiten nach Norden«, sagte Byar. »Männer werden sich uns anschließen, und unsere Zahl wird wachsen. Eine gewaltige Streitmacht der Kinder, Zehntausende Männer. Hunderttausende! Wie eine Flutwelle werden wir über das Land brausen. Vielleicht werden wir genug Männer haben, um die Weiße Burg und die Hexen zu vernichten, statt uns mit ihnen verbünden zu müssen.«

Galad schüttelte den Kopf. »Wir werden die Aes Sedai brauchen, Kind Byar. Der Schatten verfügt über Schattenlords, Myrddraal, Verlorene.«’

»Ja, das wird wohl so sein.« Byar erschien zögerlich. Nun, die Idee hatte ihm noch nie gefallen, aber er hatte ihr zugestimmt.

»Unser Weg ist beschwerlich, Kind Byar, aber die Kinder des Lichts werden die Letzte Schlacht anführen.«

Valdas Untaten hatten den ganzen Orden befleckt. Und darüber hinaus gelangte Galad immer stärker zu der Überzeugung, dass Asunawa eine wichtige Rolle bei der Misshandlung und dem Tod seiner Stiefmutter gespielt hatte. Das bedeutete, dass der Hochinquisitor korrupt war.

Das Richtige zu tun war das Wichtigste im Leben. Dafür war jedes Opfer angebracht. Im Augenblick war Flucht der richtige Weg. Galad konnte sich Asunawa nicht stellen; der Hochinquisitor wurde von den Seanchanern unterstützt. Außerdem war die Letzte Schlacht viel wichtiger.

Galad beschleunigte seinen Schritt und stapfte durch den Schlamm auf die vorderste Reihe der Kinder zu. Sie reisten mit leichtem Gepäck, nur mit wenigen Lastpferden. Und seine Männer trugen ihre Rüstung am Leib, und ihre Pferde waren mit Vorräten beladen.

Vorn fand Galad Trom, der mit ein paar Männern in Leder und braunen Umhängen und nicht in weißen Wappenröcken und Stahlkappen sprach. Ihre Späher. Trom nickte ihm respektvoll zu; der Lordhauptmann war einer von Galads vertrauenswürdigsten Männern. »Die Späher sagen, dass da ein kleines Problem auf uns wartet, mein Lord«, sagte Trom.

»Was für ein Problem?«

»Es wäre besser, wenn ich es Euch zeige«, sagte Kind Barlett, der Anführer der Kundschafter.

Galad nickte. Voraus schien sich der Sumpfwald zu lichten. Dafür musste man dem Licht danken – bedeutete das, dass sie ihn so gut wie durchquert hatten?

Nein. Als Galad eintraf, entdeckte er mehrere Kundschafter, die einen toten Wald betrachteten. Die meisten Bäume im Sumpf wiesen Blätter auf, auch wenn sie kränklich erschienen, aber die Bäume vor ihnen erinnerten an Skelette und Asche, als wären sie verbrannt. Alles war mit widerwärtigen weißen Flechten oder Moos überwuchert. Die Baumstämme sahen verkümmert aus.

Alles war überflutet, ein breiter, aber flacher Fluss mit geringer Strömung. Er hatte die Wurzeln vieler Bäume verschlungen, und die Äste umgestürzter Stämme durchbrachen das schmutzige braune Wasser und griffen nach dem Himmel.

»Da sind Leichen, mein Kommandierender Lordhauptmann«, sagte einer der Späher und zeigte flussaufwärts. »Treiben in unsere Richtung. Sieht nach den Überresten einer vor langer Zeit geschlagener Schlacht aus.«

»Befindet sich dieser Fluss auf unseren Karten?«, wollte Galad wissen.

Ein Kundschafter nach dem anderen schüttelte den Kopf. Galad biss die Zähne zusammen. »Kann man ihn durchwaten?«

»Er ist seicht, mein Kommandierender Lordhauptmann«, sagte Kind Barlett. »Aber wir müssen auf verborgene Abgründe achten.«

Galad griff nach einem Baum in der Nähe und brach einen langen Ast ab. Das Holz zerbarst lautstark. »Ich gehe vor. Die Männer sollen Rüstungen und Umhänge ablegen.«

Der Befehl wurde nach hinten weitergegeben, und Galad nahm die Rüstung ab und wickelte sie in seinen Umhang, dann schnallte er sich alles auf den Rücken. Er schob die Hose hoch, so weit das möglich war, dann stieg er von dem schmalen Ufer und stapfte durch das schlammige Wasser. Das kalte Frühlingswasser ließ ihn sich verkrampfen. Seine Stiefel sanken einige Zoll in den sandigen Grund ein; ihre Abdrücke füllten sich mit Wasser und ließen Schlammwolken aufsteigen. Stämmig verursachte ein lautes Plätschern, als er hinter seinem Herrn ins Wasser stieg.

Das Gehen erwies sich nicht als allzu schwierig; das Wasser reichte nur bis zu Galads Knien. Mit dem Stock suchte er den besten Halt. Die sterbenden, skeletthaften Bäume beunruhigten ihn. Sie schienen gar nicht zu verfaulen, und da sich Galad jetzt näher an ihnen befand, konnte er den aschengrauen Flaum zwischen den Flechten auf Stämmen und Ästen besser sehen.

Hinter ihm veranstalteten die Kinder viel Lärm, als immer mehr von ihnen in den breiten Strom stiegen. In der Nähe trieben knollenförmige Umrisse den Fluss herunter und blieben an Felsen hängen. Bei einem Teil davon handelte sich um menschliche Leichen, aber viele waren größer. Maultiere, erkannte Galad, als er eine Schnauze ausmachte. Dutzende. So aufgequollen, wie sie waren, mussten sie schon eine Weile verendet sein.

Vermutlich hatte man stromaufwärts ein Dorf angegriffen, um Lebensmittel zu erbeuten. Das war nicht die erste Gruppe Toter, die sie fanden.

Er erreichte das andere Flussufer, dann stieg er aus dem Wasser. Als er die Hosenbeine herunterkrempelte und Rüstung und Umhang wieder anlegte, schmerzte ihn die Schulter, wo Valdas Hiebe getroffen hatten. Seine Hüfte brannte ebenfalls.

Er drehte sich um und folgte dem Wildpfad weiter nach Norden, führte den Weg an, während die anderen Kinder das Ufer erreichten. Er sehnte sich danach, Stämmig wieder zu reiten, aber er wagte es nicht. Auch wenn sie den Fluss überquert hatten, war der Boden noch immer feucht und uneben, voller verborgener Löcher. Wenn er ritt, konnte das Stämmig leicht ein gebrochenes Bein und ihm einen gebrochenen Schädel einbringen.

Also marschierten er und seine Männer weiter zu Fuß, umgeben von den grauen Bäumen, und schwitzten in der elendigen Hitze. Er sehnte sich nach einem Bad.

Schließlich kam Trom angelaufen. »Alle Männer sind sicher drüben.« Er musterte den Himmel. »Man sollte diese Wolken verbrennen. Ich kann nie sehen, wie spät es ist.«

»Vier Stunden nach Mittag«, sagte Galad.

»Seid Ihr sicher?«

»Ja.«

»Wollten wir heute Mittag nicht anhalten, um den nächsten Schritt zu besprechen?« Dieses Treffen sollte stattfinden, sobald sie den Sumpf hinter sich gelassen hatten.

