Sie war Ladalin, Weise Frau der Taardad Aiel. Wie sehr sie sich doch wünschte, die Macht hätte lenken zu können. Das war ein beschämender Gedanke, sich eine Fähigkeit zu wünschen, die man nun einmal nicht hatte, aber sie konnte es nicht abstreiten.
Sie saß in einem Zelt und verspürte Bedauern. Hätte sie mit der Einen Macht arbeiten können, hätte sie den Verwundeten besser helfen können. Sie wäre jung geblieben, um ihren Clan zu führen, und vielleicht würden ihre Knochen nicht so sehr schmerzen. Wenn es so viel zu tun gab, war das Alter ein ständiger Quell des Ärgers.
Die Zeltwände raschelten, als sich die übrig gebliebenen Clanhäuptlinge setzten. Es war nur eine einzige andere Weise Frau anwesend, Mora von den Goshien Aiel. Sie war ebenfalls keine Machtlenkerin. Die Seanchaner waren besonders entschlossen, wenn es darum ging, sämtliche Aiel – ob Männer oder Frauen – gefangen zu nehmen oder zu töten, die die Eine Macht beherrschten.
Es war eine traurige Gruppe, die sich da im Zelt versammelt hatte. Ein einarmiger junger Soldat trat mit einer warmen Kohlenpfanne ein und stellte sie mitten im Raum ab, dann zog er sich zurück. Ladalins Mutter hatte von den Tagen erzählt, als es für solche Arbeiten noch Gai’schain gegeben hatte. Hatte es wirklich Aiel, Männer oder Töchter, gegeben, die man nicht für den Krieg gegen die Seanchaner gebraucht hatte?
Ladalin beugte sich vor, um die Hände am Feuer zu wärmen; die Finger waren knotig vor Alter. Als junge Frau hatte sie den Speer getragen; das taten die meisten Frauen vor ihrer Hochzeit. Wie konnte eine Frau zurückbleiben, wenn die Seanchaner mit solcher Effektivität Soldatinnen und ihre Damane einsetzten?
Sie hatte Geschichten über die Tage ihrer Mutter und Großmutter gehört, aber sie erschienen einfach unglaublich. Ladalin kannte nur den Krieg. Ihre erste Erinnerung als kleines Mädchen waren die Almoth-Angriffe. Ihre Jugend hatte sie mit ihrer Ausbildung verbracht. Sie hatte in den Schlachten gekämpft, die sich um das Land konzentriert hatten, das als Tear bekannt gewesen war.
Ladalin hatte geheiratet und Kinder großgezogen, aber jeden Atemzug auf den Konflikt konzentriert. Aiel oder Seanchaner. Beiden war klar, dass am Ende nur einer von ihnen übrig bleiben würde.
Und es hatte immer mehr den Anschein, als würden die Aiel diejenigen sein, die man zurückzwang. Das war noch ein anderer Unterschied zwischen ihrer Zeit und der Zeit ihrer Mutter. Ihre Mutter hatte nie vom Versagen gesprochen; Ladalins Lebensspanne war voller Meilensteine des Rückzugs und der Nachhutgefechte.
Die anderen schienen in ihre Gedanken versunken zu sein. Drei Clanhäuptlinge und zwei Weise Frauen. Sie waren alles, was von dem Rat der Zweiundzwanzig noch übrig war. Hochlandwind drang durch den Zelteingang und streifte kalt ihren Rücken. Tamaav traf als Letzter ein. Er sah so alt aus, wie sie sich fühlte, sein Gesicht war voller Narben, und das linke Auge hatte er in der Schlacht verloren. Er setzte sich auf den Stein. Die Aiel trugen keine Teppiche oder Kissen mehr mit sich. Allein die lebensnotwendigen Dinge konnten transportiert werden.
»Die Weiße Burg ist gefallen«, sagte er. »Meine Späher haben mich vor nicht einmal einer Stunde darüber informiert. Ich vertraue ihren Worten.« Er war immer ein geradliniger Mann gewesen und ein guter Freund ihres Gemahls, der vergangenes Jahr gefallen war.
»Damit schwindet unsere letzte Hoffnung«, sagte Takai, der jüngste der Clanhäuptlinge. Er war der dritte Häuptling der Miagoma in genauso vielen Jahren.
»Sagt das nicht«, erwiderte Ladalin. »Es gibt immer Hoffnung. «
»Sie haben uns den ganzen Weg zu diesen verfluchten Bergen zurückgedrängt«, sagte Takai. »Die Shiande und Daryne gibt es nicht mehr. Damit bleiben nur fünf Clans, und von denen ist einer gebrochen und in alle Winde verstreut. Wir sind geschlagen, Ladalin.«
Tamaav seufzte. In anderen Zeiten hätte sie ihm einen Brautkranz zu Füßen gelegt – und ein paar Jahre früher. Ihr Clan brauchte einen Häuptling. Ihr Sohn glaubte noch immer, diese Stellung zu bekommen, aber nachdem die Seanchaner erst kürzlich Rhuidean erobert hatten, waren sich die Clans unsicher, wie sie die neuen Anführer erwählen sollten.
