22 Das Ende einer Legende

In der Nacht konnte Gawyn die Wunden der Weißen Burg nicht sehen.

In der Dunkelheit konnte man nicht zwischen wunderschönen Wandgemälden und einer Wand mit nicht zueinander passenden Fliesen unterscheiden. In der Nacht verwandelten sich die schönsten Gebäude von Tar Valon nur in eine weitere dunkle Masse.

Und in der Nacht flickten Verbände aus Dunkelheit die Löcher und Narben der Weißen Burg. Natürlich konnte man in einer so finsteren, wolkenverhangenen Nacht auch die Farbe des Turms nicht erkennen. Weiß oder Schwarz; nachts spielte das wirklich keine Rolle.

Gawyn überquerte das Burggelände; er trug steife Hosen und einen Mantel in Rot und Gold. Wie eine Uniform, die aber auf keine besondere Dienstverpflichtung hinwies. Anscheinend hatte er im Moment keine Dienstverpflichtung. Beinahe schon unbewusst ging er auf den Osteingang zu, als wollte er zu Egwenes Schlafgemach. Er biss die Zähne zusammen und schlug die andere Richtung ein.

Eigentlich hätte er schlafen sollen. Aber nachdem er Egwenes Tür beinahe eine Woche lang bewacht hatte, nahm er gerade seine Mitternachtsmittagspause, wie die Soldaten so sagten. Vielleicht hätte er in seinem Gemach bleiben sollen, um sich dort zu entspannen, aber sein Quartier in den Wächterunterkünften der Weißen Burg fühlte sich bedrückend an.

In der Nähe schlichen zwei kleine wilde Katzen durch das Gras; ihre Augen spiegelten das Fackellicht eines Wachtpostens wider. Die Katzen duckten sich und beobachteten ihn, als würden sie einen kurzen Augenblick lang in Betracht ziehen, ob er einen Angriff wert war oder nicht. In der Luft kreiste eine nicht zu sehende Eule, deren Anwesenheit nur von einer einzelnen herabschwebenden Feder verkündet wurde. In der Nacht fiel es leichter, etwas anderes darstellen zu wollen. Manche Männer lebten ihr ganzes Leben auf diese Weise, zogen die Vorhänge der Dunkelheit den offenen Fenstern des Tageslichts vor, weil sie ihnen die Welt in Schatten gehüllt zeigten.

Jetzt war Sommer, aber obwohl es tagsüber heiß gewesen war, war die Nacht doch seltsam kalt. Eine Brise ließ ihn frösteln. Seit dem Tod der unglückseligen Weißen hatte es keine weiteren Morde mehr gegeben. Wann schlug der Mörder wieder zu? Er – oder sie – konnten in diesem Augenblick durch die Gänge schleichen, auf der Suche nach einer einsamen Aes Sedai wie die Katzen nach Mäusen.

Egwene hatte ihn von ihrer Tür fortgeschickt, aber das bedeutete nicht, dass er keine Wache hielt. Doch was nutzte es, durch die Gärten zu streifen? Er sollte im Turm sein, wo er die Gelegenheit hatte, etwas Gutes zu tun. Gawyn begab sich zu einem der Dienstboteneingänge.

Der dahinterliegende Korridor mit der niedrigen Decke war sauber und gut beleuchtet, wie die anderen in der Burg auch, allerdings war der Boden mit mattgrauen Schieferplatten ausgelegt anstelle von Fliesen. Aus einem offenen Raum zu seiner Rechten hallten Gelächter und angeregte Unterhaltung, Wächter, die sich zusammen mit ihren Kameraden nach Dienstende die Zeit vertrieben. Gawyn schenkte ihnen kaum einen Blick, aber dann blieb er ruckartig stehen.

Er drehte um und erkannte ein paar der Männer. »Mazone? Celark? Zang? Was macht Ihr denn hier?«

Die drei Männer schauten alarmiert aus, dann zerknirscht. Sie gehörten zu einem Dutzend der Jünglinge, die würfelten und zusammen mit dienstfreien Burgwächtern Pfeifen rauchten. Die Jünglinge stolperten auf ihre Füße und salutierten, obwohl er nicht mehr ihr Kommandant war. Daran schienen sie nicht zu denken.

Celark, ihr Anführer, eilte zu Gawyn. Er war ein schlanker Bursche mit hellbraunem Haar und dicken Fingern. »Mein Lord«, sagte er. »Nichts Wichtiges, mein Lord. Nur etwas harmloser Spaß.«

»Die Behüter halten nichts von so einem Benehmen«, sagte Gawyn. »Das wisst Ihr, Celark. Wenn es sich herumspricht, dass Ihr so lange aufbleibt und würfelt, werdet Ihr nie eine Aes Sedai überzeugen können, mit Euch den Bund einzugehen. «

Celark schnitt eine Grimasse. »Ja, mein Lord.«

Die Grimasse hatte etwas Zögerndes an sich. »Was denn?«, fragte Gawyn. »Raus damit, Mann.«

»Nun, mein Lord«, sagte Celark. »Es ist nur so, ein paar von uns, wir sind uns nicht so sicher, ob wir Behüter werden wollen. Ihr wisst ja, nicht alle von uns kamen aus diesem Grund her. Einige waren wie Ihr, wollten von den Besten lernen. Und der Rest… nun, die Dinge haben sich eben geändert.«

» Was für Dinge?«

»Alberne Dinge, mein Lord.« Der Mann blickte zu Boden. »Natürlich habt Ihr recht. Morgen in aller Frühe stehen Waffenübungen an. Aber, nun ja, wir haben den Krieg erlebt. Wir sind jetzt Soldaten. Behüter zu sein, das ist alles, was ein Mann sich wünschen sollte. Aber ein paar von uns, wir möchten eigentlich nicht, dass das, was wir jetzt haben, endet. Versteht Ihr?«

Gawyn nickte langsam.

»Als ich in die Burg kam«, sagte Celark, »wünschte ich mir nichts mehr, als ein Behüter zu sein. Jetzt weiß ich nicht mehr, ob ich wirklich mein Leben damit verbringen möchte, eine Frau zu beschützen und ganz allein durch die Lande zu streifen.«

»Ihr könntet der Behüter einer Braunen oder Weißen werden. Und in der Burg bleiben.«

Celark runzelte die Stirn. »Bei allem Respekt, mein Lord, ich glaube, das wäre genauso schlimm. Behüter… sie leben nicht wie andere Männer.«

»Das ist wohl wahr«, sagte Gawyn und blickte unwillkürlich zur Decke, in Richtung von Egwenes fernen Gemächern. Er würde nicht zu dieser Tür gehen. Er zwang den Blick wieder auf Celark. »Es liegt keine Schande darin, einen anderen Weg zu wählen.«

»Bei den anderen hört sich das an, als würde es das sehr wohl.«

»Sie irren sich«, sagte Gawyn. »Holt die von Euch zusammen, die bei den Jünglingen bleiben wollen, und meldet Euch morgen bei Hauptmann Chubain. Ich spreche mit ihm. Ich gehe jede Wette ein, dass er Euch als Division der Burgwache gebrauchen könnte. Beim Angriff der Seanchaner hat er viele Männer verloren.«

Celark entspannte sich sichtlich. »Das würdet Ihr tun, mein Lord?«

»Natürlich. Es war eine Ehre, Euch zu führen.«

»Glaubt Ihr… vielleicht könnt Ihr Euch uns ja anschließen?« Der Jüngling klang hoffnungsvoll.

Gawyn schüttelte den Kopf. »Ich muss einen anderen Weg gehen. Aber wenn das Licht es will, bleibe ich in der Nähe, um Euch im Auge zu behalten.« Er nickte der Gruppe zu. »Geht zurück zu Eurem Spiel. Ich spreche auch mit Makzim.« Makzim war der strenge kräftige Behüter, der die Ausbildung leitete.

