Egwene schwebte in Dunkelheit. Sie verfügte weder über Konturen noch Stofflichkeit. Vor ihr erstreckten sich die Gedanken, Vorstellungen, Sorgen, Hoffnungen und Ideen der ganzen Welt in die Ewigkeit.
Das war der Ort zwischen den Träumen und der wachen Welt, eine Dunkelheit gefüllt mit Abertausenden stecknadelkopfgroßen Lichtern, von denen jedes intensiver und kompakter als die Sterne am Himmel war. Das waren Träume, und sie hätte in jeden hineinschauen können, unterließ es aber. Die, die sie sehen wollte, waren mit Abwehrgeweben geschützt, und die meisten anderen blieben ihr unverständlich.
Da gab es einen Traum, in den sie sehnsüchtig hineinschlüpfen wollte. Sie beherrschte sich. Auch wenn ihre Gefühle für Gawyn noch immer stark waren, war ihre Meinung über ihn nicht mehr so eindeutig. Sich in seinen Träumen zu verlieren würde nicht helfen.
Sie drehte sich um und musterte den endlosen Raum. Seit Kurzem kam sie her, um zu schweben und nachzudenken. Die Träume der hier versammelten Menschen – einige aus ihrer Welt, andere aus deren Schatten – erinnerten sie daran, warum sie kämpfte. Niemals durfte sie vergessen, dass es außerhalb der Mauern der Weißen Burg eine ganze Welt gab. Die Aes Sedai existierten nur, um dieser Welt zu dienen.
Zeit verging, während sie im Licht der Träume badete. Schließlich zwang sie sich zu einer Bewegung und lokalisierte einen Traum, den sie erkannte – auch wenn sie nicht genau wusste, wie sie das machte. Der Traum kam auf sie zu und füllte ihr Blickfeld.
Sie berührte den Traum mit ihrem Willen und sandte einen Gedanken hinein. Nynaeve. Es ist Zeit, damit aufzuhören, mich zu meiden. Es wartet Arbeit auf uns, und ich habe Neuigkeiten für dich. Triff mich in zwei Nächten im Saal der Burg. Kommst du nicht, werde ich gezwungen sein, Maßnahmen zu ergreifen. Deine Spielchen gefährden uns alle.
Der Traum schien zu erbeben, und Egwene zog sich zurück, als er verschwand. Mit Elayne hatte sie bereits gesprochen. Diese beiden waren lose Fäden; sie mussten unbedingt zur Stola erhoben werden und die Eide leisten.
Darüber hinaus brauchte Egwene Informationen von Nynaeve. Hoffentlich würde die mit versprochenen Neuigkeiten gemischte Drohung sie herbringen. Und diese Neuigkeiten waren wichtig. Die Weiße Burg war endlich geeint, der Amyrlin-Sitz war gesichert, Elaida war von den Seanchanern gefangen genommen.
Winzige strahlende Traumpunkte rasten an Egwene vorbei. Sie dachte darüber nach, die Weisen Frau?n zu erreichen, entschied sich dann aber dagegen. Wie sollte sie mit ihnen verfahren? Zunächst einmal durfte man bei ihnen nicht den Eindruck erwecken, dass man mit ihnen »verfuhr«. Ihr Plan für sie stand noch nicht fest.
Sie ließ sich zurück in ihren Körper sinken, damit zufrieden, den Rest der Nacht mit ihren eigenen Träumen zu verbringen. Hier konnte sie die Vorstellung von Gawyns Besuch nicht aussperren, und das wollte sie auch nicht. Sie trat in ihren Traum und in seine Umarmung. Sie standen in einem kleinen Zimmer mit Steinwänden, das wie ihr Arbeitsgemach in der Weißen Burg geschnitten war, jedoch die gleiche Ausstattung wie der Gemeinschaftsraum in der Schenke ihres Vaters aufwies. Gawyn trug die robuste Wolle aus den Zwei Flüssen und hatte auf sein Schwert verzichtet. Ein einfacheres Leben. Es war ihr verwehrt, aber man durfte ja träumen …
Alles erbebte. Der Raum aus Vergangenheit und Gegenwart schien zu zerbersten und zu wirbelndem Rauch zerfetzt zu werden. Egwene tat keuchend einen Schritt zurück, als Gawyn wie eine Gestalt aus Sand auseinandergerissen wurde. Alles um sie herum war nur noch Staub, und in der Ferne erhoben sich dreizehn schwarze Türme unter einem teerdunklen Himmel.
Einer fiel, dann ein weiterer; sie krachten zu Boden. Dabei gewannen die, die übrig geblieben waren, zusehends an Höhe. Der Boden erbebte, als weitere Türme umstürzten. Ein weiterer Turm erzitterte und zerbrach, löste sich auf dem Weg in die Tiefe in seine Einzelteile auf – aber dann setzte er sich wieder zusammen und wurde der höchste von ihnen allen.
Nach dem Erdbeben waren sechs Türme übrig geblieben und überragten sie. Egwene war zu Boden gestürzt, der sich in weiche, mit verwelkten Blättern bedeckte Erde verwandelt hatte. Die Vision veränderte sich. Sie schaute auf ein Nest. Dort kreischte ein Gehege geschlüpfter Adler nach ihrer Mutter. Einer der Adler entfaltete sich, und er war gar kein Adler, sondern eine Schlange. Sie stürzte sich auf ein Adlerküken nach dem anderen und schlang sie ganz herunter. Die kleinen Vögel starrten dabei einfach weiterhin in den Himmel und taten so, als wäre die Schlange ihr Bruder, während sie sie verschlang.