»Im Augenblick haben wir nur wenig Möglichkeiten«, sagte Galad. »Ich führe die Männer nordwärts nach Andor.«

»Die Kinder sind dort… feindlich aufgenommen worden.«

»Im Nordwesten besitze ich abgeschiedenes Land. Dort wird man mich nicht abweisen, ganz egal, wer auf dem Thron sitzt.«

Gebe das Licht, dass Elayne den Löwenthron kontrollierte. Gebe das Licht, dass sie den Fesseln der Aes Sedai entkommen war, auch wenn er das Schlimmste befürchtete. So viele würden sie als Schachfigur benutzen, nicht nur al’Thor. Sie war eigensinnig, darum würde man sie leicht manipulieren können.

»Wir brauchen Vorräte«, sagte Trom. »Die Beschaffung ist schwierig, und immer mehr Dörfer sind verlassen.« Galad nickte. Eine berechtigte Sorge.

»Aber das ist ein guter Plan«, sagte Trom, um dann die Stimme zu senken. »Ich muss zugeben, Damodred, ich hatte die Befürchtung, dass Ihr das Kommando ablehnt.«

»Das konnte ich nicht. Es wäre falsch gewesen, die Kinder jetzt zu verlassen, nachdem ich ihren Anführer tötete.«

Trom lächelte. »So einfach ist das für Euch, nicht wahr?«

»Das sollte für jeden so einfach sein.« Galad musste sich der Stellung als würdig erweisen, die man ihm gegeben hatte. Er hatte keine andere Wahl. »Die Letzte Schlacht naht, und die Kinder des Lichts werden kämpfen. Und selbst wenn wir eine Allianz mit dem Wiedergeborenen Drachen höchstpersönlich schließen müssen, wir werden kämpfen.«

Eine Weile war sich Galad über al’Thor nicht sicher gewesen. Bestimmt würde der Wiedergeborene Drache bei der Letzten Schlacht kämpfen. Aber war al’Thor dieser Mann, oder war er bloß eine Marionette der Weißen Burg und in Wirklichkeit gar nicht der Wiedergeborene Drache? Der Himmel war zu finster, das Land zu zerstört. Al’Thor musste der Wiedergeborene Drache sein. Natürlich bedeutete das nicht, dass er keine Marionette der Aes Sedai war.

Bald ließen sie die an Knochen erinnernden grauen Bäume hinter sich und kamen zu welchen, die normaler aussahen. Die hatten immer noch vergilbte Blätter und zu viel abgestorbene Äste. Aber es war besser als der Flaum.

Eine Stunde später kehrte Kind Barlett zurück. Der Späher war ein schlanker Mann mit einer Narbe auf der Wange. Galad hob die Hand, als er herankam. »Was gibt es Neues?«

Barlett salutierte, indem er den Arm an die Brust führte. »In etwa einer Meile trocknet der Sumpf aus, und die Bäume lichten sich, mein Kommandierender Lordhauptmann. Das sich anschließende Feld ist offen und leer, der Weg nach Norden frei.«

Dem Licht sei Dank!, dachte Galad. Er nickte Barlett zu, und der Mann eilte zwischen die Bäume.

Galad schaute zu den Reihen der Männer zurück. Sie waren verschwitzt, verdreckt und erschöpft. Trotzdem boten sie in ihren Rüstungen und mit der Entschlossenheit in ihren Gesichtern einen großartigen Anblick. Sie waren ihm durch diesen abscheulichen Sumpf gefolgt. Es waren gute Männer.

»Gebt diese Botschaft an die anderen Lordhauptmänner weiter, Trom«, sagte Galad. »Sie sollen ihre Legionen informieren. In weniger als einer Stunde sind wir hier raus.«

Der ältere Mann lächelte und sah so erleichtert aus, wie sich Galad fühlte. Galad setzte sich wieder in Bewegung und biss die Zähne zusammen, weil sein Bein schmerzte. Der Schnitt war ordentlich verbunden, und es bestand kaum Gefahr, dass er noch weiteren Schaden anrichtete. Er war schmerzhaft, aber mit Schmerzen konnte man umgehen.

Endlich diesen Sumpf hinter sich zu lassen! Den weiteren Weg würde er sehr sorgfältig planen müssen; sie mussten allen Städten, allen Hauptstraßen und den Besitzungen einflussreicher Adliger fernbleiben. In Gedanken ging er die Karten durch – Karten, die er vor seinem zehnten Namenstag seinem Gedächtnis anvertraut hatte.

Damit war er beschäftigt, als sich das gelbe Blätterdach lichtete und das bewölkte Sonnenlicht zwischen den Asten zu Boden fiel. Bald entdeckte er Barlett, der am Waldrand wartete. Der Wald endete abrupt, fast wie ein Strich auf einer Karte.

Galad seufzte erleichtert und genoss den Gedanken, wieder im Freien zu sein. Er trat zwischen den Bäumen hervor. Und erst da erschien eine gewaltige Streitmacht auf einer Anhöhe direkt zu seiner Rechten.

Rüstungen klirrten, und Pferde wieherten, als Tausende Soldaten auf der Anhöhe Aufstellung nahmen. Einige waren Kinder in Kettenhemden und Brustpanzern, mit auf Hochglanz polierten konischen Helmen. Die makellosen Wappenröcke und Umhänge leuchteten förmlich; Lanzen hoben sich in Rängen. Die größere Zahl bestand aus Fußsoldaten, die nicht das Weiß der Kinder trugen, sondern schlichtes braunes Leder. Amadicianer, die vermutlich von den Seanchanern zur Verfügung gestellt worden waren. Viele trugen Bögen.

Galad stolperte zurück, griff nach dem Schwert. Aber er wusste sofort, dass man ihn in die Falle gelockt hatte. Nicht wenige der Kinder trugen das Zeichen mit dem Krummstab der Hand des Lichts: die Zweifler. Waren gewöhnliche Kinder eine Flamme, die das Böse ausbrennen sollte, stellten die Zweifler eine Feuersbrunst dar.

Galad machte eine schnelle Zählung. Drei- bis viertausend Kinder und wenigstens sechs- bis achttausend Fußsoldaten, davon die Hälfte mit Bögen ausgerüstet. Zehntausend ausgeruhte Soldaten. Sein Herz wurde schwer.

Trom, Bornhaid und Byar eilten begleitet von einer Gruppe Kinder hinter Galad aus dem Wald. Trom fluchte leise.

Galad wandte sich an Barlett, den Kundschafter. »Also seid Ihr ein Verräter?«

»Ihr seid der Verräter, Kind Damodred«, erwiderte der Späher mit hartem Gesichtsausdruck.

»Ja«, erwiderte Galad. »Ich vermute, das kann man so sehen, wenn man will.« Der Marsch durch den Sumpf war von seinen Kundschaftern vorgeschlagen worden. Jetzt begriff Galad: es war eine Verzögerungstaktik gewesen, eine Möglichkeit für Asunawa, um Galad zuvorzukommen. Außerdem hatte der Marsch Galads Männer erschöpft, während Asunawas Streitmacht ausgeruht zur Schlacht bereit waren.

Ein Schwert glitt aus seiner Scheide.

Galad hob sofort die Hand, ohne sich umzudrehen. »Friede, Kind Byar.« Byar würde nach seiner Waffe gegriffen haben, vermutlich um Barlett zu erschlagen.