Celark nickte dankbar, dann eilte er zu den anderen zurück. Gawyn ging weiter und wünschte sich, seine Entscheidung wäre so einfach wie die seiner Männer.

Gedankenverloren hatte er den halben Weg zu Egwenes Gemächern zurückgelegt, bevor er stehen blieb, weil ihm klar wurde, was er da tat. Ich brauche etwas, das mich ablenkt. So spät war es noch nicht. Vielleicht konnte er ja eine Weile mit Bryne plaudern.

Gawyn machte sich auf den Weg zu Brynes Gemach. Wenn er eine seltsame Position unter den Aes Sedai hatte, dann galt das für Bryne noch mehr: Behüter der ehemaligen Amyrlin, General von Egwenes Eroberungsheer und berühmter Großer Hauptmann. Brynes Tür stand einen Spaltbreit geöffnet und schickte einen Lichtstrahl auf den blaugefliesten Boden. Das war eine Angewohnheit von ihm, wenn er anwesend und wach war; für den Fall, dass einer seiner Offiziere ihn brauchte. Bryne war oft über Nacht nicht da, blieb dann in einem seiner Befehlsstände auf der Insel oder in einem Dorf in der Nähe. Gawyn klopfte leise.

»Herein.« Brynes Stimme war fest und vertraut. Gawyn schlüpfte hinein, dann drückte er die Tür wieder zu, bis sie erneut nur den Spalt geöffnet stand. Bryne saß an einem wackeligen Schreibtisch und arbeitete an einem Brief. Er warf Gawyn einen Blick zu. »Einen Augenblick.«

Gawyn wartete. Die Wände waren mit Karten von Tar Valon, Andor, Cairhien und Umgebung gepflastert. Viele wiesen Anmerkungen in roter Kreide auf. Bryne bereitete sich auf einen Krieg vor. Die Anmerkungen besagten deutlich, dass er der Ansicht war, Tar Valon irgendwann gegen Trollocs verteidigen zu müssen. Mehrere Karten zeigten Dörfer im nördlichen Teil der Umgebung, listeten falls vorhandene Befestigungen und ihre Loyalität zu Tar Valon auf. Man würde sie als Vorratslager und vorgeschobene Verteidigungsstellungen benutzen. Auf einer anderen Karte zeigten Kreise die Positionen von uralten Wachtürmen, Befestigungen und Ruinen an.

Brynes Berechnungen hatten eine methodische Unausweichlichkeit an sich und vermittelten das Gefühl von Dringlichkeit. Er wollte keine Befestigungen bauen, sondern jene benutzen, die es bereits gab. Er verlegte Truppen in die Dörfer, die seiner Meinung nach am nützlichsten waren; eine andere Karte zeigte die Fortschritte der Rekrutierung an.

Erst als Gawyn dort stand und den modrigen Geruch von altem Papier und brennenden Kerzen roch, wurde ihm die Realität des bevorstehenden Krieges bewusst. Er würde bald da sein. Der Drache würde die Siegel am Kerker des Dunklen Königs brechen. Der Ort, an dem er Egwene treffen wollte, das Feld von Merrilor, war auf der Karte in hellem Rot markiert. Es lag im Norden, an der Grenze von Schienar.

Der Dunkle König. Losgelassen auf die Welt. Beim Licht! Es machte Gawyns Probleme unbedeutend.

Bryne beendete seinen Brief, streute Sand auf das Blatt, faltete es zusammen und griff nach Wachs und Siegel. »Es ist etwas spät für einen Besuch, mein Sohn.«

»Ich weiß, aber ich dachte mir, dass Ihr vielleicht noch auf seid.«

»Das bin ich auch.« Bryne tropfte Wachs auf den Brief. »Was braucht Ihr?«

»Einen Rat«, erwiderte Gawyn und setzte sich auf einen Hocker.

»Falls es nicht darum geht, wie man eine Gruppe Männer in vier Abteilungen aufteilt oder einen Hügel befestigt, werdet Ihr meinen Rat wenig aufschlussreich finden. Aber worüber wollt Ihr sprechen?«

»Egwene hat mir verboten, sie zu beschützen.«

»Ich bin sicher, die Amyrlin hat ihre Gründe«, sagte Bryne und versiegelte seelenruhig den Brief.

»Es sind dumme Gründe«, sagte Gawyn. »Sie hat keinen Behüter, und es ist ein Mörder in der Burg.« Einer der Verlorenen.

»Beides ist wahr. Aber was hat das mit Euch zu tun?«

»Sie braucht meinen Schutz.«

»Hat sie um Schutz gebeten?«

»Nein.«

»In der Tat. Wenn ich mich recht erinnere, hat sie Euch auch nicht gebeten, sie in die Weiße Burg zu begleiten, und sie hat Euch auch nicht gebeten, ihr hinterherzulaufen wie ein Hund, der seinen Herrn verlor.«

»Aber sie braucht mich!«

»Interessant. Als Ihr das letzte Mal dieser Ansicht wart, habt Ihr – zusammen mit meiner Hilfe – ihre wochenlange Arbeit zunichtegemacht, die Weiße Burg wieder zu vereinen. Manchmal wird Eure Hilfe einfach nicht gebraucht, mein Sohn. Ganz egal, wie freigebig sie angeboten wird oder wie dringend erforderlich diese Hilfe erscheinen mag.«

Gawyn verschränkte die Arme. Er konnte sich nicht gegen die Wand lehnen, da er die Karte der Obstplantagen in der Umgebung nicht in Unordnung bringen wollte. Aus irgendeinem Grund war ein Dorf in der Nähe des Drachenbergs viermal eingekreist. »Also lautet Euer Rat, sie ohne Schutz zu lassen, bis sie vielleicht ein Messer in den Rücken bekommt.«

»Ich gab keinen Rat«, sagte Bryne und blätterte in ein paar Berichten auf seinem Schreibtisch herum, das Gesicht von dem flackernden Kerzenschein erhellt. »Das war lediglich eine Feststellung, obwohl ich es bemerkenswert finde, dass Ihr zu dem Schluss kommt, Ihr solltet sie in Ruhe lassen.«

»Ich … Bryne, ihre Handlungen ergeben keinen Sinn!«

Brynes Mundwinkel hoben sich zu einem trockenen Lächeln. Er senkte die Papiere und wandte sich Gawyn zu. »Ich habe Euch doch gewarnt, dass mein Rat nicht viel taugt. Ich bin mir nicht sicher, ob es Antworten gibt, die Euch gefallen werden. Aber lasst mich Folgendes fragen: Was wollt Ihr, Gawyn Trakand?«

»Egwene«, sagte er, ohne nachzudenken. »Ich will ihr Behüter sein.«

»Nun, was denn davon?«

Gawyn runzelte die Stirn.

»Wollt Ihr Egwene, oder wollt Ihr ihr Behüter sein?«

»Natürlich ihr Behüter sein. Und … und, nun, sie heiraten. Ich liebe sie, Bryne.«

» Mir kommt es so vor, als wären das zwei sehr verschiedene Dinge. Ähnlich, aber doch voneinander getrennt. Aber abgesehen von Egwene, was wollt Ihr?«

»Nichts«, sagte Gawyn. »Sie ist alles.«

»Nun, da liegt Euer Problem.«

»Wieso ist das ein Problem? Ich liebe sie.«

»Das sagtet Ihr bereits.« Bryne betrachtete Gawyn, den einen Arm auf dem Tisch, den anderen auf seinem Oberschenkel. Gawyn widerstand dem Drang, sich unter diesem Blick zu winden. »Ihr seid schon immer leidenschaftlich gewesen, Gawyn. Genau wie Eure Mutter und Eure Schwester. Impulsiv, aber nie so berechnend wie Euer Bruder.«

»Galad ist nicht berechnend«, sagte Gawyn. »Er handelt einfach.«

»Nein. Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt – Galad mag nicht berechnend sein, aber er ist auch nicht impulsiv. Impulsiv zu sein bedeutet, einfach zu handeln, ohne vorher nachzudenken. Galad hat über alles viel nachgedacht. Auf diese Weise hat er seine Überzeugungen entwickelt. Er kann schnell und entschieden handeln, weil er bereits beschlossen hat, was zu tun ist.