Die Vision veränderte sich. Egwene sah eine gewaltige Kugel aus dem feinsten vorstellbaren Kristall. Sie funkelte im Licht von dreiundzwanzig gewaltigen Sternen, die auf den dunklen Hügel hinabstrahlten, auf dem sie lag. Sprünge durchzogen sie, und sie wurde von Seilen zusammengehalten.
Da war Rand, der mit einer Holzfälleraxt den Hügel hinaufstieg. Er erreichte die Kuppe und wog die Axt einen Moment in der Hand, dann hieb er auf die Seile ein und kappte sie eines nach dem anderen. Das letzte Seil peitschte auseinander, und die wunderschöne Kugel zerbrach in Stücke. Rand schüttelte den Kopf.
Egwene keuchte auf, wurde wach und setzte sich auf. Sie war in ihren Gemächern in der Weißen Burg. Das Schlafgemach stand so gut wie leer – sie hatte Elaidas Sachen wegbringen lassen, es aber noch nicht wieder vollständig möbliert. Es gab nur einen Waschständer, einen hochflorigen braunen Teppich und ein Bett mit Holzpfosten und Vorhängen. Die Fensterläden waren geschlossen; Morgenlicht spähte hindurch.
Sie atmete ein und aus. Selten hatte sie ein Traum so erschüttert wie dieser hier.
Sie beruhigte sich und griff nach unten neben das Bett, wo sie das in Leder gebundene Buch liegen hatte, in dem sie ihre Träume aufzeichnete. Der mittlere von den dreien in dieser Nacht war ihr am nächsten. Sie spürte seine Bedeutung förmlich, interpretierte ihn, wie es ihr manchmal möglich war. Die Schlange war eine der Verlorenen, die sich in der Weißen Burg verbarg und als Aes Sedai ausgab. Egwene hatte diesen Verdacht schon länger – Verin war ebenfalls davon überzeugt gewesen.
Mesaana befand sich noch immer in der Weißen Burg. Aber wie imitierte sie eine Aes Sedai? Jede Schwester hatte erneut die Eide abgelegt. Anscheinend konnte Mesaana den Eidstab besiegen. Während Egwene gewissenhaft die Träume notierte, dachte sie über die riesigen Türme nach, die sie zu vernichten drohten, und ihr eröffnete sich auch ein Teil ihrer Bedeutung.
Falls sie Mesaana nicht fand und aufhielt, würde etwas Schreckliches geschehen. Es konnte den Sturz der Weißen Burg bedeuten, vielleicht den Sieg des Dunklen Königs. Träume waren keine Vorhersagen – sie zeigten nicht, was geschehen würde, sondern was geschehen konnte.
Beim Licht, dachte sie und beendete ihre Aufzeichnung. Als hätte ich nicht schon genug Sorgen.
Egwene stand auf und wollte ihre Dienerin rufen, aber ein Klopfen an der Tür kam ihr zuvor. Neugierig ging sie nur mit ihrem Nachthemd bekleidet über den Teppich und öffnete die Tür gerade weit genug, um Silviana im Vorraum stehen zu sehen. Mit kantigen Zügen versehen und in Rot gekleidet, trug sie ihr Haar wie immer zum Knoten gebunden, die rote Stola der Behüterin der Chroniken um den Hals.
»Mutter«, sagte die Frau angespannt. »Ich muss mich dafür entschuldigen, Euch geweckt zu haben.«
»Ich war schon wach«, erwiderte Egwene. »Was ist? Was ist geschehen?«
»Er ist hier, Mutter. In der Weißen Burg.«
»Wer?«
»Der Wiedergeborene Drache. Er bittet darum, Euch zu sprechen.«
»Nun, das ist ein Kessel Fischeintopf, den man nur mit den Fischköpfen gemacht hat«, sagte Siuan, als sie durch einen Gang in der Weißen Burg stapfte. »Wie ist er durch die Stadt gekommen, ohne dass es jemandem aufgefallen ist?«
Hauptmann Chubain zuckte zusammen.
Das gehört sich auch so, dachte Siuan. Der Mann mit den rabenschwarzen Haaren trug die Uniform der Burgwache, einen weißen Wappenrock mit der lodernden Flamme von Tar Valon über dem Kettenhemd. Er ging mit der Hand auf dem Schwertgriff. Es hatte Diskussionen darüber gegeben, dass man ihn vom Posten des Wachhauptmanns abberief, jetzt, da Bryne in Tar Valon war, aber Egwene war Siuans Ratschlag gefolgt und hatte darauf verzichtet. Bryne wollte kein Wachhauptmann sein, und man würde ihn als Feldgeneral für die Letzte Schlacht brauchen.
Bryne war draußen bei seinen Männern; es war so gut wie unmöglich, Quartier und Verpflegung für fünfzigtausend Soldaten zu finden. Sie hatte ihn benachrichtigt und fühlte ihn näher kommen. So ein sturer Holzklotz der Mann auch war, Siuan ahnte, dass es erfreulich sein würde, seine Unerschütterlichkeit jetzt an ihrer Seite zu wissen. Der Wiedergeborene Drache? In Tar Valon ?
»Eigentlich ist es gar nicht überraschend, dass er so weit gekommen ist, Siuan«, sagte Saerin. Die Braune mit der olivfarbenen Haut war gerade bei Siuan gewesen, als der Hauptmann völlig blass an ihnen vorbeigerannt war. Saerins Schläfen waren grau, bei einer Aes Sedai ein Zeichen für Alter, und sie trug eine Narbe auf der Wange, deren Ursprung Siuan ihr nie hatte entlocken können.