Vielleicht konnte noch etwas gerettet werden. Galad traf schnell seine Entscheidung. »Kind Byar und Kind Bornhaid, ihr begleitet mich. Trom, Ihr und die anderen Lordhauptmänner bringt unsere Männer aus dem Wald und lasst sie auf dem Feld Aufstellung nehmen.«

In der Nähe der Front von Asunawas Streitmacht ritt eine große Gruppe Männer los, den Hügel hinunter. Viele trugen den Stab der Zweifler. Sie hätten Galads Männer auch schnell aus dem Hinterhalt töten können. Stattdessen schickten sie eine Gruppe, um zu reden. Das war ein gutes Zeichen.

Galad stieg in den Sattel und unterdrückte ein Zusammenzucken wegen der Beinwunde. Byar und Bornhaid stiegen ebenfalls auf ihre Pferde, und sie folgten ihm auf das Feld. Dichtes, vergilbtes Gras dämpfte den Hufschlag. Asunawa befand sich bei der näher kommenden Gruppe. Er hatte dichte, ergrauende Augenbrauen und war so dünn, dass er wie eine Stockpuppe erschien, über die man Stoff gezogen hatte, um Haut zu imitieren.

Asunawa lächelte nicht. Aber das tat er ohnehin nur selten.

Galad zügelte sein Pferd vor dem Hochinquisitor. Asunawa wurde von einer kleinen Abteilung seiner Zweifler begleitet, aber da waren auch fünf Lordhauptmänner, die Galad während ihrer kurzen Zeit bei den Kindern alle entweder kennengelernt oder unter ihrem Befehl gedient hatte.

Asunawa beugte sich auf seinem Sattel nach vorn und kniff die tief in den Höhlen liegenden Augen zusammen. »Eure Rebellen formieren sich zu Rängen. Befehlt ihnen aufzugeben, oder meine Bogenschützen eröffnen das Feuer.«

»Sicherlich würdet Ihr doch nicht die Regeln einer formellen Schlacht ignorieren?«, meinte Galad. »Ihr würdet die Männer beschießen, während sie Aufstellung nehmen? Wo ist Eure Ehre geblieben?«

»Schattenfreunde verdienen keine Ehre«, fauchte Asunawa. »Sie verdienen auch kein Mitleid.«

»Also bezeichnet Ihr uns jetzt als Schattenfreunde?«, fragte Galad und zog sein Pferd ein Stück zur Seite. »Alle siebentausend Kinder, die unter Valdas Kommando standen?

Männer, mit denen Eure Soldaten gedient haben, mit denen sie aßen und an deren Seite sie kämpften? Männer, über die Ihr selbst noch vor zwei Monaten gewacht habt?«

Asunawa zögerte. Siebentausend Kinder als Schattenfreunde zu bezeichnen würde lächerlich sein – es würde bedeuten, dass zwei von drei der übrig gebliebenen Kinder zum Schatten übergelaufen waren.

»Nein«, sagte Asunawa. »Vielleicht sind sie einfach nur … fehlgeleitet. Selbst ein guter Mann kann sich auf einen mit Schatten behafteten Pfad verirren, wenn seine Anführer Schattenfreunde sind.«

»Ich bin kein Schattenfreund.« Galad erwiderte Asunawas Blick.

»Unterwerft Euch meiner Befragung und beweist es.«

»Der Kommandierende Lordhauptmann unterwirft sich niemandem«, sagte Galad. »Beim Licht befehle ich Euch, die Waffen niederzulegen.«

Asunawa lachte. »Kind, wir halten Euch das Messer an den Hals! Das ist Eure Chance, Euch zu ergeben!«

»Golever«, sagte Galad und sah den Lordhauptmann zu Asunawas Linken an. Golever war ein schlanker, bärtiger Mann, so hart, wie es nur vorstellbar war – aber er war auch gerecht. »Sagt mir, ergeben sich die Kinder des Lichts?«

Golever schüttelte den Kopf. »Das tun wir nicht. Das Licht wird uns den Sieg bringen.«

»Und wenn wir einer überlegenen Macht gegenüberstehen?«, fragte Galad.

»Wir kämpfen weiter.«

»Wenn wir erschöpft und wund sind?«

»Das Licht beschützt uns«, sagte Golever. »Und wenn unsere Zeit zu sterben gekommen ist, dann soll es so sein. Lasst uns so viele unserer Feinde mitnehmen, wie wir können.«

Galad wandte sich wieder Asunawa zu. »Ihr seht, dass ich in der Zwickmühle stecke. Kämpfen wir, erlauben wir Euch damit, uns als Schattenfreunde zu bezeichnen. Ergeben wir uns aber, verstoßen wir gegen unseren Eid. Bei meiner Ehre als Kommandierender Lordhauptmann kann ich keine der beiden Möglichkeiten akzeptieren.«

Asunawas Miene verfinsterte sich. »Ihr seid nicht der Kommandierende Lordhauptmann. Er ist tot.«

»Durch meine Hand«, sagte Galad, zog seine Waffe und hielt sie so, dass die Reiher im Licht funkelten. »Und ich halte dieses Schwert. Wollt Ihr abstreiten, dass Ihr selbst Zeuge wart, wie ich Valda in ehrlichem Zweikampf gegenübertrat, wie es das Gesetz vorschrieb?«

»Das Gesetz vielleicht«, sagte Asunawa. »Aber ich würde es nicht als fairen Kampf bezeichnen. Ihr habt die Macht des Schattens zu Hilfe genommen; ich sah Euch trotz des Tageslichts in der Dunkelheit stehen, und ich sah, wie der Drachenzahn aus Eurer Stirn wuchs. Valda hatte nie auch nur die geringste Chance.«

»Harnesh«, sagte Galad und wandte sich an den Lordhauptmann an Asunawas Seite. Er war ein kleiner Mann, kahlköpfig und nur mit einem Ohr; das andere hatte er im Kampf gegen Drachenverschworene verloren. »Sagt mir: Ist der Schatten stärker als das Licht?«

»Natürlich nicht«, erwiderte der Mann und spuckte aus.

»Wäre die Sache des Kommandierenden Lordhauptmanns ehrenhaft gewesen, wäre er mir bei einem Kampf unter dem Licht unterlegen? Wäre ich ein Schattenfreund, hätte ich den Kommandierenden Lordhauptmann töten können?«

Harnesh antwortete nicht, aber Galad konnte beinahe sehen, welche Gedanken ihm durch den Kopf gingen. Der Schatten vermochte manchmal Stärke zu zeigen, aber das Licht enthüllte sie immer und zerstörte sie. Es war möglich, dass der Kommandierende Lordhauptmann einem Schattenfreund zum Opfer fiel – jeder Mann konnte im Kampf sterben. Aber in einem Duell vor den anderen Kindern? Ein Ehrenduell, unter dem Licht?

»Manchmal zeigt der Schatten Verschlagenheit und Kraft«, mischte sich Asunawa ein, bevor Galad weiter seine Fragen stellen konnte. »Manchmal sterben gute Männer.«

»Ihr alle wisst, was Valda tat«, sagte Galad. »Meine Mutter ist tot. Gibt es ein Argument gegen mein Recht, ihn herauszufordern?«

»Als Schattenfreund habt Ihre keine Rechte! Ich rede nicht länger mit Euch, Mörder.« Asunawa hob die Hand, und mehrere seiner Zweifler zogen die Schwerter. Sofort taten Galads Begleiter das Gleiche. Er konnte hören, wie seine erschöpften Streitkräfte hinter ihm die Ränge schlossen.