Ihr handelt mit Leidenschaft. Ihr handelt nicht nach dem, was Ihr denkt, sondern nach dem, was Ihr fühlt. Schnell, gefühlsbetont. Das gibt Euch Kraft. Ihr könnt handeln, wenn es sein muss, und Euch später um die Konsequenzen Gedanken machen. Für gewöhnlich sind Eure Instinkte gut, genau wie es die Eurer Mutter waren. Aber darum musstet Ihr Euch nie dem stellen, was zu tun wäre, wenn Euch Euer Instinkt in die falsche Richtung geführt hat.«

Gawyn ertappte sich dabei, dass er nickte.

»Aber, mein Sohn«, sagte Bryne und beugte sich vor. »Ein Mann ist mehr als ein Antrieb, ein Ziel. Keine Frau will das bei einem Mann. Ich bin der Ansicht, dass Männer, die ihre Zeit damit verbringen, etwas aus sich zu machen – statt aller Welt ihre Hingabe zu verkünden -, diejenigen sind, die auch etwas erreichen. Sowohl bei Frauen wie auch im Leben selbst.« Bryne rieb sich das Kinn. »Wenn ich also einen Rat für Euch habe, dann Folgendes: Findet heraus, wer Ihr ohne Egwene sein würdet, und dann findet heraus, wie sie darin hineinpassen soll. Ich glaube, das will eine Frau …«

»Bist du jetzt ein Experte für Frauen?«, fragte eine neue Stimme.

Überrascht drehte sich Gawyn um und entdeckte Siuan Sanche, die die Tür aufstieß.

Bryne ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Du hast lange genug gelauscht, Siuan, um zu wissen, worum es bei dieser Unterhaltung geht.«

Siuan schnaubte und rauschte mit einer Kanne Tee ins Zimmer. »Du solltest im Bett sein«, sagte sie und ignorierte Gawyn nach einem flüchtigen Blick.

»Das ist wahr«, sagte Bryne ungerührt. »Seltsamerweise unterwerfen sich die Bedürfnisse des Landes nicht meinen Launen.«

»Karten kann man auch am Morgen studieren.«

»Und man kann sie in der Nacht studieren. Und am Nachmittag. Jede Stunde, die ich damit verbringe, könnten Meilen bedeuten, die verteidigt werden, wenn die Trollocs durchbrechen.«

Siuan seufzte laut, gab ihm eine Tasse, dann goss sie Tee ein, der nach Wolkenbeere roch. Es war schon seltsam, Siuan, die wegen ihrer Dämpfung wie eine Frau in Gawyns Alter aussah, dabei zuzusehen, wie sie den ergrauten General Bryne bemutterte.

Siuan wandte sich Gawyn zu, nachdem Bryne seinen Tee hatte. »Und Ihr, Gawyn Trakand«, sagte sie. »Ich wollte schon lange mit Euch sprechen. Der Amyrlin Befehle zu geben, ihr zu sagen, was sie tun soll? Also ehrlich. Manchmal scheinen Männer zu glauben, dass Frauen nichts weiter als ihre persönlichen Boten sind. Ihr spinnt euch alle möglichen verrückten Pläne zusammen, und dann erwartet ihr von uns, dass wir sie irgendwie durchführen.«

Sie musterte ihn und erweckte keinesfalls den Eindruck, von ihm irgendeine andere Reaktion als einen beschämtem Blick auf die Stiefelspitzen zu erwarten. Gawyn erfüllte den Wunsch und verzog sich schnell, um weiteren Angriffen zu entgehen.

Nichts von dem, was Bryne gesagt hatte, war eine Überraschung gewesen. Der Mann war beständig und hatte ihm schon zuvor das Gleiche gesagt. Denk nach, statt impulsiv zu handeln; reagiere wohlüberlegt. Aber er hatte Wochen mit Nachdenken verbracht, und seine Gedanken hatten sich im Kreis gedreht wie in einem Glas gefangene Fliegen. Er hatte keine Lösung gefunden.

Gawyn durchkreuzte die Gänge und registrierte Chubains in regelmäßigen Abständen aufgestellte Wächter. Er redete sich ein, nicht zu Egwenes Gemächern hinaufzusteigen; er überprüfte lediglich die Wachtposten. Trotzdem fand er sich bald in einem Gang in unmittelbarer Nähe zu den Gemächern der Amyrlin wieder. Nur einen Korridor entfernt. Er würde einen schnellen Blick riskieren und …

Gawyn erstarrte. Was tue ich da?

Seine Unruhe in dieser Nacht rührte vor allem von dem Unwissen her, nicht zu wissen, ob Egwene vernünftig beschützt wurde oder nicht. Er würde nicht schlafen können, bevor er …

Nein, sagte er sich energisch. Dieses Mal tue ich, worum sie gebeten hat. Er drehte sich um.

Ein Geräusch ließ ihn zögern und über die Schulter blicken. Schritte und raschelnder Stoff. Für Novizinnen war es zu spät, aber es war durchaus vorstellbar, dass Diener eine späte Mahlzeit servierten. Bryne und Gawyn waren nicht die Einzigen, die in der Weißen Burg zu ungewöhnlicher Stunde aktiv waren.

Es ertönte wieder. So leise, kaum wahrnehmbar. Stirnrunzelnd schob Gawyn die Stiefel von den Füßen und schlich los, um einen Blick um die Ecke zu riskieren.

Da war nichts. Egwenes Tür mit der schmückenden goldenen Reproduktion des Avendesoras war geschlossen, der Korridor menschenleer. Seufzend schüttelte Gawyn den Kopf und lehnte sich gegen die Wand, um sich die Stiefel wieder anzuziehen. Er wünschte, Egwene würde wenigstens zulassen, dass Chubain ihre Gemächer bewachte. Hier keinen Wächter aufzustellen war wirklich …

Direkt neben Egwenes Tür bewegte sich etwas im Schatten. Gawyn erstarrte. Dort gab es keine großen dunklen Flächen, sondern nur den wenige Zoll breiten Schatten eines Alkovens. Aber als er diese Stelle musterte, bereitete es ihm Probleme, den Blick darauf gerichtet zu halten. Sein Blick glitt ständig zur Seite wie ein Stück Butter auf einer gekochten Steckrübe.

Es hatte den Anschein, als wäre die Dunkelheit… größer als zuerst gedacht. Warum konnte er sie nicht direkt ansehen?

Eine blitzartige Bewegung, dann wirbelte etwas durch die Luft. Gawyn warf sich zur Seite, Stahl klirrte gegen Stein. Nur einen Stiefel am Fuß ließ er den anderen fallen und zog das Schwert. Das Messer, das nach seinem Herzen gezielt hatte, schepperte über den Fliesenboden.

Angespannt spähte Gawyn um die Ecke. Jemand floh den Korridor entlang. Jemand in Schwarz, mit einer Kapuze über dem Kopf.