»Jeden Tag strömen Hunderte Flüchtlinge in die Stadt«, fuhr Saerin fort, »und jeden Mann, der auch nur halbwegs kämpfen will, schickt man zur Rekrutierungsstelle der Burgwache. Es ist kein Wunder, dass niemand al’Thor aufgehalten hat.«
Chubain nickte. »Er stand einfach vor dem Sonnenaufgangstor, bevor ihn jemand ansprach. Und dann sagte er… nun, er behauptete einfach, er sei der Wiedergeborene Drache und wolle die Amyrlin sehen. Brüllte nicht herum oder dergleichen, sagte es ruhig wie ein Frühlingsregen.«
Die Korridore der Burg waren belebt, auch wenn die meisten der Frauen nicht zu wissen schienen, was sie tun sollten und in alle Richtungen schossen wie Fische in einem Netz.
Hör auf damit, rief sich Siuan zur Ordnung. Er hat unseren Machtsitz betreten. Er ist es, der sich im Netz verfangen hat.
»Was hat er vor, was glaubt Ihr?«, fragte Saerin.
»Soll man mich zu Asche verbrennen, wenn ich das weiß«, erwiderte Siuan. »Mittlerweile muss er so gut wie verrückt sein. Vielleicht hat er ja Angst und ist gekommen, um sich zu ergeben.«
»Das bezweifle ich.«
»Ich auch«, gab Siuan widerstrebend zu. Während der letzten paar Tage hatte sie zu ihrem Erstaunen herausgefunden, dass sie Saerin doch tatsächlich mochte. Als Amyrlin hatte Siuan keine Zeit für Freundschaften gehabt; es war viel wichtiger gewesen, die Ajahs gegeneinander auszuspielen. Sie hatte Saerin für stur und ein Hindernis gehalten. Jetzt, wo sie nicht mehr so oft zusammenstießen, fand sie diese Eigenschaften erfrischend.
»Vielleicht hat er gehört, dass Elaida weg ist«, meinte Siuan, »und glaubt hier sicher zu sein, wo doch eine alte Freundin auf dem Amyrlin-Sitz sitzt.«
»Das passt nicht zu dem, was ich über den Jungen gelesen habe«, erwiderte Saerin. »Berichte bezeichnen ihn als misstrauisch und unberechenbar, mit einem fordernden Temperament und der Eigenschaft, die Aes Sedai beharrlich zu meiden.«
Das hatte auch Siuan gehört, auch wenn es mittlerweile zwei Jahre her war, dass sie den Jungen das letzte Mal gesehen hatte. Tatsächlich war sie bei ihrer letzten Begegnung die Amyrlin gewesen und er ein einfacher Schafhirte. Das meiste, was sie seitdem über ihn erfahren hatte, war von den Augen und Ohren der Blauen Ajah gekommen. Man brauchte schon viel Geschick, um die Spekulationen von der Wahrheit zu trennen, aber die meisten hatten die gleiche Meinung über al’Thor. Launisch, misstrauisch, arrogant. Soll doch das Licht Elaida verbrennen!, dachte Siuan. Wäre sie nicht gewesen, hätten wir ihn schon vor langer Zeit in der Obhut der Aes Sedai gehabt.
Sie stiegen drei spiralenförmige Rampen hinauf und betraten einen weiteren der weiß gestrichenen Korridore der Weißen Burg und näherten sich dem Saal der Burg. Wenn die Amyrlin den Wiedergeborenen Drachen empfangen würde, dann dort. Zwei Abzweigungen später – vorbei an verspiegelten Kandelabern und eindrucksvollen Wandteppichen – betraten sie den letzten Korridor und erstarrten.
Die Bodenfliesen hatten die Farbe von Blut. Das konnte nicht sein. Sie hätten weiß und gelb sein müssen. Die hier glitzerten, als wären sie feucht.
Chubain atmete tief ein und griff nach dem Schwert. Saerin hob eine Braue. Siuan war geneigt, einfach weiterzugehen, aber die Stellen, an denen der Dunkle König die Welt berührt hatte, konnten gefährlich sein. Möglicherweise versank sie im Boden oder wurde von den Wandteppichen angegriffen.
Die beiden Aes Sedai drehten um und gingen in die andere Richtung. Chubain zögerte einen Moment, dann eilte er ihnen hinterher. Seine Anspannung war ihm mühelos anzusehen. Zuerst hatten die Seanchaner während seiner Wache die Burg angegriffen, und jetzt kam der Wiedergeborene Drache höchstpersönlich.
Als sie die Gänge passierten, trafen sie auf andere Schwestern, die in die gleiche Richtung strömten. Die meisten von ihnen trugen ihre Stolen. Man hätte denken können, dass daran die Nachricht des Tages schuld war, aber in Wahrheit hielten viele noch immer an ihrem Misstrauen gegenüber anderen Ajahs fest. Noch ein Grund, Elaida zu verfluchen. Egwene hatte große Anstrengungen unternommen, die Burg wieder zu einer Einheit zu schmieden, aber man konnte einen Jahresvorrat zerrissener Netze nicht in einem Monat flicken.
Endlich erreichten sie den Saal der Burg. Schwestern drängten sich in dem breiten Korridor davor, getrennt nach ihren Ajahs. Chubain eilte los, um mit den Wächtern an der Tür zu sprechen, und Saerin betrat den Saal, wo sie zusammen mit den anderen Sitzenden warten konnte. Siuan blieb bei den Dutzenden, die sich vor der Tür versammelt hatten.