»Wir müssen uns in das Dreifache Land zurückziehen«, sagte Mora mit ihrer leisen matronenhaften Stimme. »Und Buße für unsere Sünden finden.«
»Welche Sünden?«, fauchte Takai.
»Der Drache wollte den Frieden«, erwiderte sie.
»Der Drache ließ uns im Stich!«, rief Takai. »Ich weigere mich, der Erinnerung an einen Mann zu folgen, den meine Großväter kaum kannten. Wir haben keinen Eid geleistet, seinem albernen Pakt zu folgen. Wir …«
»Frieden, Takai«, sagte Jorshem. Der letzte der drei Clanhäuptlinge war ein kleiner falkengesichtiger Mann mit einer Spur andoranischem Blut in seinen Adern großväterlicherseits. »Jetzt kann uns nur noch das Dreifache Land Hoffnung spenden. Der Krieg gegen die Raben ist verloren.«
Im Zelt kehrte Stille ein.
»Sie sagten ja, sie würden uns jagen«, bemerkte Takai. »Als sie unsere Kapitulation verlangten, da warnten sie uns vor jedem Rückzug. Das wisst ihr. Sie sagten, sie würden jeden Ort vernichten, an dem sich auch nur drei Aiel versammeln.«
»Wir ergeben uns nicht«, sagte Ladalin energisch. Energischer, als sie sich fühlte, wenn sie ehrlich war.
»Eine Kapitulation würde uns zu Gai’schain machen«, sagt Tamaav. Das Wort bezeichnete jemanden ohne Ehre, obwohl das bei Ladalins Mutter noch anders gewesen war. »Ladalin. Wie lautet Euer Rat?«
Die anderen vier sahen sie an. Sie entstammte dem Geschlecht des Drachen, war eine der letzten Überlebenden. Die anderen drei Linien waren ausgerottet.
»Wenn wir die Sklaven der Seanchaner werden, wird es die Aiel als Volk nicht mehr geben«, sagte sie. »Wir können nicht gewinnen, also müssen wir uns zurückziehen. Wir kehren ins Dreifache Land zurück und gewinnen neue Kräfte. Vielleicht können unsere Kinder da kämpfen, wo wir es nicht können.«
Wieder kehrte Schweigen ein. Sie alle wussten, dass ihre Worte bestenfalls optimistisch waren. Nach Jahrzehnten des Krieges gab es nur noch einen Bruchteil der Aiel, die es einst gegeben hatte.
Seanchanische Machtlenker waren brutal in ihrer Effizienz. Obwohl die Weisen Frauen und die Drachenblütigen in der Schlacht mit der Einen Macht gekämpft hatten, hatte das nicht gereicht. Diese verfluchten A’dam! Jeder Machtlenker, den die Aiel durch Gefangennahme verloren, wurde am Ende gegen sie eingesetzt.
Der wirkliche Wendepunkt des Krieges war der Kriegseintritt der anderen Nationen gewesen. Danach hatten die Seanchaner die Feuchtländer vereinnahmen und mehr Machtlenker aus ihren Rängen ausmerzen können. Die Raben waren unaufhaltsam; nachdem nun auch Tar Valon gefallen war, war jedes Reich der Feuchtländer Untertan der Seanchaner. Allein die Schwarze Burg kämpfte noch, obwohl es die Asha’man im Geheimen taten, da ihre Festung schon vor vielen Jahren gefallen war.
Aiel konnten nicht im Geheimen kämpfen. Darin lag keine Ehre. Obwohl, was spielte Ehre jetzt noch für eine Rolle? Nachdem die Toten längst Hunderttausende zählten? Nach dem Brand von Cairhien und der Säuberung von Illian? Seit zwanzig Jahren hatten die Seanchaner die andoranischen Kriegsmaschinen. Seit Jahrzehnten erlitten die Aiel eine Niederlage nach der anderen; es war ein Testament ihrer Hartnäckigkeit, dass sie so lange durchgehalten hatten.
»Das ist allein sein Fehler«, sagte Takai noch immer mürrisch. »Der Car’a’carn hätte uns zum Ruhm führen können, aber er ließ uns im Stich.«
»Sein Fehler?«, wiederholte Ladalin und begriff vielleicht zum allerersten Mal, warum dieser Aussage falsch war. »Nein. Aiel sind für sich selbst verantwortlich. Das ist unsere Schuld und nicht die meines fernen Großvaters. Wir haben vergessen, wer wir sind. Wir haben keine Ehre.«
»Man hat uns unsere Ehre genommen«, erwiderte Takai und stand seufzend auf. »Das Volk des Drachen, in der Tat. Was hat man davon, sein Volk zu sein? Wir wurden zum Speer gemacht, sagt die Legende, geschmiedet im Dreifachen Land. Er benutzte uns, dann warf er uns weg. Was soll ein weggeworfener Speer anderes tun, als in den Krieg zu ziehen?«
Was sollte er in der Tat tun?, dachte Ladalin. Der Drache hatte den Frieden verlangt und geglaubt, dass das den Aiel den Frieden brachte. Aber wie sollten sie glücklich sein, solange die vom Licht verfluchten Seanchaner im Land waren? Ihr Hass auf die Invasoren saß tief.