Gawyn eilte mit pumpenden Armen und dem Schwert in der Hand hinterher, etwas unbeholfen, da er nur einen Stiefel trug. Der Attentäter war außerordentlich schnell. Gawyn schlug lautstark Alarm, seine Stimme halte durch die stillen Korridore der Burg; er bog nach links ab. Der Meuchelmörder würde einen Bogen beschreiben und durch den Gang zu seiner Rechten kommen.

Gawyn stürmte in den Korridor, um dem Attentäter rechtzeitig den Weg abzuschneiden. Er rutschte um die nächste Ecke.

Der Gang war leer. War der Attentäter wieder umgekehrt? Fluchend rannte Gawyn los und erreichte den Gang am anderen Ende. Niemand in Sicht. Vielleicht gab es irgendwo eine Tür? Hier gab es nur Sackgassen. Wenn er wartete, bis Hilfe eintraf…

Nein, dachte er und fuhr herum. Finsternis. Suche nach Finsternis. Neben einem Türrahmen zu seiner Linken gab es eine dunkle Stelle. Viel zu klein, als dass sich dort jemand hätte verstecken können, aber als er dort hinsah, verspürte er das gleiche Gefühl der Desorientierung wie zuvor.

Eine Gestalt sprang hervor und zielte mit einem Schwert nach Gawyns Kopf. Er riss die Klinge zu Schneide den Schilf hoch und wehrte den Angriff ab. Der Attentäter war viel kleiner als er, also hätte er den bedeutsamen Vorteil der Reichweite haben müssen. Aber der Angreifer bewegte sich mit übermenschlicher Schnelligkeit, eine Reihe von Stichen fuhr Gawyn entgegen, ohne dass dieser die Schwertfiguren erkannte.

Er verfiel in Den Wind drehen, da er sich verteidigen musste, als wäre er umzingelt. Er konnte den Angreifer kaum unter Kontrolle halten. Aus der Ferne hörte er Rufe – Wächter, die auf seinen Alarm reagierten. Er stieß einen lauten Ruf aus.

Die Frustration in den Schlägen seines Angreifers blieb ihm nicht verborgen; der Attentäter war davon ausgegangen, ihn schnell zu besiegen. Nun, er hatte das Gleiche erwartet, aber es fiel ausgesprochen schwer, sich auf den Gegner zu konzentrieren. Seine Hiebe schlugen ins Leere, wo sie doch Fleisch hätten treffen müssen – jedenfalls die, die er anbringen konnte.

Gawyn wich zur Seite und brachte die Klinge in die Position für Eber stürmt den Hang hinunter. Aber das gab dem Attentäter eine Öffnung; er schleuderte ein Messer nach Gawyn und zwang ihn auszuweichen.

Das Messer prallte gegen die Wand, und der Meuchelmörder floh den Korridor entlang. Gawyn eilte hinterher, aber er konnte nicht mithalten. Einen Augenblick später hatte sein Angreifer einen Vorsprung und eilte nach links. Diese Richtung führte zu einer Reihe sich kreuzender Korridore.

Diese Schnelligkeit, dachte Gawyn und blieb keuchend stehen, schnappte die Hände auf die Knie gestützt nach Luft. Die ist nicht natürlich.

Einen Moment später trafen zwei von Chubains Wächtern mit gezückten Schwertern ein. Gawyn zeigte nach vorn. »Meuchelmörder. Lauschte an Egwenes Tür. Ist da entlang.«

Ein Mann rannte in die Richtung, in die er zeigte. Der andere eilte los, um Großalarm zu schlagen.

Beim Licht! Was, wenn ich ihn gar nicht beim Lauschen überrascht habe? Sondern beim Rückweg?

Er rannte zu Egwenes Tür, und seine Erschöpfung war wie verflogen. Mit gezogener Klinge griff er nach der Tür. Sie war unverschlossen!

»Egwene!«, rief er, stieß die Tür auf und sprang ins Zimmer.

Licht blitzte auf, begleitet von einem Donnerschlag. Gawyn fühlte, wie sich etwas Starkes um ihn legte; unsichtbare Bänder rissen ihn in die Luft. Sein Schwert landete auf dem Boden, sein Mund füllte sich mit einer unsichtbaren Macht.

Und so hing er entwaffnet und zappelnd an der Decke, als die Amyrlin aus dem Schlafzimmer kam. Sie war wach und voll bekleidet mit einem blutroten Kleid, das mit goldenen Stickereien verziert war.

Sie sah nicht erfreut aus.


Mat saß neben dem Kamin des Gasthauses und wünschte sich, das Feuer wäre weniger warm gewesen. Die Hitze konnte er noch durch die Schichten seiner zerlumpten Jacke und das weiße Hemd spüren; dazu trug er die dicke Hose eines Tagelöhners. Die Stiefel an seinen Füßen hatten gute Sohlen, die aber an den Seiten abgelaufen waren. Er trug keinen Hut, und sein Halstuch verdeckte die untere Gesichtshälfte, als er sich auf dem Stuhl aus Bergeiche zurücklehnte.

Elayne hatte noch immer sein Medaillon. Ohne es fühlte er sich nackt. Neben seinem Stuhl lehnte ein Kurzschwert, aber das sollte bloß ablenken. Daneben stand ein unschuldiger Wanderstab; im Zweifelsfall würde er den benutzen oder die unter der Jacke verborgenen Messer. Aber das Schwert war deutlich sichtbar, und es würde die Diebe, die durch die Straßen von Niedercaemlyn streiften, zweimal darüber nachdenken lassen, ob er ein lohnendes Ziel war.

»Ich weiß, warum Ihr nach ihm fragt«, sagte Chet. In beinahe jeder Schenke gab es einen Mann wie Chet. Alt genug, um Männer wie Mat geboren, aufwachsen und sterben zu sehen, und bereit, über die vielen Jahre zu reden, falls man sie nur ausreichend abfüllte. Und manchmal war auch das überflüssig.

Die Bartstoppeln in Chets langem Gesicht waren grau, und er trug eine schiefe Mütze. Sein geflickter Mantel war einst schwarz gewesen, und die roten und weißen Insignien auf der Tasche waren zu verblichen, um sie noch lesen zu können. Sie wirkten militärisch, und für gewöhnlich trug man von Kneipenschlägereien nicht so böse Narben davon, wie er sie an Wange und Hals hatte.

»Aye«, fuhr Chet fort, »viele erkundigen sich nach dem Anführer dieser Bande. Nun, ich weiß diesen Becher Ale zu schätzen, also lasst mich Euch einen Rat geben. Ihr bewegt Euch, als wüsstet Ihr, welches Ende des Schwerts für den Kampf bestimmt ist, aber Ihr wärt ein Narr, wenn Ihr den herausfordert. Prinz der Raben, Herr des Glücks. Er ist dem Tod selbst entgegengetreten und hat um seine Zukunft gewürfelt. Hat nie einen Kampf verloren.«

Mat sagte nichts. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Das war an diesem Abend bereits die vierte Schenke, und in drei davon hatte er Gerüchte über Matrim Cauthon in Erfahrung bringen können. Kaum auch nur eine Spur Wahrheit dabei. Blut und verdammte Asche!

Oh, sicher, es gab auch Geschichten über andere Leute. Hauptsächlich über Rand, und jede von ihnen hatte die Farben in seinem Kopf wirbeln lassen. Tear war an die Seanchaner gefallen, nein, an die Illianer, nein, Rand hatte sie alle besiegt und kämpfte im Augenblick in der Letzten Schlacht. Nein! Er besuchte Frauen im Schlaf und schwängerte sie. Nein, das war der Dunkle König. Nein, Mat war der Dunkle König!

Verfluchte Geschichten. Ein paar davon konnte er zur Bande zurückverfolgen – wie die Geschichte über die Stadt voller Toten, die zu neuem Leben erwachte. Aber viele der Erzähler behaupteten, dass sie die Geschichten von ihrem Onkel oder Vetter oder Neffen hatten.