Die Dinge veränderten sich. Egwene hatte eine neue Behüterin der Chroniken, die Sheriam ersetzte. Dass ihre Wahl auf Silviana gefallen war, machte Sinn – für eine Rote war die Frau für ihre Vernunft bekannt, und sie auszuwählen hatte dabei geholfen, die beiden Hälften der Burg wieder zu vereinen. Aber Siuan hatte irgendwie gehofft, in diese Position erwählt zu werden. Jetzt wurde Egwenes Zeit so beansprucht – und sie kam so gut mit allem zurecht -, dass sie sich immer weniger auf Siuan verließ.
Das war eine gute Sache. Aber es war auch ärgerlich.
Die vertrauten Dinge, der Geruch von frisch geputztem Stein, die hallenden Schritte … Als sie sich das letzte Mal an diesem Ort befunden hatte, hatte sie darüber geherrscht. Das war vorbei.
Sie hatte nicht vor, wieder den Weg nach oben zu beschreiten. Die Letzte Schlacht stand kurz bevor; sie hatte keine Lust, ihre Zeit mit Streitereien der Blauen Ajah zu verschwenden, während sie sich wieder in die Burg einfügten. Sie wollte das tun, was sie sich vor all diesen Jahren zusammen mit Moiraine vorgenommen hatte. Dem Wiedergeborenen Drachen den richtigen Weg zur Letzten Schlacht zu weisen.
Durch den Bund fühlte sie Brynes Ankunft, bevor er sprach. »Das ist aber eine besorgte Miene«, sagte er und übertönte Dutzende von gedämpften Gesprächen, die den Korridor erfüllten.
Siuan drehte sich zu ihm um. Er war stattlich und erstaunlich ruhig – vor allem für einen Mann, der von Morgase Trakand verraten und dann in die Ränke der Aes Sedai verwickelt worden war, um dann gesagt zu bekommen, dass er seine Truppen in die Frontlinie der Letzten Schlacht führen würde. Aber das war Bryne. Gelassen bis zur Selbstverleugnung. Er beschwichtigte ihre Sorgen einfach nur durch seine Anwesenheit.
»Du kamst schneller, als ich das für möglich gehalten hätte«, sagte sie. »Und ich mache keinesfalls eine ›besorgte Miene‹, Gareth Bryne. Ich bin eine Aes Sedai. Es ist meine Natur, mich und meine Umgebung unter Kontrolle zu haben.«
»Ja«, erwiderte er. »Aber je mehr Zeit ich unter den Aes Sedai verbringe, desto häufiger grüble ich darüber nach. Haben sie ihre Gefühle unter Kontrolle? Oder verändern sich diese Gefühle einfach nie? Wenn man sich immer sorgt, wird man immer gleich aussehen.«
Sie musterte ihn. »Alberner Mann.«
Er lächelte und betrachtete den Korridor voller Aes Sedai mit ihren Behütern. »Ich war bereits mit einem Bericht auf dem Rückweg zur Burg, als mich dein Bote fand. Danke.«
»Gern geschehen«, sagte sie barsch.
»Sie sind nervös. Ich glaube nicht, dass ich die Aes Sedai je so sah.«
»Nun, kannst du uns das verdenken?«, fauchte sie.
Er sah sie an, dann legte er ihr die Hand auf die Schulter. Seine starken schwieligen Finger strichen über ihren Hals. »Was ist denn los?«
Sie holte tief Luft und blickte zur Seite, als Egwene endlich eintraf und in ein Gespräch mit Silviana vertieft auf den Saal zuging. Wie gewöhnlich schlich der ernste Gawyn Trakand wie ein ferner Schatten hinter ihr her. Von Egwene nicht anerkannt, nicht als ihr Behüter gebunden, aber auch nicht aus der Burg verbannt. Seit der Wiedervereinigung verbrachte er seine Nächte damit, Egwenes Türen zu bewachen, obwohl sie das ärgerte.
Als sich Egwene dem Eingang zum Saal näherte, traten die Schwestern zurück und machten ihr den Weg frei, einige nur zögernd, andere andächtig. Sie hatte die Weiße Burg aus ihrem Inneren heraus auf die Knie gezwungen, während man sie jeden Tag geprügelt und mit so viel Spaltwurzel abgefüllt hatte, dass sie mit der Macht kaum eine Kerze entzünden konnte. So jung. Aber was bedeutete einer Aes Sedai schon das Alter?
»Ich hatte immer geglaubt, ich würde die dort drin sein«, sagte Siuan leise zu Bryne. »Dass ich ihn empfangen und leiten würde. Ich war diejenige, die auf diesem Stuhl sitzen sollte.«
Bryne griff fester zu. »Siuan, ich …«
»Ach, sei nicht so«, knurrte sie ihn an. »Ich bereue nichts.«
Er runzelte die Stirn.
»Es ist besser so«, sagte Siuan, obwohl es ihr die Eingeweide verknotete, das zuzugeben. »Trotz all ihrer Tyrannei und Dummheit ist es gut, dass Elaida mich abgesetzt hat, denn das brachte uns Egwene. Sie wird mehr erreichen, als ich je geschafft hätte. Das ist schwer zu verdauen – ich war gut als Amyrlin, aber das konnte ich nicht. Durch Ausstrahlung zu führen statt durch Zwang, zu einen statt zu spalten. Und darum bin ich froh, dass Egwene ihn empfängt.«
Bryne lächelte und drückte liebevoll ihre Schulter.
»Was?«
»Ich bin stolz auf dich.«
Sie rollte mit den Augen. »Pah. Eines Tages werde ich noch in deiner Gefühlsduselei ertrinken.«
»Siuan Sanche, du kannst deine Gutherzigkeit nicht vor mir verbergen.«
»Du bist solch ein Narr.«
»Egal. Du hast uns diesen Augenblick ermöglicht, Siuan.