»Was wird mit uns geschehen, Asunawa, wenn Kind gegen Kind kämpft?«, fragte Galad leise. »Ich ergebe mich nicht, und ich würde Euch nicht angreifen, aber vielleicht können wir uns wieder vereinen. Nicht als Feinde, sondern als Brüder, die eine Weile getrennt waren.«

»Ich werde niemals Umgang mit Schattenfreunden pflegen«, sagte Asunawa, obwohl er zögerlich klang. Er beobachtete Galads Männer. Asunawa würde eine Schlacht gewinnen, aber wenn sich Galads Männer energisch wehrten, würde es ein teurer Sieg werden. Beide Seiten würden Tausende verlieren.

»Ich ergebe mich Euch«, sagte Galad. »Unter bestimmten Bedingungen.«

»Nein!«, sagte Bornhaid hinter ihm, aber Galad hob die Hand und brachte ihn zum Schweigen.

»Was für Bedingungen?«, wollte Asunawa wissen.

»Ihr schwört vor dem Licht und Euren Lordhauptmännern, keinem der Männer, die mir folgten, zu schaden, sie der Befragung zu unterziehen oder sie sonst wie zu verurteilen. Sie taten nur das, was sie für richtig hielten.«

Asunawa kniff die Augen zusammen; sein Mund wurde zu einem schmalen Strich.

»Das schließt meine Gefährten hier mit ein«, sagte Galad und wies mit dem Kopf auf Byar und Bornhaid. »Jeder Mann, Asunawa. Sie dürfen nie der Befragung unterzogen werden.«

»Ihr könnt die Hand des Lichts nicht auf diese Weise behindern! Damit könnten sie den Schatten suchen, wie sie wollten!«

»Ist es nur die Furcht vor der Befragung, die uns im Licht hält, Asunawa?«, fragte Galad. »Sind die Kinder nicht tapfer und wahrhaftig?«

Asunawa verstummte. Galad schloss die Augen und fühlte die Bürde der Führung. Jeder Augenblick, den er das hier hinauszögern konnte, erhöhte die Verhandlungsposition für seine Männer. Er öffnete die Augen. »Asunawa, die Letzte Schlacht kommt. Wir haben keine Zeit für Streitereien. Der Wiedergeborene Drache wandelt im Land.«

»Häresie!«, sagte Asunawa.

»Ja«, erwiderte Galad. »Außerdem ist es die Wahrheit.«

Asunawa knirschte mit den Zähnen, schien aber über das Angebot nachzudenken.

»Galad«, sagte Bornhaid leise. »Tut das nicht. Wir können kämpfen. Das Licht wird uns beschützen!«

»Wenn wir kämpfen, töten wir gute Männer, Kind Bornhaid«, sagte Galad, ohne sich umzudrehen. »Jeder Hieb unserer Schwerter wird ein Hieb für den Dunklen König. Die Kinder sind das einzige wahrhaftige Fundament, das diese Welt noch hat. Wir werden gebraucht. Wenn mein Leben dafür bestimmt ist, diese Einheit herbeizuführen, dann soll es eben so sein. Ihr würdet sicher das Gleiche tun.« Er erwiderte Asunawas Blick.

»Ergreift ihn«, fauchte Asunawa. Er sah unzufrieden aus. »Und befehlt den Legionen, sich zu ergeben. Informiert sie, dass ich den falschen Kommandierenden Lordhauptmann in Gewahrsam genommen habe und dass ich ihn Befragen werde, um das Ausmaß seiner Verbrechen zu ergründen.« Er zögerte. »Aber verkündet auch die Nachricht, dass die, die ihm folgten, weder bestraft noch der Befragung unterworfen werden.« Asunawa zog sein Pferd herum und ritt los.

Galad drehte sein Schwert und gab es Bornhaid. »Kehrt zu unseren Männern zurück; berichtet ihnen, was hier geschehen ist, und lasst sie nicht kämpfen oder versuchen, mich zu retten. Das ist ein Befehl.«

Bornhaid erwiderte seinen Blick, dann nahm er langsam das Schwert entgegen. Und salutierte. »Ja, mein Kommandierender Lordhauptmann.«

Sobald sie die Pferde angetrieben hatten, griffen raue Hände nach Galad und zerrten ihn aus Stämmigs Sattel. Er landete hart auf dem Boden, seine schlimme Schulter sandte einen stechenden Schmerz durch seine Brust. Er wollte aufstehen, aber mehrere Zweifler stiegen ab und schlugen ihn nieder.

Einer stemmte Galad einen Stiefel in den Rücken, und er hörte das metallische Scharren eines gezogenen Messers. Sie schnitten ihm Rüstung und Kleidung vom Leib.

»Du wirst nicht die Uniform eines Kindes des Lichts tragen, Schattenfreund«, sagte ein Zweifler zu ihm.

»Ich bin kein Schattenfreund«, erwiderte Galad, das Gesicht auf den grasigen Boden gedrückt. »Diese Lüge werde ich niemals aussprechen. Ich wandle im Licht.«

Das brachte ihm einen Tritt in die Seite ein, dann noch einen und noch einen. Grunzend krümmte er sich zusammen. Aber die Schläge hagelten weiter auf ihn herab.

Schließlich überkam ihn die Dunkelheit.


Die Kreatur, die einst Padan Fain gewesen war, schritt den Hügel hinunter. Braunes Unkraut spross in zerfurchten Büscheln, wie Haare am Kinn eines Bettlers.

Der Himmel war schwarz. Ein Sturm. Das gefiel Fain, auch wenn er den hasste, der dafür verantwortlich war.

Hass. Das war der Beweis, dass er noch lebte, das letzte noch vorhandene Gefühl. Das einzige Gefühl. Das Einzige, das es noch geben konnte.

Es verzehrte ihn. War aufregend. Wunderschön. Wärmend. Gewalttätig. Hasserfüllt. Wunderbar. Es war der Sturm, der ihm Kraft verlieh, das eine Ziel, das ihn antrieb. Al’Thor würde sterben. Durch seine Hand. Und danach vielleicht der Dunkle König. Wunderbar …

Die Kreatur, die einst Padan Fain gewesen war, fummelte an ihrem wunderschönen Dolch herum, betastete die Kanten des Musters in dem feinen Golddraht, mit dem der Griff umwickelt war. Das Ende des Griffs war mit einem großen Rubin besetzt, und Fain trug die Waffe in der rechten Hand, sodass die Klinge zwischen den ersten beiden Fingern hervorragte. An den Seiten wiesen die Finger Dutzende von Schnitten auf.

Von der Dolchspitze tropfte Blut ins Unkraut. Blutrote Flecken, die ihn aufmunterten. Unten rot, oben schwarz. Perfekt. Rief sein Hass den Sturm herbei? So musste es sein. Ja.

Die Blutstropfen fielen neben die schwarzen Flecken, die auf den toten Blättern erschienen, während er weiter nach Norden in die Große Fäule marschierte.

Er war verrückt. Das war gut. Wenn man den Wahnsinn akzeptierte – ihn umarmte und sich daran labte, als wäre er Sonnenlicht oder Wasser oder die Luft selbst -, wurde er zu einem weiteren Teil seiner selbst. Wie eine Hand oder ein Auge. Wahnsinn konnte einen sehen lassen. Mit Wahnsinn konnte man Dinge halten. Es war wunderbar. Befreiend.