Vielleicht hatte dieser Hass die Aiel vernichtet. Sie lauschte dem heulenden Wind, als Takai das Zelt verließ. Morgen würden die Aiel ins Dreifache Land zurückkehren. Wenn sie den Frieden nicht akzeptieren konnten, musste man ihn ihnen wohl aufzwingen.
Aviendha machte den nächsten Schritt. Sie hatte fast das Zentrum der Säulen erreicht, und überall um sie herum blitzte Licht auf.
Ihre Tränen liefen nun ungehemmt. Sie kam sich wie ein Kind vor. Ladalin zu sein war am Schlimmsten von allen gewesen, denn in ihr hatte Aviendha Spuren von wahrem Aieltum entdeckt, aber es war verdorben gewesen, als hätte man es zu blankem Spott und Hohn gemacht. Die Frau hatte an den Krieg gedacht und ihn mit Ehre in Verbindung gebracht, hatte aber nicht begriffen, was Ehre eigentlich war. Keine Gai’schain? Rückzug? Toh war nicht erwähnt worden. Das war ein Kampf, der jeglichen Sinn verloren hatte.
Warum kämpfen? Für Ladalin war es um den Hass auf die Seanchaner gegangen. Es herrschte Krieg, weil immer Krieg geherrscht hatte.
Wie nur? Wie hatte das den Aiel passieren können?
Aviendha tat den nächsten Schritt.
Sie war Oncala, eine Tochter des Speers. Irgendwann würde sie den Speer abgeben und heiraten, genauso wie es ihre Mutter getan hatte und die Mutter ihrer Mutter davor. Aber jetzt war die Zeit zum Kämpfen gekommen.
Sie ging durch die Straßen von Caemlyn, und ihre Nächst-Schwester trug das Banner des Drachen, um ihre Linie zu verkünden. Neben Oncala ging der Mann, für den sie vermutlich ihre Speere abgeben würde. Hehyal, Morgendämmerungsläufer, hatte mehr Seanchaner getötet als sonst jemand in seiner Gemeinschaft und viel li errungen. Er hatte letztes Jahr die Erlaubnis erhalten, nach Rhuidean zu reisen, um Clanhäuptling zu werden.
Rhuidean. Die Stadt wurde von den Seanchanern belagert. Oncala verzog höhnisch das Gesicht. Seanchaner hatten keine Ehre. Man hatte ihnen mitgeteilt, dass Rhuidean ein Ort des Friedens war. Die Aiel griffen den Palast in Ebou Dar nicht an. Die Seanchaner sollten Rhuidean nicht angreifen.
Sie waren Eidechsen. Es war eine Quelle ständigen Ärgers, dass die Schlachtlinien nach Jahrzehnten des Krieges beinahe noch genauso waren wie damals, als ihr Großvater zum Shayol Ghul gegangen war.
Sie und Hehyal wurden von zweitausend Speeren als Ehrenwache begleitet. Königin Talana wusste von ihrem Kommen, also standen die weißen Palasttore von Andor offen.
Hehyal gab fünfzig vorher ausgesuchten Speeren das Zeichen, sie in die prächtigen Gänge zu begleiten. Im Palast herrschte Opulenz. Jeder Wandteppich, jede Vase und jeder goldene Bilderrahmen schien Oncala beleidigen zu wollen. Vierzig Jahre Krieg, und Andor war unberührt. Es war völlig sicher und sonnte sich im Schutz seiner Aielverteidiger.
Nun, Andor würde sehen, was es davon hatte. Die Aiel waren durch ihren Kampf stärker geworden. Einst war ihre Tapferkeit legendär gewesen. Jetzt war sie noch größer! Wenn die Aiel die Seanchaner vernichtet hatten, würde die Welt erkennen, was die Aiel gelernt hatten. Die Feuchtländerherrscher würden sich wünschen, großzügiger gewesen zu sein.
Die Türen zum Thronsaal standen offen; Oncala und Hehyal traten ein und ließen ihre Eskorte zurück. Auch hier gab es das Drachenbanner, eine Erinnerung, dass das königliche Geschlecht von Andor ebenfalls die Blutlinie des Car’a’carn trug. Noch ein Grund mehr für Oncala, sie zu hassen. Der andoranische Adel hielt sich ihr für ebenbürtig.
Königin Talana war eine Frau mittleren Alters mit glänzendem rotem Haar. Nicht besonders hübsch, aber sehr majestätisch. Sie unterhielt sich leise mit einem ihrer Berater, dann bedeutete sie den Aiel zu warten. Eine Beleidigung, ganz bewusst. Oncala schäumte innerlich.
Schließlich rief man sie an den Löwenthron heran. Talanas Bruder, ihr Beschützer, stand in Hofkleidung – Weste und Mantel – hinter ihr, die Hand auf dem Schwertgriff. Oncala hätte ihn töten können, ohne dabei auch nur ins Schwitzen zu geraten.