Welche Höhen dieses Mädchen auch erklimmt, das wird sie nur deshalb tun, weil du für sie die Stufen geschlagen hast.«
»Ja, und dann übergab ich Elaida den Meißel.« Siuan warf einen Blick auf Egwene, die am Eingang zum Saal stand. Die junge Amyrlin ließ den Blick über die versammelten Frauen schweifen und nickte Siuan grüßend zu. Vielleicht sogar etwas respektvoll.
»Sie ist das, was wir jetzt brauchen«, meinte Bryne. »Aber du warst das, was wir damals brauchten. Du hast gute Arbeit geleistet, Siuan. Sie weiß das, und die Burg weiß es auch.«
Das zu hören fühlte sich gut an. »Nun. Hast du ihn gesehen, als du hereinkamst?«
»Ja«, sagte Bryne. »Er stand dort unten, von mindestens hundert Behütern und sechsundzwanzig Schwestern bewacht – zwei vollen Zirkeln. Zweifellos ist er abgeschirmt, aber die sechsundzwanzig Frauen schienen beinahe von Panik ergriffen. Niemand wagte es, ihn zu berühren oder zu fesseln.«
»Solange er abgeschirmt ist, spielt das keine Rolle. Sah er ängstlich aus? Hochmütig? Wütend?«
»Nein. Nichts davon.«
»Nun, wonach sah er denn dann aus?«
»Willst du das wirklich wissen, Siuan? Er sah aus wie eine Aes Sedai.«
Siuan ließ den Mund zuschnappen. Verspottete er sie wieder? Nein, der General erschien ehrlich. Aber was meinte er damit?
Egwene betrat den Saal, dann eilte eine weißgekleidete Novizin fort, begleitet von zwei von Chubains Soldaten. Egwene hatte nach dem Drachen geschickt. Bryne blieb dort mit auf Siuans Schulter gelegter Hand stehen, stand direkt hinter ihr in dem Korridor. Siuan zwang sich zur Ruhe.
Schließlich sah sie am Ende des Ganges eine Bewegung. Um sie herum fingen Schwestern an zu glühen, als sie die Quelle umarmten. Siuan versagte sich dieses Zeichen der Unsicherheit.
Kurz darauf erschien eine Prozession. Behüter bildeten ein Rechteck um eine hochgewachsene Gestalt in einem abgetragenen braunen Umhang, gefolgt von sechsundzwanzig Aes Sedai. Für Siuan leuchtete die Gestalt in der Mitte. Sie verfügte über das Talent, ta’veren sehen zu können, und al’Thor zählte zu den mächtigsten, die je gelebt hatten.
Sie zwang sich, das Leuchten zu ignorieren und al’Thor selbst zu mustern. Anscheinend war aus dem Jungen ein Mann geworden. Sämtliche Anzeichen jugendlicher Weichheit waren weg und durch harte Linien ersetzt. Er hatte die unbewusste in sich zusammengesunkene Haltung abgelegt, die viele junge Männer an den Tag legten, vor allem die hochgewachsenen. Stattdessen akzeptierte er seine Größe, wie es ein Mann tun sollte, schritt energisch aus. Während ihrer Zeit als Amyrlin hatte Siuan falsche Drachen gesehen. Seltsam, wie dieser Mann ihnen hätte ähneln müssen. Es war …
Sie erstarrte, als sich ihre Blicke trafen. Etwas an seinen Augen war unbestimmbar, eine Bürde, ein Alter. Als würde dieser Mann durch das Licht von tausend Leben sehen, die zu einem komprimiert worden waren. Sein Gesicht sah tatsächlich aus wie das einer Aes Sedai. Zumindest diese Augen verrieten Alterslosigkeit.
Der Wiedergeborene Drache hob die rechte Hand – der linke Arm blieb hinter seinem Rücken gehalten – und hielt die Prozession an. »Wärt ihr so freundlich«, sagte er zu den Behütern und schob sich an ihnen vorbei.
Die schockierten Behüter ließen ihn gewähren; die leise Stimme des Drachen ließ sie zur Seite treten. Sie hätten es besser wissen müssen. Al’Thor trat zu Siuan, und sie stählte sich. Er war unbewaffnet und abgeschirmt. Er konnte ihr nichts antun. Trotzdem schob sich Bryne an ihre Seite und legte die Hand auf den Schwertgriff.
»Friede, Gareth Bryne«, sagte al’Thor. »Ich werde niemandem Schaden zufügen. Ich nehme an, Ihr habt zugelassen, mit ihr den Bund einzugehen? Seltsam. Elayne wird das interessant finden. Und Siuan Sanche. Ihr habt Euch seit unserer letzten Begegnung verändert.«
»Zu uns allen kommen Veränderungen, solange sich das Rad dreht.«
»Die Antwort einer echten Aes Sedai.« Al’Thor lächelte. Ein entspanntes, weiches Lächeln. Das überraschte sie. »Ich frage mich, ob ich mich jemals daran gewöhne. Ihr habt einst einen Pfeil für mich abgefangen. Habe ich Euch dafür gedankt?«
»Wenn ich mich richtig erinnere, tat ich das nicht absichtlich«, erwiderte sie trocken.