Mat schnippte Chet eine Kupfermünze zu. Der Mann tippte sich höflich an die Mütze und ging los, um seinen Becher auffüllen zu lassen. Mat verspürte keine Lust, etwas zu trinken. Er hatte den Verdacht, dass sich diese Geschichten nur deshalb so schnell verbreiteten, weil diese Bilder von ihm im Umlauf waren. In der letzten Schenke hatte tatsächlich jemand eine zerknitterte und gefaltete Kopie des Bildes aus der Tasche gezogen und ihm gezeigt. Bis jetzt hatte ihn allerdings noch niemand erkannt.

Das Kaminfeuer prasselte vor sich hin. Niedercaemlyn wuchs, und geschäftstüchtige Leute hatten erkannt, dass Unterkünfte und Getränke für Durchreisende einen ordentlichen Profit ergeben würden. Also verwandelten sich Bretterhütten in Schenken, und Schenken in richtige Gasthäuser.

Die Nachfrage nach Holz stieg stetig, und einige der Söldnergruppen betätigten sich als Holzfäller. Einige arbeiteten ehrlich und bezahlten die fälligen Abgaben für die Königin. Andere scherten sich nicht darum. Ein paar waren bereits am Galgen gelandet. Wer hätte das jemals gedacht? Männer, die man hängte, weil sie Holz stahlen? Was kam als Nächstes? Männer, die man hängte, weil sie Erde stahlen?

Niedercaemlyn hatte sich dramatisch verändert, Straßen wurden angelegt, Gebäude vergrößert. Noch ein paar Jahre, und Niedercaemlyn würde eine richtige Stadt sein! Man würde noch eine Stadtmauer bauen müssen, um es abzuriegeln.

Der Raum roch nach Dreck und Schweiß, aber auch nicht mehr als in anderen Schenken. Verschüttete Getränke wischte man schnell auf, und die Schankmägde schienen froh zu sein, Arbeit zu haben. Vor allem eine schenkte ihm ein zurückhaltendes Lächeln, füllte seinen Becher auf und zeigte etwas Bein. Mat prägte sie sich ein; sie würde Talmanes gefallen.

Mat hob das Halstuch genug, um trinken zu können. Es auf diese Weise zu tragen ließ ihn sich wie ein Narr fühlen. Aber für eine Umhangkapuze war es viel zu heiß, und der Bart war die reine Folter gewesen. Selbst mit dem Tuch vor dem Gesicht fiel er in Niedercaemlyn nicht besonders auf; er war bei Weitem nicht der einzige Schläger, der mit verhülltem Gesicht umherlief. Er hatte erklärt, eine hässliche Narbe verdecken zu wollen; andere nahmen einfach an, dass ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt war. Leider stimmte beides.

Er saß eine Weile da und starrte in die Flammen. Chets Warnung hatte einen unerfreulichen Abgrund in seiner Magengrube geöffnet. Je mehr sein Ruf wuchs, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass ihn irgendjemand herausforderte. Den Prinz der Raben zu töten würde einen ausgesprochen berüchtigt machen. Wo hatte er bloß diesen Namen herbekommen? Verdammte Asche!

Eine Gestalt gesellte sich zu ihm ans Feuer. Hager und knochig sah Noal wie eine Vogelscheuche aus, die sich abgestaubt hatte, um der Stadt einen Besuch abzustatten. Trotz seines weißen Haares und dem ledrigen Gesicht war Noal so agil wie ein halb so alter Mann. Zumindest, wenn er mit einer Waffe umging. Bei anderen Gelegenheiten erschien er so unbeholfen wie ein Maultier in einem Esszimmer.

»Ihr seid wirklich ein bemerkenswerter Mann«, sagte Noal und streckte die Handflächen dem Feuer entgegen. »Als ich Euch zufällig in Ebou Dar über den Weg lief, hatte ich ja keine Ahnung, in welch glanzvoller Gesellschaft ich mich befinde. Noch ein paar Monate, und Ihr seid berühmter als Jain Fernstreicher. «

Mat ließ sich noch tiefer in den Stuhl sacken.

»Männer glauben immer, es wäre so toll, in jeder Schenke und jeder Stadt bekannt zu sein«, sagte Noal leise. »Aber ich will verflucht sein, wenn es nicht einfach nur lästig ist.«

»Was wisst Ihr schon davon?«

»Jain hat sich darüber beschwert«, sagte Noal leise.

Mat grunzte. Thom traf als Nächster ein. Er war wie der Diener eines Kaufmanns gekleidet; seine blaue Ausstattung war nicht zu kostbar, aber auch nicht zu schäbig. Er gab vor, nach Niedercaemlyn gekommen zu sein, um herauszufinden, ob sein Herr gut darin beraten war, hier ein Geschäft zu eröffnen.

Thom trug die Verkleidung äußerst glaubhaft. Er hatte den Schnurrbart zu Spitzen gewachst und sprach mit einem leichten murandianischen Akzent. Mat hatte ihm angeboten, eine Hintergrundgeschichte für seine Vorstellung zu erfinden, aber Thom hatte nur gehustet und behauptet, sie bereits im Kopf zu haben. Verfluchter Lügner von einem Gaukler.

Thom zog einen Stuhl heran und setzte sich geziert, als wäre er ein eingebildeter Diener. »Ah, was für eine Zeitverschwendung! Mein Herr besteht darauf, dass ich mich mit solchem Abschaum befasse! Und hier finde ich die schlimmsten von dem ganzen Haufen!«

Noal kicherte leise.

»Hätte man mich doch stattdessen nur in das Lager des majestätischen, erstaunlichen, unzerstörbaren, berühmten Matrim Cauthon geschickt!«, verkündete Thom dramatisch. »Dann hätte ich bestimmt…«

»Soll man mich doch zu Asche verbrennen, Thom«, fiel ihm Mat ins Wort. »Lass einen Mann in Frieden leiden.«

Thom lachte, winkte die Schankmagd herbei und bestellte eine Runde für sie drei. Er gab ihr eine zusätzliche Münze und bat sie leise darum, andere Zecher unauffällig vom Kamin fernzuhalten.

»Seid Ihr sicher, Euch hier treffen zu wollen?«, fragte Noal.

»Das geht schon in Ordnung«, versicherte Mat. Er wollte sich nicht im Lager sehen lassen, damit der Gholam nicht dort nach ihm suchte.

»Also gut«, meinte Noal. »Wir wissen, wo der Turm steht, und können ihn erreichen, vorausgesetzt natürlich, Mat besorgt uns ein Wegetor.«

»Das werde ich.«

»Ich konnte niemanden aufspüren, der ihn betreten hat«, fuhr Noal fort.

»Manche behaupten, er sei von Geistern heimgesucht.« Thom nahm einen geräuschvollen Schluck aus seinem Becher. »Andere wiederum sagen, er sei ein Relikt aus dem Zeitalter der Legenden. Die Wände sollen aus glattem Stahl sein, ohne jede Öffnung. Ich habe den jüngsten Sohn einer Kapitänswitwe gefunden, der die Geschichte über jemanden kannte, der im Turm einen großen Schatz fand. Allerdings hatte er keine Ahnung, wie der Junge dort hineinkam.«

»Wir wissen, wie wir hineinkommen«, behauptete Mat.

»Olvers Geschichte?« Noal verbarg seine Skepsis nicht.

»Es ist die Beste, die wir haben«, sagte Mat. »Das Spiel und der Reim drehen sich beide um Aelfinn und Eelfinn. Einst wussten die Menschen über sie Bescheid. Diese verfluchten Türrahmen sind der Beweis dafür. Also hinterließen sie das Spiel und den Reim als Warnung.«

»Das Spiel kann nicht gewonnen werden, Mat«, sagte Noal nachdenklich.