»Ah«, sagte Königin Talana. »Wieder die Tardaad Aiel. Ihr tragt noch immer den Speer, Oncala?«
Oncala verschränkte die Arme, enthielt sich aber jeder Bemerkung. Sie wusste, dass sie nicht gut mit Leuten umgehen konnte. Wenn sie sprach, kam es viel zu häufig zu Beleidigungen. Es war besser, dem Clanhäuptling den Vortritt zu lassen.
»Ich nehme an, Ihr seid hier, um wieder um Hilfe zu bitten«, sagte Talana.
Hehyal errötete, und einen Augenblick lang wünschte sich Oncala, sie hätte ihren Speer nicht draußen gelassen.
»Wir haben etwas für Euch«, sagte Hehyal, zog einen Lederbeutel hervor und gab ihn einem der Gardisten. Der Mann öffnete ihn und inspizierte die darin enthaltenen Papiere. Eine weitere Beleidigung. Musste man sie wie Attentäter behandeln? Oncala mochte die Königin nicht, das stimmte wohl, aber ihre Familie und Talanas waren wegen ihrer Großmütter, die Erstschwestern gewesen waren, einander zur Treue verschworen.
Der Soldat übergab der Königin die Papiere. Talana las sie, und ihre Miene wurde immer besorgter und nachdenklicher.
Wie die meisten Herrscher unter dem Drachenfrieden sorgte sich auch Talana wegen der Seanchaner. Die Techniken und das Geschick des Rabenkaiserreichs, die Eine Macht zu formen, wurden ständig besser. Die Aiel hatten sie für den Augenblick zu einem Unentschieden gezwungen. Was würde passieren, sollten die Seanchaner siegen? Würden sie an ihren Eiden festhalten?
Wie weit konnte man den Seanchanern vertrauen? Hehyals Agenten hatten im Verlauf des letzten Jahrzehnts viel Zeit dafür aufgewandt, genau diese Frage an den einflussreichen Höfen der Welt in Umlauf zu bringen. Er war ein weiser Mann. Schon vor seinem Aufstieg zum Häuptling hatte er erkannt, dass dieser Krieg nicht allein von den Aiel gewonnen werden konnte. Sie brauchten diese weichen Feuchtländer.
Was der letzte Grund dafür war, warum Oncala sie so sehr hasste.
»Wo habt Ihr die her?«, fragte Talana.
»Aus dem seanchanischen Palast«, sagte Hehyal. »Sie hätten Rhuidean nicht angreifen dürfen. Der Ehre zufolge erlaubt uns das eine Antwort – obwohl unser Angriff verstohlen war, um diese Papiere in die Hand zu bekommen. Ich ahnte schon längere Zeit, wo sie aufbewahrt wurden, und allein der Gedanke an meine Ehre hielt mich davon ab, nicht in den geheiligten Palast der Seanchaner einzudringen.«
Talanas Miene versteinerte. »Ihr seid von ihrer Echtheit überzeugt?«
»Zweifelt Ihr daran?«, fragte Hehyal.
Königin Talana schüttelte den Kopf. Sie sah beunruhigt aus. Sie wusste, dass Aiel nicht logen.
»Wir waren geduldig mit Euch«, sagte Hehyal. »Wir sind zu Euch gekommen und haben erklärt, was geschehen wird, wenn wir die Seanchaner nicht abwehren können.«
»Der Drachenfriede …«
»Was kümmert sie der Drache?«, wollte Hehyal wissen. »Sie sind Invasoren, die ihn zwangen, sich ihrer Kaiserin zu beugen. Man betrachtet sie als höherrangig. Sie werden keine Versprechen halten, die sie jemandem gegeben haben, der unter ihnen steht.«
Königin Talana schaute wieder nach unten. Die Dokumente waren seanchanische Pläne für den Angriff auf Andor, zusammen mit einem genau ausgearbeiteten Plan für die Ermordung der Königin. Darunter standen ähnliche Pläne für die Herrscher von Tear, den Zwei Flüssen und Illian.
»Ich brauche Zeit, um das mit meinen Beratern zu besprechen«, verkündete Talana.
Wir haben sie, dachte Oncala und lächelte. Sie wusste bereits, wie die Antwort der Königin aussehen würde. Der Trick hatte darin bestanden, sie dazu zu bringen, über eine mögliche Reaktion nachzudenken.
Hehyal nickte, und die beiden zogen sich zurück. Oncala musste sich beherrschen, keinen Triumphschrei auszustoßen. Wenn sich Andor am Krieg beteiligte, würden die anderen Nationen ihm folgen, insbesondere jene, die den Pakt des Greifen bildeten und die vom Hof der Sonne. Sie schauten genauso zu der andoranischen Königin auf wie die anderen Aielclans zu Oncala. Das Blut Rand al’Thors hatte viel Gewicht.
»Ist das richtig?«, fragte Hehyal unterwegs; ihre Speere umgaben sie, um neugierige Ohren fernzuhalten. Oncala sah ihn überrascht an. »Es war dein Plan.«
Er nickte stirnrunzelnd.