Endlich war er frei.

Die Kreatur, die einst Mordeth gewesen war, erreichte den Fuß des Hügels und schaute nicht zurück zu der großen, annähernd purpurfarbenen Masse, die sie oben zurückgelassen hatte. Es war ein schmutziges Werk, Würmer auf die richtige Weise zu töten, aber manche Dinge konnten nur auf die richtige Weise erledigt werden. Das war das Prinzip des Ganzen.

Nebel war aus dem Boden aufgestiegen und folgte ihm. War dieser Nebel sein Wahnsinn, oder war er sein Hass? Er kam ihm so vertraut vor. Schlängelte sich um seine Knöchel und schnappte nach seinen Fersen.

An einem Hang in der Nähe schaute etwas hervor und duckte sich sofort zurück. Würmer starben laut. Würmer taten alles laut. Ein Rudel Würmer konnte eine ganze Legion vernichten. Hörte man sie, schlug man die andere Richtung ein, und zwar schnell. Andererseits konnte es von Vorteil sein, Späher auszuschicken, um die Richtung zu ergründen, in der sich das Rudel bewegte. Damit man anderswo nicht wieder darauf stieß.

Und so war die Kreatur, die einst Padan Fain gewesen war, keineswegs überrascht, als sie den Hügel umrundete und auf eine nervöse Gruppe Trollocs stieß, die ein Myrddraal anführte.

Fain lächelte. Meine Freunde. Es war viel zu lange her.

Es dauerte einen Augenblick, bis der dumpfe Verstand der Trollocs zu dem offensichtlichen, wenn auch falschen Schluss kam: wenn ein Mann umherwanderte, dann konnten keine Würmer in der Nähe sein. Sie hätten sein Blut gerochen und sich auf ihn gestürzt. Würmer zogen Menschen immer Trollocs vor. Das machte Sinn. Die Kreatur, die einst Mordeth gewesen war, hatte von beiden gegessen, und Trollocfleisch hatte nur wenige Vorzüge.

Die Trollocs rannten los, ein wildes Rudel, Federn, Schnäbel, Krallen, Zähne, Stoßzähne. Die Kreatur, die einst Fain gewesen war, blieb ruhig stehen. Der Nebel strich über ihre nackten Füße. Wie wunderbar! Der Myrddraal hinter der Gruppe zögerte, sein augenloser Blick richtete sich auf sie. Vielleicht spürte er ja, dass hier etwas auf schreckliche Weise nicht stimmte. Da hatte er natürlich recht. Das eine ohne das andere war nicht möglich. Das würde keinen Sinn ergeben.

Die Kreatur, die einst Mordeth gewesen war – er würde bald einen neuen Namen brauchen -, lächelte breit.

Der Myrddraal wandte sich zur Flucht.

Der Nebel schlug zu.

Er schlug über den Trollocs zusammen, bewegte sich schnell wie die Tentakel eines der Leviathane aus dem Aryth-Meer. Sie peitschten durch die Brust der Trollocs. Schnell wie ein Schemen schoss ein langer Strang über ihre Köpfe und traf den Blassen im Nacken.

Die Trollocs brüllten auf, sackten zuckend zu Boden. Büschelweise fiel ihnen das Fell aus, ihre Haut fing an zu kochen. Blasen und Zysten. Wenn sie platzten, hinterließen sie kraterhafte Pocken auf der Haut des Schattengezüchts, die an die Blasen auf der Oberfläche von Eisen erinnerten, das zu schnell abgekühlt war.

Die Kreatur, die einst Padan Fain gewesen war, öffnete begeistert den Mund, schloss die Augen und hob das Gesicht zu dem brodelnden schwarzen Himmel, genoss das Festmahl. Nachdem es vorbei war, seufzte sie und packte den Dolch fester – schnitt sich ins Fleisch.

Unten rot, oben schwarz. Rot und Schwarz, Rot und Schwarz, so viel Rot und Schwarz. Wunderbar.

Fain ging weiter in die Fäule hinein.

Hinter ihm stiegen die verdorbenen Trollocs auf die Füße, setzten sich taumelnd in Bewegung, während der Sabber von ihren Lippen tropfte. Ein dumpfer Ausdruck war in ihre Augen getreten, aber sollte er es wünschen, würden sie mit einer zügellosen Kampfeslust reagieren, die alles übertraf, was sie im Leben gekannt hatten.

Den Myrddraal ließ er zurück. Der Blasse würde sich nicht wieder erheben, auch wenn die Gerüchte anderes besagten. Fains Berührung brachte jetzt jedem seiner Sorte den sofortigen Tod. Schade. Er hatte ein paar hübsche Nägel, für die er ansonsten eine gute Verwendung gehabt hätte.

Vielleicht sollte er sich ein paar Handschuhe besorgen. Aber wenn er das tat, konnte er sich nicht länger in die Hand schneiden. Welch ein Problem.

Egal. Weiter. Die Zeit war gekommen, al’Thor zu töten.

Dass die Jagd enden musste, machte ihn traurig. Aber die Jagd hatte jeden Sinn verloren. Man jagte nichts, wenn man genau wusste, wo es sein würde. Man begab sich einfach an den Ort, um es zu erwarten.

Wie einen alten Freund. Einen geliebten alten Freund, den man ins Auge stechen würde, dem man den Bauch aufschlitzen und dann seine Eingeweide fressen würde, während man sein Blut trank. Das war die einzig richtige Methode, Freunde zu behandeln.

Es war eine Ehre.


Malenarin Rai blätterte die Vorratsberichte durch. Der verfluchte Schlagladen am Fenster hinter ihm flog wieder auf und ließ die feuchte Hitze der Fäule hinein.

Obwohl er nun schon zehn Jahre als Kommandant von Turm Heeth diente, hatte er sich noch immer nicht an die Hitze des Hochlands gewöhnt. Feucht. Schwül. Die Luft oft vom Gestank nach Fäulnis erfüllt.

Der pfeifende Wind rüttelte an dem hölzernen Schlagladen. Er stand auf, ging zu ihm hin und zog ihn wieder zu, dann wickelte er ein Stück Schnur um den Griff, damit er geschlossen blieb.

Er ging zurück zum Schreibtisch und schaute auf den Dienstplan der neu eingetroffenen Soldaten. Neben jedem Namen stand eine besondere Befähigung – hier oben musste jeder Soldat mehrere Pflichten erfüllen können. Fertigkeiten in der Wundversorgung. Flinke Füße, um Botschaften zu überbringen. Ein scharfes Auge für den Bogen. Die Fähigkeit, denselben alten Brei wie frischen Brei schmecken zu lassen. Malenarin fragte stets nach Männern der letzten Gruppe. Ein Koch, der dafür sorgte, dass die Soldaten gern in den Speisesaal strömten, war sein Gewicht in Gold wert.

Malenarin schob den neuen Bericht zur Seite und beschwerte ihn mit einem bleigefüllten Trolloc-Horn, das er für diesen Zweck hatte. Das nächste Blatt auf dem Stapel war ein Brief von einem Mann namens Barriga, ein Kaufmann, der seine Karawane zum Turm führte, um dort Handel zu treiben. Malenarin lächelte; er war zuerst Soldat, aber die drei Silberketten auf seiner Brust zeichneten ihn als Meisterkaufmann aus. Obwohl sein Turm den größten Teil seiner Vorräte direkt von der Königin bekam, wurde keinem Kandori-Kommandanten verweigert, mit Kaufleuten zu feilschen.