»Ich danke Euch trotzdem.« Er wandte sich der Tür zum Saal der Burg zu. »Was für eine Art von Amyrlin ist sie?«
Warum fragst du das mich? Er konnte unmöglich wissen, wie nahe sich Siuan und Egwene standen. »Sie ist unglaublich«, sagte Siuan. »Eine der größten, die wir je hatten, obwohl sie erst so kurze Zeit den Sitz einnimmt.«
Er lächelte wieder. »Ich habe nichts anderes erwartet. Seltsam, aber ich habe das Gefühl, dass es wehtun wird, sie wiederzusehen, obwohl diese eine Wunde nun wirklich gut verheilt ist. Vermutlich kann ich mich noch immer an den Schmerz erinnern.«
Beim Licht, dieser Mann brachte ihre Erwartungen aber gehörig durcheinander! Die Weiße Burg war ein Ort, der jeden Mann, der die Eine Macht lenken konnte, aus dem Gleichgewicht hätte bringen sollen, ob er nun der Wiedergeborene Drache war oder nicht. Aber ihn schien das nicht im Mindesten zu beunruhigen.
Sie öffnete den Mund, aber eine Aes Sedai drängte sich durch die Menge. Tiana?
Die Frau zog etwas aus dem Ärmel und hielt es Rand hin. Ein kleiner Brief mit rotem Siegel. »Das ist für Euch«, sagte sie. Ihre Stimme klang angespannt, und ihre Finger zitterten, auch wenn das Zittern so fein war, dass es die meisten übersehen hätten. Aber Siuan hatte gelernt, bei Aes Sedai auf Anzeichen von Gefühlen zu achten.
Al’Thor hob eine Braue, dann nahm er den Brief entgegen. »Worum handelt es sich?«
»Ich habe versprochen, ihn zu übergeben«, sagte Tiana. »Ich hätte Nein gesagt, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass Ihr tatsächlich … ich meine …« Sie unterbrach sich. Dann zog sie sich wieder in die Menge zurück.
Al’Thor schob den Brief ungelesen in die Tasche. »Tut Euer Bestes, Egwene zu beruhigen, wenn ich fertig bin«, sagte er zu Siuan. Dann holte er tief Luft und ging weiter, seine Wächter ignorierend. Sie eilten ihm hinterher. Die Behüter sahen peinlich berührt aus, aber niemand wagte es ihn anzufassen, während er den Saal der Burg betrat.
Egwene stellten sich die Härchen auf den Unterarmen auf, als Rand ohne Begleitung eintrat. Aes Sedai drängten sich auf der Schwelle und versuchten so auszusehen, als würden sie nicht gaffen. Silviana warf Egwene einen Blick zu. Sollte diese Begegnung Versiegelt werden?
Nein, dachte Egwene. Sie müssen sehen, wie ich ihm entgegentrete. Beim Licht, ich fühle mich noch nicht bereit dafür.
Aber daran war nichts mehr zu ändern. Sie stählte sich und wiederholte in Gedanken die Worte, die sie schon den ganzen Morgen lang übte. Das war nicht Rand al’Thor, der Freund aus ihren Kindertagen, der Mann, den sie geglaubt hatte eines Tages zu heiraten. Mit Rand al’Thor konnte sie nachsichtig umgehen, aber hier würde Nachsicht nur das Ende der Welt herbeiführen.
Nein. Dieser Mann war der Wiedergeborene Drache. Der gefährlichste Mann, der je Luft geholt hatte. Groß, viel selbstsicherer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Gekleidet war er schlicht.
Er begab sich direkt in die Mitte des Saals; die Behüter blieben draußen. Im Zentrum der auf den Boden aufgemalten Flamme blieb er stehen, umgeben von den Sitzenden auf ihren Stühlen.
»Egwene«, sagte Rand. Seine Stimme hallte durch den Raum. Er nickte ihr zu, wie aus Respekt. »Wie ich sehe, hast du deinen Teil getan. Die Stola der Amyrlin steht dir.«
Bei dem, was sie in letzter Zeit über ihn gehört hatte, hatte sie nicht erwartet, ihn so ruhig zu sehen. Vielleicht war es ja die Ruhe eines Verbrechers, der sich endlich gestellt hatte.
Dachte sie wirklich so über ihn? Hielt sie ihn für einen Verbrecher? Er hatte Taten vollbracht, die zweifellos verwerflich erschienen; er hatte vernichtet, er hatte erobert. Als sie das letzte Mal Zeit mit Rand verbracht hatte, waren sie durch die Aiel-Wüste gereist. Während dieser Monate war er zu einem harten Mann geworden, und diese Härte erkannte sie noch immer in ihm. Aber da war etwas anderes, etwas, das tiefer saß.
»Was ist mit Euch passiert?«, hörte sie sich fragen, als sie sich auf dem Amyrlin-Sitz vorbeugte.
»Ich wurde gebrochen«, sagte Rand, die Hände auf dem Rücken verschränkt. »Und dann wurde ich erstaunlicherweise neu geschmiedet. Ich glaube, er hatte mich fast so weit, Egwene. Es war Cadsuane, die mich dazu brachte, das in Ordnung zu bringen, auch wenn sie es nur durch einen Zufall geschafft hat. Trotzdem werde ich ihr Exil wohl aufheben müssen, fürchte ich.«
Er sprach anders. Seinen Worten haftete eine Förmlichkeit an, die sie nicht erkannte. Bei einem anderen Mann wäre sie von einem kultivierten, gelehrten Hintergrund ausgegangen. Aber den hatte Rand nicht. Konnten Lehrer ihn so schnell ausgebildet haben?
»Warum seid Ihr vor den Amyrlin-Sitz getreten?«, fragte sie. »Wollt Ihr eine Petition vorbringen, oder seid Ihr gekommen, um Euch der Führung der Weißen Burg zu ergeben?«
Er studierte sie, die Hände noch immer hinter dem Rücken verschränkt. Hinter ihm betraten dreizehn Schwestern langsam nacheinander den Saal, vom Glühen Saidars eingehüllt, das seine Abschirmung aufrechterhielt.