Nichts von dem, was er der Königin gesagt hatte, war die Unwahrheit gewesen. Ihre Ehre war unbeschmutzt. Allerdings hatte Hehyal eine der von ihnen entdeckten Seiten unterschlagen. Die mit der Erklärung, dass die folgenden Pläne für den Eventualfall gedacht waren.
Die Beschreibungen von Andors Streitkräften, Vorschläge für den Einsatz von Wegetoren und Drachen bei einem Angriff auf Caemlyn, der Plan für das Attentat auf Königin Talana – das alles war nur für den Fall entwickelt worden, dass Andor in den Krieg eingriff. Sie waren als Präventivstudie eines potenziellen Feindes gedacht gewesen, und keineswegs als tatsächlicher Angriffsplan.
Aber das war buchstäblich das Gleiche. Die Seanchaner waren Schlangen. Irgendwann würden sie sich Andor nehmen, und zu diesem Zeitpunkt würden die Aiel vielleicht nicht mehr helfen können. Sollte dieser Krieg schlecht verlaufen, würde ihr Volk ins Dreifache Land gehen und die närrischen Feuchtländer den Eroberern überlassen. Die Seanchaner würden erleben, dass es unmöglich war, die Aiel in ihrer Heimat zu bekämpfen.
Es war viel besser, wenn Königin Talana jetzt in den Krieg eingriff. Und es war nur zu ihrem Besten, wenn sie diese fehlende Seite niemals zu Gesicht bekam.
»Es ist vollbracht«, sagte Hehyal. »Der Augenblick ist vorbei, etwas infrage zu stellen.«
Oncala nickte. Die Seanchaner würden fallen, und die Aiel würden den ihnen zustehenden Platz einnehmen. Das Blut des Wiedergeborenen Drachen floss in ihren Adern. Sie verdienten es zu herrschen.
War das alles hier erst einmal vorbei, würde nicht das Rabenkaiserreich aufsteigen, sondern das Drachenkaiserreich.
»Ich will nicht weitergehen«, sagte Aviendha zu dem leeren Glaswald.
Die Brise war eingeschlafen. Ihre Bemerkung stieß auf Schweigen. Ihre Tränen hatten den Staub zu ihren Füßen wie Regentropfen benetzt.
»Diese … Kreatur hatte keine Ehre«, sagte sie. »Sie hat uns zerstört.«
Das Schlimmste daran war, dass die Frau – Oncala – an die Mutter ihrer Mutter gedacht hatte. Ihre Großmutter. In Oncalas Gedanken war mit diesem Begriff ein Gesicht verknüpft gewesen. Aviendha hatte es erkannt.
Es war ihr Gesicht.
Mit gesenktem Kopf schloss sie die Augen und betrat die Mitte der strahlenden Säulen.
Sie war Padra, die Tochter des Wiedergeborenen Drachen, eine stolze Tochter des Speers. Sie riss ihre Waffe aus dem Hals eines sterbenden Seanchaners, dann sah sie zu, wie der Rest von ihnen durch ihr Wegetor floh.
Das Licht verfluche diejenige, die den Seanchanern das Reisen beigebracht hat, dachte Padra. Auch wenn ihre Gewebe nicht besonders elegant sind.
Sie war der Überzeugung, dass keine lebende Person die Eine Macht so gut verstand wie sie und ihre Geschwister. Schon als Kind hatte sie weben können, und ihre Brüder und Schwestern waren genauso. Für sie war das ganz natürlich, und verglichen mit ihnen erschienen alle anderen Machtlenker unbeholfen.
Sie achtete stets darauf, das nicht laut auszusprechen. Aes Sedai und Weise Frauen wurden nicht gern an ihre Unzulänglichkeiten erinnert. Dennoch stimmte es.
Padra gesellte sich zu ihren Speerschwestern. Sie ließen eine von ihnen tot zurück, und Padra trauerte um sie. Tarra von den Taardad Aiel. Sie würde nicht in Vergessenheit geraten. Aber die Ehre war ihre, denn sie hatten acht seanchanische Soldaten getötet.
Padra webte ein Wegetor – bei ihr geschah das so schnell, wie sie denken konnte. Sie hielt die Eine Macht ständig umarmt, selbst im Schlaf. Sie hatte nie erlebt, wie es wohl war, diese tröstende rasende Macht nicht im Hinterkopf zu spüren. Andere fürchteten angeblich, von ihr verschlungen zu werden, aber wie konnte das möglich sein? Saidar war ein Teil von ihr, wie ihr Arm oder ihr Bein. Wie konnte man von seinem eigenen Fleisch, Knochen und Blut verschlungen werden?
Das Tor führte in ein Aiel-Lager in dem Land namens Arad Doman. Das Lager war keine Stadt; Aiel kannten keine Städte. Aber es war ein sehr großes Lager, und es war seit einem Jahrzehnt nicht mehr verlegt worden. Padra ging durch das Gras, und Aiel im Cadin’sor zeigten ihre Ehrerbietung. Padra und ihre Geschwister waren als Kinder des Drachen für die Aiel… etwas Besonderes geworden.