»Das ist sein Sinn. Man muss betrügen.«

»Aber vielleicht sollten wir es mit einem Handel versuchen«, sagte Thom und spielte mit der gewachsten Schnurrbartspitze. »Sie geben einem Antworten auf seine Fragen.«

»Die verflucht frustrierend sind«, erwiderte Mat. Er hatte Thom und Noal nichts über seine Fragen erzählen wollen – und hatte es noch immer nicht getan.

»Aber sie antworten«, sagte Thom. »Es klingt, als hätten sie eine Art Abmachung mit den Aes Sedai. Wenn wir wüssten, was die Schlangen und Füchse von den Aes Sedai begehren – also aus welchem Grund sie zu einem Abkommen bereit waren -, dann könnten wir ihnen das vielleicht im Austausch für Moiraine geben.«

»Falls sie noch lebt«, sagte Noal grimmig.

»Das tut sie«, sagte Thom und starrte ins Leere. »Möge das Licht dafür sorgen. Sie muss am Leben sein.«

»Wir wissen, was sie wollen.« Mat schaute in die Flammen.

Noal sah ihn fragend an.

»Uns«, erwiderte Mat. »Seht mal, sie wissen, was passieren wird. Falls dieser Brief recht hat, dann haben sie das bei mir gemacht und auch bei Moiraine. Sie wussten, dass sie dir einen Brief hinterlassen würde, Thom. Sie wussten es. Und sie haben trotzdem ihre Fragen beantwortet.«

»Vielleicht mussten sie das ja.«

»Ja, aber sie müssen keine klaren Antworten geben. Bei mir taten sie es jedenfalls nicht. Sie antworteten in dem Wissen, dass Moiraine zu ihnen zurückkehren würde. Wie sie mir alles in dem Wissen gaben, dass auch ich wieder angelockt werden würde. Sie wollen mich. Sie wollen uns.«

»Das weißt du nicht mit Sicherheit.« Thom stellte den Becher zwischen den Füßen auf den Boden und zog seine Pfeife hervor. Rechts von Mat jubelten Männer beim Würfelspiel. »Sie können Fragen beantworten, aber das heißt noch lange nicht, dass sie alles wissen. Es könnte wie bei den Vorhersagen der Aes Sedai sein.«

Mat schüttelte den Kopf. Die Kreaturen hatten Erinnerungen in seinen Kopf gepflanzt. Seiner Ansicht nach handelte sich um die Erinnerungen von Leuten, die mit dem Turm in Berührung gekommen waren oder ihn betreten hatten. Die Aelfinn und die Eelfinn besaßen diese Erinnerungen, und vermutlich besaßen sie verflucht noch mal seine auch. Konnten sie ihn beobachten, durch seine Augen sehen?

Wieder sehnte er sich nach seinem Medaillon, auch wenn es nichts gegen sie ausrichten würde. Sie waren keine Aes Sedai, sie benutzten nicht die Macht. »Sie wissen Dinge, Thom«, sagte er. » Sie beobachten. Wir werden sie nicht überraschen können.«

»Macht es schwer, sie zu besiegen«, meinte Thom, entzündete einen Zweig im Feuer und brachte damit seine Pfeife zum brennen. »Wir können nicht gewinnen.«

»Es sei denn, wir brechen die Regeln«, wiederholte Mat.

»Aber sie werden wissen, was wir tun, falls du recht hast. Also sollten wir mit ihnen verhandeln.«

»Und was hat Moiraine gesagt, Thom?«, fragte Mat. »In diesem Brief, den du jeden Abend liest.«

Thom paffte seine Pfeife und griff unwillkürlich nach der Brusttasche, wo er den Brief aufbewahrte. » Sie sagt, wir sollen uns daran erinnern, was wir über das Spiel wissen.«

»Sie weiß, dass man nicht gewinnen kann, wenn man mit ihnen zu tun hat«, sagte Mat. »Kein Verhandeln, Thom, kein Austausch. Wir gehen kämpfend hinein und gehen nicht wieder, bevor wir sie haben.«

Thom zögerte einen Augenblick lang, dann nickte er. Seiner Pfeife entstiegen Rauchwölkchen.

»Mut, um stärker zu sein«, sagte Noal. »Nun, bei Mats Glück haben wir davon genug.«

»Ihr müsst nicht mitmachen, das wisst Ihr, Noal«, sagte Mat. »Ihr habt keinen Grund, dieses Risiko einzugehen.«

»Ich gehe«, beharrte Noal. »Ich habe viele Orte kennengelernt. Eigentlich sogar die meisten Orte. Aber den noch nie.« Er zögerte. »Es ist etwas, das ich tun muss. Und damit ist diese Diskussion beendet.«

»Wie Ihr wollt«, sagte Mat.

»Feuer, um zu blenden«, fuhr Noal fort. »Was haben wir?«

»Laternen und Fackeln.« Mat stieß mit dem Fuß gegen den Sack neben seinem Stuhl. »Und ein paar von Aludras Zündhölzern, damit wir sie entzünden können. Und noch ein paar andere Überraschungen von ihr.«

»Feuerwerk?«, fragte Noal.

»Ein paar dieser explodierenden Zylinder, die wir gegen die Seanchaner eingesetzt haben. Sie bezeichnet sie als Donnerstöcke. «

Thom stieß einen Pfiff aus. »Die hat sie dir überlassen?«

»Zwei Stück. Als ich ihr Elaynes Einwilligung präsentierte, hätte ich sie um so gut wie alles bitten können und auch bekommen.« Mat verzog das Gesicht. »Sie wollte mitkommen, um sie zu entzünden. Höchstpersönlich! Es war gar nicht so einfach, diese Unterredung zu beenden. Aber wir haben einen Haufen Nachtblumen.« Er stieß erneut mit dem Fuß gegen den Sack.

»Du hast sie mitgebracht!«, fragte Thom.

»Ich wollte sie in der Nähe haben. Und sie gab sie mir erst heute. Die werden nicht zufällig explodieren, Thom. Das passiert nicht oft.«

»Dann nimm sie wenigstens vom Kamin weg!« Thom warf einen Blick auf seine Pfeife und fluchte, dann schob er seinen Stuhl ein paar Zoll von Mat weg.

»Musik, um zu verwirren«, zitierte Noal weiter.

»Da habe ich einiges«, sagte Thom. »Ich bringe Harfe und Flöte mit, aber ich habe uns ein paar Handtrommeln und Zimbeln besorgt. Die kann man ans Bein schnallen und mit einer Hand schlagen. Ich habe auch noch eine Flöte gekauft.« Er warf Mat einen Blick zu. »Eine ganz schlichte, für Leute mit unbeweglichen Wurstfingern.«

Mat schnaubte.

»Und schließlich noch Eisen, um zu binden«, sagte Noal und zog seinen Sack herbei. Es klirrte leise, als er ihn aufschnürte. Der Inhalt funkelte im Schein des Kaminfeuers. »Für jeden von uns einen Satz Wurfmesser, dann zwei Kurzschwerter. Alles aus reinem Eisen, kein Stahl. Ich habe uns ein paar Ketten besorgt, und eine Eisenröhre, die man über das Ende von Mats Speer schieben kann. Allerdings könnte es die Balance stören.«

»Ich nehme ihn«, sagte Mat.

Noal schnürte den Sack wieder zu, und die drei Männer blieben noch eine Weile vor dem Kamin sitzen. In gewisser Weise waren die von ihnen zusammengetragenen Dinge eine Illusion. Eine Möglichkeit, sich einzureden, dass sie tatsächlich etwas taten, um sich vorzubereiten.