Wenn er Glück hatte, würde er den ausländischen Kaufmann bei den Verhandlungen unter den Tisch trinken. Malenarin hatte mehr als nur einen Kaufmann zu einem Jahr Militärdienst gezwungen als Buße für Handelsabschlüsse, die er nicht hatte erfüllen können. Ein Jahr der Ausbildung bei den Streitkräften der Königin tat fetten ausländischen Kaufleuten oft richtig gut.

Er legte das Papier neben das Trolloc-Horn, dann zögerte er, als er das letzte Blatt sah, das unten auf dem Stapel nach seiner Aufmerksamkeit verlangte. Es war eine Erinnerung seines Verwalters. Keemlin, sein ältester Sohn, näherte sich seinem vierzehnten Namenstag. Als könnte Malenarin das vergessen! Dafür brauchte er keine Erinnerung.

Er lächelte und legte das Trolloc-Horn auf die Notiz für den Fall, dass der Schlagladen wieder aufflog. Er hatte den Trolloc, dem dieses Horn gehört hatte, selbst erschlagen. Er ging zur Wand des Arbeitszimmers und öffnete seine abgenutzte Eichentruhe. Unter anderem enthielt sie ein in ein Tuch eingewickeltes Schwert, dessen braune Scheide zwar gut geölt und gepflegt, aber im Laufe der Zeit verblichen war. Das Schwert seines Vaters.

In drei Tagen würde er es Keemlin überreichen. An seinem vierzehnten Namenstag wurde ein Junge zum Mann, an diesem Tag erhielt er sein erstes Schwert und übernahm die Verantwortung für sich selbst. Keemlin hatte hart daran gearbeitet, die Schwertfiguren zu lernen; Malenarin hatte die strengsten Ausbilder besorgt, die es gab. Bald würde sein Sohn zum Mann. Wie schnell doch die Jahre vergingen.

Malenarin holte beseelt Luft, dann schloss er die Truhe, stand auf und verließ den Raum für seine tägliche Runde. Der Turm beherbergte zweihundertfünfzig Soldaten, eine Verteidigungsbastion, die die Große Fäule beobachtete.

Eine Pflicht zu haben bedeutete, Stolz zu haben – so wie einem das Tragen einer Last Stärke verlieh. Die Fäule zu beobachten war seine Pflicht und seine Stärke, und in diesen Tagen war es besonders wichtig, wütete doch der seltsame Sturm im Norden, und die Königin war mit dem größten Teil der kandorischen Armee losgezogen, um den Wiedergeborenen Drachen zu suchen. Er zog die Tür hinter sich zu, dann legte er den verborgenen Riegel um, der sie von der anderen Seite verschloss. Es war nur eine von mehreren Türen im Korridor; ein den Turm stürmender Feind würde nicht wissen, welche davon zur Treppe nach oben führte. Auf diese Weise konnte ein kleines Arbeitszimmer als Teil der Turmverteidigung dienen.

Er ging zur Treppe. Diese oberen Etagen waren vom Boden aus nicht zugänglich – der ganze untere Teil des Turms war eine vierzig Fuß hohe Falle. Ein Feind, der das Erdgeschoss betrat und drei Stockwerke Mannschaftsquartiere hinaufstieg, würde entdecken, dass es keinen Weg in den vierten Stock gab. Der einzige Weg zur vierten Ebene war eine schmale, einziehbare Rampe an der Turmaußenseite, die von der zweiten Ebene zur vierten führte. Angreifer waren dort dem Beschuss von oben deckungslos ausgesetzt. Sobald es ein paar von ihnen nach oben geschafft hatten, konnten die Kandori die Rampe einziehen und damit die feindliche Streitkraft teilen; die es bis oben geschafft hatten, würden bei dem Versuch getötet, den Weg zu den Treppen im Inneren zu finden.

Malenarin schritt mit schnellem Schritt in die Höhe. Schlitze an der Treppenhausseite schauten auf die unten liegenden Stufen hinaus und erlaubten es Bogenschützen, auf Eindringlinge zu schießen. Auf halbem Weg nach oben hörte er hastige Schritte entgegenkommen. Eine Sekunde später kam Jargen, der Sergeant der Wache, um die Biegung. Wie die meisten Kandori trug Jargen einen Gabelbart; sein schwarzes Haar war mit grauen Strähnen durchzogen.

Jargen war am Tag seines vierzehnten Namenstags in die Fäulniswache eingetreten. Er trug eine Kordel um die Schulter seiner braunen Uniform; jeder Knoten darin stand für einen von ihm getöteten Trolloc. Mittlerweile mussten es fast fünfzig Knoten sein.

Jargen salutierte, indem er den Arm an die Brust führte, dann senkte er die Hand und legte sie auf das Schwert, ein Zeichen des Respekts für seinen Kommandanten. In vielen Ländern stellte es eine Beleidigung dar, die Waffe auf diese Art zu halten, aber Südländer waren für ihre Reizbarkeit und ihr überschäumendes Temperament bekannt. Konnten sie nicht begreifen, dass es eine Ehre darstellte, das Schwert zu halten und damit anzudeuten, dass man seinen Kommandanten für eine würdige Bedrohung hielt?

»Mein Lord«, sagte Jargen mit rauer Stimme. »Ein Blitz von Turm Rena.«

»Was?«, fragte Malenarin. Die beiden Männer stiegen Seite an Seite nach oben.

»Es war deutlich zu erkennen, Herr«, sagte Jargen. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Nur ein Blitz, aber er war da.«

»Haben sie eine Korrektur geschickt?«

»Vielleicht in der Zwischenzeit. Ich lief los, um Euch zu holen.«

Falls es noch mehr Neuigkeiten gegeben hatte, hätte Jargen sie mitgeteilt, also verschwendete Malenarin seinen Atem nicht dafür, ihn auszufragen. Sie traten auf die Turmspitze, wo ein gewaltiger Mechanismus aus Spiegeln und Lampen stand. Mit dem Apparat konnte der Turm Botschaften nach Osten oder Westen schicken – wo andere Türme an der Grenze zur Großen Fäule standen – und nach Süden entlang einer Reihe von Türmen, die bis zum Aesdaishar-Palast in Chachin reichten.

Vor diesem Turm breitete sich das gewaltige, hügelige Hochland von Kandor aus. An einigen der südlichen Hügel hafteten noch immer die Reste des Morgennebels. Das Land im Süden, das von dieser unnatürlichen Hitze verschont blieb, würde bald ergrünen, und die Hirten würden die höher gelegenen Weidegründe erklimmen, um dort ihre Schafe grasen zu lassen.

Im Norden lag die Große Fäule. Malenarin hatte von den Tagen gelesen, in denen die Fäule von diesem Turm kaum zu sehen gewesen war. Jetzt reichte sie beinahe bis zu seinem Fundament. Turm Rena lag ebenfalls im Nordwesten. Sein Kommandant Lord Niach von Haus Okatomo war ein entfernter Cousin und guter Freund. Grundlos würde er keinen Blitz geschickt haben, und bei einem Versehen hätte er eine Korrektur geschickt.

»Weitere Nachrichten?«, fragte Malenarin.