Keine Lords – dieses Konzept bereitete ihr Übelkeit. Aber sie war mehr als eine gewöhnliche Algai’d’siswai. Die Clanhäuptlinge fragten sie und ihre Geschwister um Rat, und die Weisen Frauen hatten ein besonderes Interesse an ihnen. Sie erlaubten ihr die Macht zu lenken, obwohl sie keine von ihnen war. Sie konnte genauso wenig aufhören die Macht zu lenken, wie sie zu atmen hätte aufhören können.
Sie entließ ihre Speerschwestern, dann ging sie direkt zu Ronams Zelt. Der Clanhäuptling – der Sohn von Rhuarc – würde ihren Bericht hören wollen. Sie trat ein und sah überrascht, dass Ronam Gesellschaft hatte. Eine Gruppe von Männern saß auf dem Teppich; jeder Einzelne von ihnen war Clanhäuptling. Ihre Geschwister saßen ebenfalls da.
»Ah, Padra«, sagte Ronam. »Ihr seid zurückgekehrt.«
»Ich kann ein anderes Mal vorbeikommen, Ronam.«
»Nein, man wollte Euch bei diesem Treffen dabeihaben. Setzt Euch und teilt meinen Schatten.«
Padra neigte den Kopf für diese Ehre, die er ihr gewährte. Sie setzte sich zwischen Alarch und Janduin, ihre Brüder. Obwohl die vier Geschwister Vierlinge waren, ähnelten sie einander überhaupt nicht. Alarch kam mehr nach ihrer Feuchtländerseite und hatte dunkles Haar. Janduin war blond und hochgewachsen. Neben ihm saß ihre Schwester Marinna, die von kleiner Statur mit einem runden Gesicht war.
»Ich sollte wohl berichten«, sagte Padra zu Ronam, »dass die seanchanische Patrouille genau dort war, wo wir vermuteten. Wir griffen sie an.«
Das rief unbehagliches Gemurmel hervor.
»Es verstößt nicht gegen den Drachenfrieden, wenn sie Arad Doman betreten«, sagte Tavalad, Clanhäuptling der Goshien Aiel.
»Und es ist nicht falsch, wenn wir sie töten, falls sie zu nahe kommen, Clanhäuptling«, erwiderte Padra. »Die Aiel sind nicht an den Drachenfrieden gebunden. Falls die Seanchaner das Risiko eingehen wollen, unser Lager auszuspionieren, dann müssen sie eben lernen, dass es ein Risiko ist.«
Die Bemerkung ließ mehrere der anderen nicken – mehr als sie erwartet hätte. Sie sah Janduin an, und er hob eine Braue. Verstohlen hob sie zwei Finger. Zwei Seanchaner, die ihrem Speer zum Opfer gefallen waren. Sie hätte sie gern gefangen genommen, aber Seanchaner hatten es nicht verdient, Gai’schain zu werden. Davon abgesehen waren es schreckliche Gefangene. Besser, ihnen die Schande zu ersparen und sie sterben zu lassen.
»Wir sollten sagen, weshalb wir gekommen sind«, sagte Alalved, der Häuptling der Tomanelle Aiel. Padra führte eine schnelle Zählung durch. Alle elf Häuptlinge waren da, jene eingeschlossen, die Blutfehden miteinander führten. So ein Treffen hatte es schon seit Jahren nicht mehr gegeben, nicht seit sich ihr Vater auf die Letzte Schlacht vorbereitet hatte.
»Und was wollen wir sagen?«, fragte einer der anderen.
Alalved schüttelte den Kopf. »Die Speere werden unruhig. Die Aiel sind nicht dazu gemacht, in üppigen Ländern fett zu werden und Getreide zu züchten. Wir sind Krieger.«
»Der Drache bat um Frieden«, sagte Tavalad.
»Der Drache bat andere um Frieden«, erwiderte Alalved. »Er nahm die Aiel aus.«
»Das ist wahr«, sagte Darvin, der Häuptling der Reyn.
»Kehren wir wieder dazu zurück, uns gegenseitig zu überfallen, nachdem wir unsere Blutfehden all die Jahre ausgesetzt haben?«, fragte Ronam leise. Er war ein ausgezeichneter Clanhäuptling, genau wie Rhuarc einer gewesen war. Weise, ohne sich vor einer Schlacht zu fürchten.
»Wo läge darin der Sinn?«, fragte Shedren, der Häuptling der Daryne Aiel.
Andere nickten. Aber das brachte ein größeres Problem in den Vordergrund, eines, von dem ihre Mutter oft gesprochen hatte. Was bedeutete es, Aiel zu sein, j etzt nachdem ihre Pflicht der Vergangenheit gegenüber erfüllt war und sie ihr Toh als Volk gereinigt hatten?