Rand schien deswegen nicht besorgt zu sein. Er musterte den Raum, betrachtete die verschiedenen Sitzenden. Sein Blick verweilte auf den Sitzen der Roten, von denen zwei leer waren. Pevara und Javindhra waren noch immer nicht von ihrer unbekannten Mission zurückgekehrt. Nur Barasine war anwesend. Sie war kürzlich gewählt worden, um Duhara zu ersetzen. Sie erwiderte Rands Blick ungerührt, das musste man ihr lassen.
»Ich hasste dich«, sagte Rand und wandte sich wieder Egwene zu. »In den vergangenen Monaten haben mich viele Gefühle beschäftigt. Es hatte den Anschein, als hätte ich mich seit dem Augenblick von Moiraines Auftauchen in den Zwei Flüssen dagegen wehren müssen, mich von der Kontrolle der Aes Sedai fesseln zu lassen. Und doch ließ ich zu, dass sich andere unsichtbare Fesseln um mich legten. Viel gefährlichere Fesseln.
Mir wird klar, dass ich mich zu sehr bemüht habe. Ich machte mir Sorgen, dass du mich kontrollieren würdest, wenn ich auf dich höre. Mich trieb nicht der Wunsch nach Unabhängigkeit an, sondern die Angst vor Bedeutungslosigkeit. Die Angst, dass die von mir errungenen Erfolge deine sein würden und nicht meine.« Er zögerte. »Ich hätte mir lieber so bequeme Rücken wünschen sollen, denen man die Verantwortung für meine Verbrechen hätte aufladen können.«
Egwene runzelte die Stirn. Der Wiedergeborene Drache war zur Weißen Burg gekommen, um sich in müßiger Philosophie zu ergehen? Vielleicht war er ja doch wahnsinnig geworden. »Rand«, sagte sie dann mit weicher Stimme. »Ich werde ein paar Schwestern darum bitten, mit Euch … mit dir zu sprechen, um zu entscheiden, ob mit dir etwas… nicht stimmt. Bitte versuch das zu verstehen.«
Sobald sie mehr über seinen Zustand wussten, konnten sie entscheiden, was sie mit ihm machen würden. Der Wiedergeborene Drache brauchte Freiheit, um die Prophezeiungen zu erfüllen, aber konnten sie ihn einfach durch das Land streifen lassen, wo sie ihn jetzt hatten?
Rand lächelte. »Oh, ich verstehe durchaus, Egwene. Und es tut mir leid, dir das abschlagen zu müssen, aber ich habe zu viel zu tun. Meinetwegen verhungern Menschen, andere leben wegen meiner Taten in Angst und Schrecken. Ein Freund reitet ohne Verbündete seinem Tod entgegen. Es bleibt so wenig Zeit, um das zu tun, was ich tun muss.«
»Rand«, sagte Egwene, »wir müssen uns vergewissern.«
Er nickte, als würde er das verstehen. »Das ist der Teil, den ich bedaure. Ich wollte nicht ins Zentrum deiner Macht kommen, die du dir so schwer verdient hast, und mich dir verweigern. Aber das ist nicht zu ändern. Du musst meine Pläne kennen, damit du dich vorbereiten kannst.
Als ich die Bohrung das letzte Mal versiegeln wollte, war ich gezwungen, es ohne Hilfe der Frauen zu machen. Zum Teil hat das in die Katastrophe geführt, obwohl es möglicherweise klug von ihnen war, mir ihre Kraft zu verweigern. Nun, die Schuld muss man allen gleichmäßig zur Last legen. Aber ich werde denselben Fehler kein zweites Mal machen. Ich glaube, dass sowohl Saidin wie auch Saidar benutzt werden müssen. Ich habe noch nicht alle Antworten.«
Egwene beugte sich vor, studierte ihn. In seinen Augen schien kein Wahnsinn zu funkeln. Sie kannte diese Augen. Sie kannte Rand.
Beim Licht, dachte sie. Ich habe mich geirrt. Ich kann ihn nicht nur als den Wiedergeborenen Drachen betrachten. Ich bin aus einem bestimmten Grund hier. Er ist aus einem bestimmten Grund hier. Er muss Rand für mich sein. Weil man Rand vertrauen kann, während man den Wiedergeborenen Drachen fürchten muss.
»Wer bist du?« Unwillkürlich flüsterte sie.
Er hörte es. »Ich bin beide, Egwene. Ich erinnere mich an ihn. Lews Therin. Ich kann sein ganzes Leben sehen, jeden verzweifelten Augenblick. Ich sehe es wie einen Traum, aber einen klaren Traum. Meinen eigenen Traum. Er ist ein Teil von mir.«
Es waren die Worte eines Wahnsinnigen, aber sie wurden ganz ruhig ausgesprochen. Egwene sah ihn an und erinnerte sich an den Jugendlichen, der er gewesen war. Der ernste junge Mann. Nicht so ernst wie Perrin, aber nicht so wild wie Mat. Zuverlässig, geradeheraus. Die Art Mann, dem man in allem vertrauen konnte.
Selbst mit dem Schicksal der Welt.
»In einem Monat«, sagte Rand, »reise ich zum Shayol Ghul und breche die letzten Siegel am Gefängnis des Dunklen Königs. Ich wünsche deine Hilfe.«
Die Siegel brechen? Das Bild aus ihrem Traum stieg vor ihr auf, wie Rand auf die Seile einschlug, die die Kristallkugel zusammenhielten. »Rand, nein«, sagte sie.