Die Wachsoldaten schüttelten die Köpfe. Jargen tippte mit dem Fuß auf, und Malenarin verschränkte die Arme, um auf eine Korrektur zu warten.

Nichts geschah. Turm Rena stand mittlerweile innerhalb der Großen Fäule, da er weiter im Norden lag als Turm Heeth. Normalerweise war seine Position innerhalb der Fäule kein Thema. Selbst die furchteinflößendsten Kreaturen der Fäule wussten es besser, als einen Kandori-Turm anzugreifen.

Keine Korrektur kam. Nicht einmal ein Funkeln. »Sendet eine Nachricht an Rena«, befahl Malenarin. »Fragt sie, ob der Blitz ein Versehen war. Dann fragt Turm Farmay, ob ihnen etwas Seltsames aufgefallen ist.«

Jargen schickte die Männer an die Arbeit, warf dabei allerdings Malenarin einen Blick zu, als wollte er fragen: ›Glaubt Ihr, das habe ich nicht bereits getan?‹ Das bedeutete, dass Botschaften geschickt worden waren, es aber keine Antwort gegeben hatte. Wind blies über die Turmspitze und ließ das Eisen des Spiegelapparats quietschen, während seine Männer eine Reihe Blitze schickte. Dieser Wind war warm. Viel zu heiß. Malenarin schaute nach oben, wo der schwarze Sturm noch immer unverändert brodelte. Er schien sich etwas beruhigt zu haben.

Das bereitete ihm großes Unbehagen.

»Schickt eine Botschaft zu den Türmen im Hinterland«, sagte Malenarin. »Berichtet ihnen, was wir gesehen haben; sie sollen sich bereithalten, falls es Ärger gibt.«

Die Männer machten sich an die Arbeit.

»Sergeant«, sagte Malenarin, »wer ist der Nächste auf der Botenliste?«

Zur Turmbesatzung gehörte eine kleine Gruppe von Jungen, die ausgezeichnete Reiter waren. Als Leichtgewichte konnten sie auf schnellen Pferden reiten, sollte ein Kommandant sich entscheiden, auf die Spiegel zu verzichten. Spiegellicht war schnell, aber es konnte auch vom Feind gesehen werden. Und sollte die Turmreihe unterbrochen oder der Apparat beschädigt sein, mussten sie die Hauptstadt benachrichtigen.

»Der Nächste auf dem Dienstplan…«, sagte Jargen und warf einen Blick auf die Liste, die neben der Tür zum Dach angenagelt war. »Das wäre Keemlin, mein Lord.« Keemlin. Sein Keemlin.

Malenarin starrte finster nach Nordwesten zu dem stummen Turm, der so unheilvoll geblitzt hatte. »Lasst mich wissen, wenn es auch nur den Hauch einer Bestätigung von den anderen Türmen gibt«, befahl Malenarin den Soldaten. »Jargen, Ihr kommt mit mir.«

Die beiden eilten die Stufen hinunter. »Wir müssen einen Boten nach Süden schicken«, sagte Malenarin und zögerte dann. »Nein. Nein, wir müssen mehrere Boten schicken. Verdoppelt sie. Nur für den Fall, dass die Türme stürzen.« Er setzte sich wieder in Bewegung.

Die beiden Männer verließen das Treppenhaus und betraten Malenarins Arbeitsgemach. Er schnappte sich die beste Schreibfeder von dem Gestell an der Wand. Der verdammte Schlagladen klapperte schon wieder; die Papiere auf seinem Schreibtisch knisterten, als er ein unbeschriebenes Blatt hervorzog.

Rena und Farmay reagieren nicht auf Blitzbotschaften. Möglicherweise überrannt oder ernsthaft gehindert. Habt Acht. Heeth hält stand.

Er faltete das Blatt und überreichte es Jargen. Der Mann nahm es mit seiner schwieligen Hand, las es und grunzte. »Also zwei Kopien?«

»Drei«, erwiderte Malenarin. »Mobilisiert die Bogenschützen und schickt sie aufs Dach. Sagt ihnen, die Gefahr könnte von oben kommen.«

Falls er sich nicht nur vor Schatten erschreckte – falls die Türme zu beiden Seiten von Heeth tatsächlich so schnell ausgeschaltet worden waren -, dann konnte das auch jenen im Süden zugestoßen sein. Und hätte er einen solchen Angriff geführt, hätte er alles in seiner Macht Stehende getan, um sich an ihnen vorbeizuschleichen und den südlichsten Turm als Ersten zu überfallen. Das war die beste Methode, um sicherzustellen, dass es keine Botschaften mehr in die Hauptstadt gab.

Jargen salutierte mit der Faust an der Brust und ging. Die Botschaft würde sofort losgeschickt; dreimal auf dem Rücken von Pferden, einmal auf flinken Füßen. Malenarin erlaubte sich, einen Hauch von Erleichterung zu spüren, weil sein Sohn zu jenen gehörte, die in die Sicherheit ritten. Darin lag keine Ehrlosigkeit; die Botschaften mussten überbracht werden, und Keemlin war der Nächste auf dem Dienstplan.

Malenarin schaute aus dem Fenster. Es lag nach Norden gerichtet, auf die Fäule zu. Das war bei jedem Kommandantengemach so. Der brodelnde Sturm mit seinen silbrigen Wolken. Manchmal sahen sie wie richtige geometrische Muster aus. Er hatte gut zugehört, was die vorbeikommenden Händler erzählten. Schwierige Zeiten waren im Anmarsch. Die Königin wäre nicht nach Süden gezogen, um einen falschen Drachen zu suchen, ganz egal wie schlau oder einflussreich er sein mochte. Sie glaubte fest an ihn.

Die Zeit für Tarmon Gai’don war gekommen. Und wenn Malenarin in den Sturm blickte, glaubte er den Rand der Zeit selbst sehen zu können. Ein Rand, der nicht so weit weg war. Tatsächlich schien es dunkler zu werden. Und es lag eine Dunkelheit darunter, auf dem Boden im Norden.

Die Dunkelheit kam näher.

Malenarin eilte aus dem Zimmer und raste die Stufen zum Dach hinauf, wo der Wind gegen die an den Spiegeln beschäftigten Männer anstürmte.

»Ist die Nachricht nach Süden gesandt worden?«, wollte er wissen.

»Ja, Herr«, meldete Leutnant Landalin. Man hatte ihn geweckt, um das Kommando auf dem Turm zu übernehmen. »Noch keine Erwiderung.«

Malenarin schaute in die Tiefe und sah drei Reiter, die in vollem Galopp vom Turm wegstrebten. Die Botschafter waren unterwegs. Falls Barklan nicht angegriffen worden war, würden sie dort anhalten. Der dortige Hauptmann würde sie weiter nach Süden schicken, nur für alle Fälle. Und sollte Barklan nicht mehr stehen, würden die Jungs weiterreiten, falls nötig bis zur Hauptstadt.

Malenarin wandte sich wieder dem Sturm zu. Die näher kommende Dunkelheit hatte ihn nervös gemacht. Sie kam.

»Bringt die Vorräte hinauf«, befahl er Landalin. »Bringt die Sachen aus dem Lager nach oben und leert die Keller. Die Ladearbeiter sollen alle Pfeile zusammenholen und Sammelpunkte einrichten, wo sie die Bogenschützen mit Nachschub versorgen können. Stellt an jedem Engpass, jeder Schießscharte und jedem Fenster Bogenschützen auf. Zündet die Feuertöpfe an, und haltet Männer bereit, um die Außenrampen abzuwerfen. Bereitet euch auf die Belagerung vor.«

Während Landalin Befehle brüllte, eilten Männer schon los. Malenarin hörte hinter sich Stiefel über Stein schaben, und er warf einen Blick über die Schulter. Kam Jargen zurück?