»Wie lange können wir warten, obwohl wir wissen, dass sie Aielfrauen mit ihren Kragen gefangen halten?«, wollte Alalved wissen. »Es sind Jahre vergangen, und sie lehnen noch immer sämtliche Angebote ab, mit uns zu verhandeln oder mit Lösegeld bezahlt zu werden! Sie erwidern unsere Höflichkeit mit Beleidigungen und Unverschämtheit.«
»Wir sind nicht dazu bestimmt zu bitten«, sagte der alte Bruan. »Bald werden die Aiel zu milchgefütterten Feuchtländern.«
Alle nickten bei seinen Worten. Der weise Bruan hatte die Letzte Schlacht überlebt.
»Wenn die seanchanische Kaiserin doch bloß…« Ronam schüttelte den Kopf, und Padra wusste, was er dachte. Die alte Kaiserin, die, die während der Tage der Letzten Schlacht geherrscht hatte, war von Ronams Vater als Frau von Ehre betrachtet worden. Angeblich war man mit ihr fast zu einer Übereinkunft gekommen. Aber seit ihrer Herrschaft waren viele Jahre vergangen.
»Trotzdem treffen die Speere aufeinander«, fuhr Ronam fort. »Unsere Leute kämpfen, wenn sie einander begegnen. Das ist unsere Natur. Wenn die Seanchaner keinen Vernunftgründen aufgeschlossen sind, welchen Grund haben wir dann, sie in Ruhe zu lassen?«
»Dieser Drachenfrieden wird sowieso nicht lange halten«, meinte Alalved. »Scharmützel zwischen den Nationen sind an der Tagesordnung, auch wenn keiner davon spricht. Der Car’a’carn verlangte Versprechen von den Monarchen, aber das wird nicht durchgesetzt. Man kann viele Feuchtländer nicht bei ihrem Wort nehmen, und ich sorge mich, dass die Seanchaner sie verschlingen, während sie sich miteinander balgen.«
Wieder nickten viele. Nur Darvin und Tavalad erschienen nicht überzeugt.
Padra hielt den Atem an. Sie hatten gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Die Scharmützel mit den Seanchanern, die Unruhe der Clans. Von diesem Tag hatte sie geträumt, ihn aber auch gefürchtet. Ihre Mutter hatte in der Schlacht großes li errungen. Sie selbst hatte so wenige Gelegenheiten gehabt, sich zu beweisen.
Ein Krieg mit den Seanchanern … die Aussicht belebte sie. Aber sie würde auch so viel Tod bringen.
»Was sagen die Kinder des Drachen?«, fragte Ronam und sah die vier Geschwister an.
Es erschien immer noch seltsam, dass diese Älteren zu ihr aufschauten. Sie berührte das tröstliche, in ihrem Hinterkopf ruhende Saidar und zog Kraft daraus. Was würde sie nur ohne es tun?
»Ich sage, wir müssen unsere Leute zurückholen, die die Seanchaner gefangen halten«, meldete sich Marinna zu Wort. Sie befand sich in der Ausbildung zur Weisen Frau.
Alarch schien unsicher und blickte zu Janduin. Alarch verließ sich oft auf seinen Bruder.
»Die Aiel müssen einen Lebensinhalt haben«, sagte Janduin nickend. »Im Augenblick sind wir nutzlos, und wir haben nicht versprochen, sie nicht anzugreifen. Es ist ein Zeugnis unserer Geduld und dem Respekt meinem Vater gegenüber, dass wir so lange gewartet haben.«
Blicke richteten sich auf Padra. »Sie sind unsere Feinde«, sagte sie.
Ein Mann nach dem anderen im Raum nickte. Es erschien so banal, die Jahre des Wartens auf diese Weise zu beenden. »Geht zu euren Clans.« Ronam stand auf. »Bereitet sie vor.«
Padra blieb sitzen, während sich die anderen verabschiedeten, einige ernst, andere aufgeregt. Siebzehn Jahre ohne Schlacht waren einfach zu lange für die Aiel gewesen.
Bald war das Zelt bis auf Padra leer. Sie wartete und starrte den Teppich an. Krieg. Sie verspürte Aufregung, aber ein anderer Teil von ihr war ernst. Sie fühlte sich, als hätte sie die Clans auf einen Weg gebracht, der sie für alle Zeiten verändern würde.
»Padra?«, fragte da eine Stimme.
Sie schaute auf und sah Ronam im Zelteingang stehen. Errötend stand sie auf. Obwohl er zehn Jahre älter als sie war, war er doch recht ansehnlich. Natürlich würde sie niemals den Speer aufgeben, aber hätte sie es getan …
»Ihr erscheint besorgt«, sagte er.
»Ich habe nur nachgedacht.«
»Über die Seanchaner?«
»Über meinen Vater«, erwiderte sie.
»Ah.« Ronam nickte. »Ich erinnere mich, als er das erste Mal in die Kaltfelsenfestung kam. Ich war so jung.«
»Welchen Eindruck hattet Ihr von ihm?«
»Er war ein beeindruckender Mann«, sagte Ronam.
»Sonst nichts?«
Er schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Padra, aber ich habe nicht viel Zeit mit ihm verbracht. Mein Weg führte mich in eine andere Richtung. Aber ich habe von meinem Vater… Dinge gehört.«
Sie legte den Kopf schief.