»Ich werde dich brauchen, euch alle«, fuhr er fort. »Ich hoffe beim Licht, dass ihr mich dieses Mal unterstützt. Ich möchte mich einen Tag vor meinem Aufbruch zum Shayol Ghul mit dir treffen. Und dann … nun, dann werden wir über meine Bedingungen sprechen.«
»Deine Bedingungen?«, wollte Egwene wissen.
»Du wirst schon sehen«, sagte er und drehte sich um, als wollte er gehen.
»Rand al’Thor!«, sagte sie und stand auf. »Du wirst dem Amyrlin-Sitz nicht den Rücken zuwenden!«
Er erstarrte, dann wandte er sich ihr wieder zu.
»Du kannst die Siegel nicht brechen«, sagte Egwene. »Damit würde man riskieren, dass der Dunkle König freikommt.«
»Ein Risiko, das wir eingehen müssen. Wir müssen das Geröll wegschaffen. Die Bohrung muss wieder völlig geöffnet werden, bevor sie versiegelt werden kann.«
»Wir müssen darüber sprechen«, sagte sie. »Planen.«
»Darum bin ich ja zu dir gekommen. Damit du planen kannst.«
Er erschien amüsiert. Beim Licht! Wütend setzte sie sich wieder. Er hatte die gleiche Sturheit wie sein Vater. »Es gibt Dinge, über die wir sprechen müssen, Rand. Nicht nur das, sondern andere Dinge – nicht zuletzt über die Schwestern, mit denen deine Männer den Bund eingegangen sind.«
»Wir können bei unserer nächsten Begegnung darüber sprechen.«
Sie sah ihn stirnrunzelnd an.
»Und so ist es nun so weit«, sagte Rand. Er verneigte sich vor ihr – eine angedeutete Verbeugung, fast nur ein Neigen des Kopfes. »Egwene al’Vere, Hüterin der Siegel, Flamme von Tar Valon, habe ich Eure Erlaubnis, mich zurückzuziehen?«
Er fragte so höflich. Sie konnte nicht sagen, ob er sie verspottete oder nicht. Sie erwiderte seinen Blick. Bring mich nicht dazu, etwas zu tun, das ich bedauern würde, schien seine Miene zu sagen.
»Ich lasse dich die Siegel nicht zerbrechen«, sagte sie. »Das ist Wahnsinn.«
»Dann triff dich mit mir an dem Ort namens Feld von Merrilor, oben im Norden. Wir reden miteinander, bevor ich zum Shayol Ghul gehe. Im Moment möchte ich hier keine Schwierigkeiten machen, Egwene. Aber ich muss gehen.«
Keiner von ihnen senkte den Blick. Die anderen Anwesenden im Raum schienen den Atem anzuhalten. Es war still genug, dass Egwene die leise Brise hören konnte, die das Rosenfenster in seinem Bleirahmen ächzen ließ.
»Also gut«, sagte Egwene. »Aber das ist noch nicht erledigt, Rand.«
»Es gibt nie ein Ende, Egwene«, erwiderte er, nickte ihr zu und drehte sich um, um den Saal zu verlassen. Beim Licht! Seine linke Hand fehlte! Wie war das passiert?
Schwestern und Behüter gaben ihm zögernd den Weg frei. Egwene hob die Hand an den Kopf; ihr war schwindlig.
»Beim Licht!«, sagte Silviana. »Wie konntet Ihr währenddessen nur denken, Mutter?«
» Was?« Egwene schaute sich im Saal um. Viele Sitzende waren deutlich sichtbar auf ihren Plätzen zusammengesunken.
»Etwas ergriff mein Herz«, sagte Barasine und hob die Hand an die Brust, »drückte es fest zusammen. Ich wagte nicht zu sprechen.«
»Ichjüollte sprechen«, sagte Yukiri. »Meine Lippen wollten sich nicht bewegen.«
»Ta’veren«, sagte Saerin. »Aber ein so starker Einfluss … ich hatte das Gefühl, er zermalmt mich von innen.«
»Wie konntet Ihr dem widerstehen, Mutter?«, fragte Silviana.
Egwene runzelte die Stirn. Sie hatte nichts dergleichen verspürt. Vielleicht weil sie an ihn als Rand dachte. »Wir müssen über seine Worte sprechen. Der Saal der Burg wird in einer Stunde zusammentreten, um darüber zu diskutieren.« Diese Unterredung würde allerdings Versiegelt werden. »Und jemand soll sich vergewissern, dass er wirklich geht.«
»Gareth Bryne kümmert sich darum«, sagte Chubain von draußen.
Sichtlich erschüttert kämpften sich die Sitzenden auf die Füße. Silviana beugte sich vor. »Ihr habt recht, Mutter. Man darf ihm nicht erlauben, die Siegel zu brechen. Aber was sollen wir tun? Wenn Ihr ihn nicht gefangen nehmen wolltet…«
»Ich bezweifle, dass wir ihn hätten festhalten können«, sagte Egwene. »Da ist etwas an ihm. Ich … ich hatte den Eindruck, dass er die Abschirmung mühelos hätte durchbrechen können.«
»Und dann? Wie sollen wir ihn aufhalten?«
»Wir brauchen Verbündete«, sagte Egwene. Sie holte tief Luft. »Er könnte sich von Menschen überzeugen lassen, denen er vertraut.« Oder er könnte gezwungen werden, sich anders zu entscheiden, wenn er sich mit einer Gruppe konfrontiert sah, die groß genug war, um ihn aufzuhalten.
Jetzt was es noch entscheidender, mit Elayne und Nynaeve zu sprechen.