Nein. Es war ein Junge von beinahe vierzehn Sommern, der noch zu jung für einen Bart war; sein dunkles Haar war zerzaust und sein Gesicht vermutlich vom Emporstürmen der sieben Turmebenen schweißbedeckt.

Keemlin. Malenarin verspürte einen Stich der Furcht, der sofort durch Wut ersetzt wurde. »Soldat! Ihr solltet eine Botschaft überbringen!«

Keemlin biss sich auf die Lippe. »Nun, Herr«, sagte er. »Tian, vier Plätze unter mir. Er ist fünf, vielleicht sogar zehn Pfund leichter als ich. Das macht einen großen Unterschied, Herr. Er reitet viel schneller, und ich dachte, dass es sich um eine wichtige Botschaft handelt. Also bat ich darum, dass er an meiner Stelle reitet.«

Malenarin runzelte die Stirn. Um sie herum eilten Soldaten umher, rannten die Stufen hinunter oder versammelten sich mit ihren Bögen an der Turmbrüstung. Der Wind heulte nun leiser, wenn auch beharrlicher Donner erklang.

Keemlin erwiderte seinen Blick. »Tians Mutter, die Lady Yabeth, hat vier Söhne an die Fäule verloren«, sagte er so leise, dass nur Malenarin ihn hören konnte. »Tian ist ihr als Einziger geblieben. Falls einer von uns eine Chance hat, hier rauszukommen, Herr, dachte ich, dass er es sein sollte.«

Malenarin hielt den Blick seines Sohnes fest. Der Junge begriff, was auf sie zukam. Das Licht stehe ihm bei, aber er begriff. Und er hatte einen anderen an seiner Stelle weggeschickt.

»Kralle«, bellte Malenarin und fasste einen der vorbeigehenden Soldaten ins Auge.

»Ja, mein Lord Kommandant?«

»Lauft runter in mein Arbeitszimmer«, sagte Malenarin. »In meiner Eichentruhe liegt ein Schwert. Holt es mir.« Der Mann salutierte und gehorchte.

»Vater?«, sagte Keemlin. »Mein Namenstag ist erst in drei Tagen.«

Malenarin wartete mit hinter dem Rücken verschränkten Händen. Im Augenblick lag seine wichtigste Aufgabe darin, allen zu zeigen, dass er das Kommando hatte, um seinen Truppen Vertrauen einzuflößen. Kralle kehrte mit dem Schwert zurück; die abgenutzte Scheide trug das Bild einer brennenden Eiche. Das Symbol von Haus Rai.

»Vater …«, wiederholte Keemlin. »Ich …«

»Diese Waffe wird einem Jungen angeboten, wenn er ein Mann wird«, sagte Malenarin. »Anscheinend kommt das zu spät, Sohn. Denn ich sehe einen Mann vor mir stehen.« Er streckte die Waffe mit der rechten Hand aus. Überall auf dem Turm wandten sich ihm die Soldaten zu: Bogenschützen mit bereitgehaltenen Bogen, die Soldaten, die die Spiegel bedienten, die diensthabenden Wächter. Als Grenzländer hatte jeder Einzelne von ihnen ausnahmslos am vierzehnten Namenstag sein Schwert erhalten. Jeder Einzelne von ihnen hatte den stockenden Atem gespürt, das wunderbare Gefühl, volljährig zu werden. Jeder von ihnen hatte das erlebt, aber das machte diese Gelegenheit nicht weniger zu etwas Besonderem.

Keemlin ließ sich auf ein Knie herunter.

»Warum ziehst du dein Schwert?«, fragte Malenarin laut genug, dass jeder Mann auf dem Turm es hören konnte.

»In Verteidigung meiner Ehre, meiner Familie oder meiner Heimat«, erwiderte Keemlin.

»Wie lange kämpfst du?«

»Bis sich mein letzter Atemzug mit dem Nordwind vereinigt. «

»Wann gibst du die Wache auf?«

»Niemals«, flüsterte Keemlin. »Sprich es lauter!«

»Niemals!«

»Sobald dieses Schwert gezogen wird, wirst du zum Krieger, halte es immer in deiner Nähe, um darauf vorbereitet zu sein, gegen den Schatten zu kämpfen. Wirst du diese Klinge ziehen und dich als Mann zu uns gesellen?«

Keemlin schaute auf, dann nahm er das Schwert mit festem Griff und zog es aus der Scheide.

»Erhebe dich als Mann, mein Sohn!«, verkündete Malenarin.

Keemlin stand auf und hielt die Waffe in die Höhe; die blank polierte Klinge spiegelte das diffuse Sonnenlicht wider. Die Männer auf dem Turm jubelten.

In so einem Augenblick war es keine Schande, Tränen in den Augen zu haben. Malenarin blinzelte sie fort, dann kniete er nieder und schnallte seinem Sohn den Schwertgürtel um. Die Männer jubelten noch immer, und er wusste, dass das nicht allein seinem Sohn galt. Sie jubelten, um dem Schatten zu trotzen. Einen Augenblick lang waren ihre Stimme lauter als der Donner.

Malenarin erhob sich und legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter, während der Junge das Schwert in die Scheide schob. Zusammen drehten sie sich um, um sich dem näher kommenden Schatten zu stellen.

»Da!«, sagte einer der Bogenschützen und zeigte nach oben. »Da ist etwas in Wolken!«

»Draghkar!«, sagte ein anderer.

Die unnatürlichen Wolken waren nun näher gekommen, und der von ihnen verbreitete Schatten konnte nicht länger die Horden heranstürmender Trollocs verbergen. Etwas flog vom Himmel herab, aber ein Dutzend Bogenschützen schossen. Die Kreatur kreischte auf und stürzte, flatterte unbeholfen mit dunklen Schwingen.

Jargen drängte sich zu Malenarin heran. »Mein Lord«, sagte er mit einem Seitenblick auf Keemlin, »der Junge sollte unten sein.«

»Er ist kein Junge mehr«, sagte Malenarin stolz. »Er ist ein Mann. Euer Bericht?«

»Alles ist bereit.« Jargen warf einen Blick über die Mauer und betrachtete die sich nähernden Trollocs so gleichmütig, als handele es sich um eine Pferdeherde. »Diesen Baum werden sie nicht so leicht fällen.«

Malenarin nickte. Keemlins Schultern verrieten Angespanntheit. Das Meer aus Trollocs erschien endlos. Gegen diesen Feind würde der Turm irgendwann fallen. Die Trollocs würden immer wieder anstürmen, eine Welle nach der anderen.

Aber jeder Mann auf dem Turm kannte seine Pflicht. Sie würden das Schattengezücht so lange töten, wie sie konnten, und hoffentlich damit genug Zeit erkaufen, dass die Botschaften etwas Gutes taten.

Malenarin war ein Mann der Grenzlande, genau wie sein Vater, genau wie der Sohn an seiner Seite. Sie kannten ihre Aufgabe. Man hielt stand, bis man abgelöst wurde.

Mehr gab es dazu nicht zu sagen.

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