Ronam drehte sich um und schaute aus dem offenen Zelteingang auf das grüne Gras hinaus. »Mein Vater bezeichnete Rand al’Thor als klugen Mann und großen Führer, aber auch als jemanden, der nicht wusste, was er mit den Aiel anfangen sollte. Ich erinnere mich daran, wie er sagte, dass der Car’a ‘carn bei seinen Besuchen nie wie einer von uns erschien. Als hätten wir ihm Unbehagen bereitet.« Ronam schüttelte den Kopf. »Für jeden anderen war etwas geplant, aber die Aiel wurden ziellos zurückgelassen.«
»Manche sagen, wir hätten ins Dreifache Land zurückkehren sollen.«
»Nein«, sagte Ronam. »Nein, das hätte uns zerstört. Unsere Väter wussten nichts über Dampfpferde oder Drachenrohre. Wären die Aiel in die Wüste zurückgekehrt, wären wir irrelevant geworden. Die Welt hätte uns überholt, und als Volk wären wir verschwunden.«
»Aber Krieg?«, sagte Padra. »Ist das richtig?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Ronam. »Wir sind Aiel. Es ist das, worüber wir Bescheid wissen.«
Padra nickte und fühlte sich sicherer.
Die Aiel würden wieder in den Krieg ziehen. Und darin würde viel Ehre liegen.
Aviendha blinzelte. Der Himmel war dunkel.
Sie war erschöpft. Ihr Kopf war leer, ihr Herz weit offen – als hätte es mit jedem Schlag Stärke ausgeblutet. Sie setzte sich in der Mitte der verglimmenden Säulen auf den Boden. Ihre … Kinder. Sie erinnerte sich von ihrem ersten Besuch in Rhuidean an ihre Gesichter. Das hatte sie nicht gesehen. Zumindest erinnerte sie sich nicht mehr daran.
»Ist das vorherbestimmt?«, fragte sie. »Können wir das ändern?«
Natürlich gab es keine Antwort.
Ihre Tränen waren getrocknet. Wie reagierte man, wenn man die völlige Vernichtung, nein, den völligen Verfall seines Volkes sah? Den Menschen war jeder Schritt, den sie machten, logisch erschienen. Aber jeder davon hatte die Aiel ihrem Ende näher gebracht.
Sollte jemand so schreckliche Visionen sehen müssen? Sie wünschte sich, den Säulenwald nicht noch einmal betreten zu haben. Trug sie die Schuld für die zukünftigen Ereignisse? Es war ihr Geschlecht, das ihrem Volk den Untergang bringen würde.
Das ähnelte überhaupt nicht den Geschehnissen, die sie bei ihrem ersten Besuch in Rhuidean beim Durchgang durch die Ringe gesehen hatte. Das waren Möglichkeiten gewesen. Die heutigen Visionen erschienen viel realer. Fast war sie sich sicher, dass ihre Erlebnisse nicht einfach nur eine von vielen Möglichkeiten gewesen waren. Was sie gesehen hatte, würde geschehen. Schritt für Schritt nahm man ihrem Volk die Ehre. Schritt für Schritt wandelten sich die Aiel von stolz zu kläglich.
Da musste es noch mehr geben. Wütend stand sie auf und machte einen Schritt. Nichts geschah. Sie ging den ganzen Weg bis zum Rand der Säulen, dann drehte sie sich zornig um.
»Zeigt mir mehr«, verlangte sie. »Zeigt mir, was ich tat, um das zu verursachen! Es ist meine Linie, die uns den Ruin brachte! Welche Rolle spiele ich dabei?«
Sie trat wieder zwischen die Säulen.
Nichts. Sie erschienen tot. Sie berührte eine von ihnen, aber da war kein Leben. Kein Summen, kein Gefühl von Macht. Sie schloss die Augen und drückte eine weitere Träne aus den Augenwinkeln. Die Tränen rannen ihr Gesicht hinunter und hinterließen Bahnen kalter Feuchtigkeit auf ihren Wangen.
»Kann ich das ändern?«, fragte sie.
Wenn ich es nicht kann, wird mich das davon abhalten, es zu versuchen?
Die Antwort war einfach. Nein. Sie konnte nicht leben, ohne zu versuchen, dieses Schicksal zu verhindern. Die Suche nach Wissen hatte sie nach Rhuidean geführt. Nun, sie hatte es erhalten. Viel mehr, als sie gewollt hatte.
Sie öffnete die Augen und biss die Zähne zusammen. Aiel übernahmen Verantwortung. Aiel kämpften. Aiel standen für Ehre. Wenn sie die Einzige war, die ihre schreckliche Zukunft kannte, dann war es als Weise Frau ihre Pflicht zu handeln. Sie würde ihr Volk retten.
Sie verließ die Säulen, dann rannte sie los. Sie musste zurückkehren und sich mit den anderen Weisen Frauen beraten. Aber zuerst brauchte sie Ruhe, in der Weite des Dreifachen Landes. Zeit, um nachzudenken.