Aber Mat musste an die verzerrten Orte jenseits der Tore denken, an die Winkel, die nicht stimmten, an die unnatürliche Landschaft. Die Kreaturen, die man Schlangen und Füchse nannte, weil sie sich jeder normalen Beschreibung entzogen.

Dieser Ort befand sich in einer anderen Welt. Die Vorbereitungen, die er mit Thom und Noal getroffen hatte, erwiesen sich vielleicht als hilfreich, möglicherweise waren sie aber völlig nutzlos. Das würde sich erst herausstellen, wenn sie diesen Turm betreten hatten. Es kam ihm so vor, als wüsste man nicht, ob man das richtige Gegenmittel hatte, bevor einem die Schlange ihre Zähne in den Arm schlug.

Schließlich verabschiedete er sich von den anderen. Noal wollte zurück ins Lager der Bande, das sich nur noch einen zehnminütigen Ritt von der Stadt entfernt befand. Thom schloss sich ihm an, und sie nahmen Mats Sack mit den Nachtblumen mit – obwohl beide Männer aussahen, als hätten sie lieber einen Sack voller Spinnen getragen.

Mat schnallte sich das Schwert über den Mantel, nahm seinen Stab und schlug die Richtung zu seinem Gasthaus ein. Allerdings nahm er nicht den direkten Weg, sondern ging durch alle möglichen Gassen und Straßen. Hütten und Zelte erhoben sich neben richtigen Gebäuden, seit sich die Stadt vor der Stadt entlang der Stadtmauer ausbreitete wie Schimmel auf einem Laib Brot.

Der Himmel war dunkel, aber die Nacht war noch immer belebt. Schlepper riefen aus den hellen Eingängen der Gasthäuser. Mat sorgte dafür, dass sein Schwert zu sehen war. Viele würden einen einsamen Wanderer in der Nacht überfallen, vor allem außerhalb der Stadtmauer, wo der Arm des Gesetzes eher schwächlich als stark war.

Die Luft roch nach Regen, aber das tat sie oft in letzter Zeit. Er wünschte sich, es würde weitergehen und ordentlich stürmen oder verflucht noch mal aufklaren. Es kam einem vor, als würde die Luft selbst den Atem anhalten und auf etwas warten. Ein Schlag, der nie kam, eine Glocke, die nie läutete, ein paar Würfel, die nie fielen. Genau wie die, die in seinem Kopf donnerten.

Er konnte Verins Brief in seiner Tasche fühlen. Würden die Würfel verstummen, wenn er ihn öffnete? Vielleicht ging es um den Gholam. Wenn er sein Medaillon nicht bald von Elayne zurückbekam, würde das Monstrum ihn vermutlich aufspüren und die Eingeweide herausreißen.

Verdammte Asche. Er hatte Lust, etwas trinken zu gehen und eine Weile zu vergessen, wer er war – und wofür man ihn alles hielt. Aber wenn er sich betrank, würde er mit ziemlicher Sicherheit irgendwann sein Gesicht sehen lassen. Vielleicht anfangen darüber zu reden, wer er wirklich war. Man konnte nie vorher sagen, was ein Mann alles tat, wenn er betrunken war, selbst wenn man selbst dieser Mann war.

Er passierte die Stadttore und betrat die Neustadt. Die Luft wurde feuchter mit etwas, das kein richtiger Regen war, als hätte der Himmel auf sein Murren gehört und entschieden, sich ein kleines Niesen zu erlauben, um ihn damit zu treffen.

Großartig, dachte er. Einfach großartig.

Kurz darauf waren die Pflastersteine feucht vom Möchtegernregen, und die Straßenlaternen glühten in einem nebeligen Schimmer. Mat senkte den Kopf, das Tuch noch immer vor dem Gesicht wie ein verfluchter Aielmann. War ihm nicht erst vor Kurzem noch zu heiß gewesen?

Er hatte es genauso eilig wie Thom, aufzubrechen und Moiraine zu finden. Sie hatte sein Leben auf den Kopf gestellt, aber er war der Ansicht, ihr dafür etwas zu schulden. Besser mit diesem Schlamassel zu leben, als in den Zwei Flüssen festzusitzen und ein langweiliges Leben zu leben ohne überhaupt zu ahnen, wie langweilig es war. Er war nicht wie Perrin, der schon Heimweh nach den Zwei Flüssen gehabt hatte, bevor sie überhaupt in Baerlon gewesen waren. Perrins Bild blitzte in seinen Gedanken auf, und er verbannte es.

Und was war mit Rand? Er sah ihn auf einem kostbaren Stuhl sitzen und in dem dunklen Raum zu Boden starren; eine einzelne Lampe flackerte. Er sah erschöpft aus, seine Augen waren weit aufgerissen, seine Miene grimmig. Mat schüttelte den Kopf, um auch dieses Bild zu verscheuchen. Armer Rand. Vermutlich hielt sich der Mann mittlerweile für einen verdammten Schwarzfußiltis, der an einem Tannenzapfen knabberte. Aber vermutlich ein Schwarzfußiltis, der wieder in den Zwei Flüssen leben wollte.

Nein, Mat wollte nicht zurück. In den Zwei Flüssen gab es keine Tuon. Beim Licht, er würde sich wirklich darüber klar werden müssen, was er mit Tuon machen sollte. Aber er wollte sie nicht loswerden. Wäre sie noch bei ihm, dürfte sie ihn Spielzeug nennen, ohne dass er sich beschwerte. Zumindest nicht allzu sehr.

Aber zuerst war Moiraine an der Reihe. Er wünschte sich, er hätte mehr über Aelfinn und Eelfinn und ihren verdammten Turm gewusst. Niemand wusste etwas darüber, niemand erzählte mehr als Legenden, niemand hatte irgendwelche nützlichen Informationen …

… niemand außer Birgitte. Mat blieb wie angewurzelt stehen. Birgitte. Sie war diejenige gewesen, die Olver erzählt hatte, wie man in den Turm kam. Wie hatte sie das wissen können?

Er verfluchte sich und schlug die Richtung zur Innenstadt ein. Der Trubel, der die Straßen vor dem Beinaheregen gefüllt hatte, löste sich auf. Bald hatte Mat das Gefühl, die Stadt für sich allein zu haben; selbst die Beutelschneider und Bettler verzogen sich.

Aus irgendeinem Grund machte ihn das noch nervöser, als angestarrt zu werden. Es war unnatürlich. Jemand hätte zumindest versuchen können, ihn zu beschatten, um zu sehen, ob er eine lohnende Beute darstellte. Wieder sehnte er sich nach seinem Medaillon. Er war ein Narr gewesen, es aus der Hand zu geben. Er hätte besser seine verdammte Hand abgeschnitten und die Elayne als Bezahlung angeboten! Lauerte da irgendwo der Gholam in der Dunkelheit?

Auf der Straße hätten Räuber sein sollen. Die Städte waren voll damit. Das war gewissermaßen eine der verdammten Grundvoraussetzungen für eine Stadt. Eine Stadthalle, ein paar Gasthäuser, eine Schenke und ein paar Burschen mit groben Gesichtern, die allein von dem Verlangen angetrieben wurden, einen in den Schlamm zu prügeln und das geraubte Geld für Frauen und Alkohol zu verschwenden.

Er passierte einen Hof und betrat die Innenstadt durch das Steinmetztor. Im Phantomlicht des bewölkten Mondes schien der regennasse weiße Torbogen beinahe zu glühen. Mats Wanderstab pochte gegen das Straßenpflaster. Die Torwächter hatten die Umhänge eng um die Körper geschlungen und standen reglos da. Wie Statuen und nicht wie Menschen. Der ganze Ort fühlte sich wie eine Gruft an.

Ein Stück hinter dem Tor passierte er eine Gasse und zögerte. Er glaubte dort eine Gruppe schattenhafter Umrisse zu sehen. Zu beiden Seiten erhoben sich hohe Gebäude, großartige Ogierbaukunst. In der Gasse ertönte ein Grunzen.

»Ein Überfall?«, sagte Mat voller Erleichterung.

Eine schwerfällige Gestalt schaute aus der Gasse. Das Mondlicht enthüllte einen Burschen mit dunklen Augen und einem langen Umhang. Es schien ihn zu verblüffen, Mat dort stehen zu sehen. Er zeigte mit einer großen Hand auf ihn, und drei seiner Gefährten rannten auf Mat zu.

Mat entspannte sich und wischte Regenwasser von der Stirn. Also waren an diesem Abend Räuber unterwegs. Was für eine Erleichterung. Seine ganzen Sorgen waren umsonst gewesen!

Ein Schläger hieb mit seiner Keule nach ihm. Mat hatte das Kurzschwert absichtlich an der rechten Seite getragen; der Schläger schluckte den Köder und ging davon aus, dass er die Waffe ziehen würde.

Stattdessen riss er den Stab herum und schlug ihn dem Mann gegen das Bein. Der Straßenräuber stolperte, und Mat versetzte ihm einen Hieb gegen den Kopf. Der Nieselregen, der mittlerweile beinahe schon ein anständiger Regen war, sprühte von dem Beutelschneider, als er fiel und dabei einen seiner Gefährten stolpern ließ.

Mat trat einen Schritt zurück und rammte dem taumelnden Räuber den Stab gegen den Kopf. Er sackte auf seinem Gefährten zusammen. Der dritte Mann schaute zurück zum Anführer, der den Kragen eines schlaksigen Mannes gepackt hielt, der im Schatten kaum zu erkennen war. Mat ergriff die Gelegenheit, über den Haufen bewusstloser Diebe zu springen und nach dem dritten Mann zu schlagen.

Der Räuber riss die Keule hoch, um den Kopf zu schützen, also stieß er ihm den Stab auf den Fuß. Dann wirbelte er die Waffe herum, schlug die schwache Deckung des Mannes zur Seite und fällte ihn mit einem Hieb ins Gesicht.

Währenddessen stürmte der Anführer der Bande heran; Mat zog ein Messer und schleuderte es ihm entgegen. Der Mann stolperte im Nieselregen und krallte gurgelnd nach der Klinge im Hals. Die anderen würde Mat bewusstlos dort liegen lassen – vielleicht würden es die armen Narren ja als Warnung verstehen und ihr Leben in Ordnung bringen.

Er trat zur Seite und ließ den Anführer an sich vorbei stolpern, der über seinen drei Gefährten zusammenbrach. Mit einem Tritt drehte Mat ihn herum, zog das Messer aus dem Körper und säuberte es. Schließlich wandte er sich dem Opfer des Raubüberfalls zu.

»Es freut mich, Euch zu sehen«, sagte er.

»Es freut… Euch?«, sagte der Mann.

»Aber sicher.« Mat richtete sich auf. »Ich dachte schon, die Diebe wären heute Abend zuhause geblieben. Eine Stadt ohne Beutelschneider, nun, das ist wie ein Feld ohne Unkraut. Und gäbe es kein Unkraut, wofür würde man dann einen Bauern brauchen? Verdammt rücksichtslos, das sage ich Euch.«

Der Gerettete stolperte auf unsicheren Beinen heran. Mats Worte schienen ihn verwirrt zu haben, aber er kam heran und ergriff seine Hand. »Danke!« Der Mann hatte eine nasale Stimme. »Danke, vielen, vielen Dank!« In dem schwachen Mondlicht konnte Mat kaum das breite Gesicht mit den hervorstehenden Zähnen auf dem unnatürlich dürren Körper sehen.

Er zuckte mit den Schultern, legte den Stab weg, wickelte das Halstuch ab, das sich mit Regen vollgesogen hatte, und fing an, es auszuwringen. »Ich an Eurer Stelle würde nachts nicht allein unterwegs sein, mein Freund.«

Der Mann kniff in der Dunkelheit die Augen zusammen. »Ihr!«, sagte er beinahe schon quiekend.

Mat stöhnte. »Blut und verdammte Asche! Kann ich denn nirgendwo hingehen, ohne dass …«

Er unterbrach sich, als sich der Mann auf ihn warf und ein Dolch im schwachen Mondlicht aufblitzte. Fluchend ließ er das Halstuch nach vorn peitschen. Statt seinem Bauch traf der Dolch den Stoff, und er verdrehte blitzschnell die Hände und wickelte die Waffe des Attentäters ein.

Der Mann stieß einen leisen Schrei aus. Mat ließ das Halstuch los, zog zwei Messer, mit jeder Hand eines, und schleuderte sie reflexartig. Sie trafen den Meuchelmörder in beide Augen. Eine Klinge in jedes Auge. Beim Licht! Er hatte gar nicht nach den Augen gezielt.

Der Mann brach auf dem feuchten Straßenpflaster zusammen.

Mat stand keuchend da. »Muttermilch in einer Tasse! Verfluchte Muttermilch!« Er packte seinen Stab und schaute sich um, aber die dunkle Straße war leer. »Ich habe dich gerettet. Ich habe dich gerettet, und du willst mich erstechen?«

Er kniete neben der Leiche nieder. Und mit grimmiger Sicherheit, was er finden würde, griff er in den Geldbeutel des Mannes. Er fand ein paar Münzen – Goldmünzen – und ein zusammengefaltetes Stück Papier. Mondlicht enthüllte darauf Mats Gesicht. Er zerknüllte das Blatt und schob es in die Tasche.

Eines in jedes verdammte Auge. Besser, als der Mann verdient hatte. Mat band sich wieder das Tuch um, nahm seine Messer und ging weiter, sich wünschend, er hätte den Meuchelmörder seinem Schicksal überlassen.


Birgitte verschränkte die Arme, lehnte sich gegen eine Marmorsäule und sah zu, wie Elayne eine abendliche Präsentation von »Schauspielern« genoss. Gruppen wie diese, die Geschichten darstellten, waren in Cairhien sehr populär geworden, und jetzt versuchten sie den gleichen Erfolg in Andor zu erringen. Einer der Palastsäle, in denen früher Barden gespielt hatten, war umgestaltet worden, damit die Mimen ihre Stücke aufführen konnten.

Birgitte schüttelte den Kopf. Was hatte man davon, erfundene Geschichten darzustellen? Warum nicht in die Welt hinausgehen und ein paar eigene Geschichten erleben? Davon abgesehen hätte sie jederzeit einen Barden vorgezogen. Hoffentlich würde dieser neumodische »Schauspieler«-Unsinn einen schnellen Tod sterben.

Die fragliche Geschichte nun erzählte die tragische Heirat und den Tod von Prinzessin Walishen nach, die Bestien des Schattens ermordet hatten. Birgitte kannte die Ballade, die den Schauspielern als Grundlage ihrer Vorstellung gedient hatte. Tatsächlich sangen sie zwischendurch immer wieder Teile davon. Es war erstaunlich, wie wenig sich dieses Lied im Laufe der Jahre verändert hatte. Ein paar andere Namen, ein paar andere Noten, aber im Großen und Ganzen war es unverändert.

Fast so wie ihre eigenen Leben. Eine Wiederholung nach der anderen, mit wenig Variationen. Manchmal war sie Soldatin. Manchmal war sie eine Waldfrau ohne eine formelle militärische Ausbildung. Ein- oder zweimal war sie Generalin gewesen. Leider. Diese Arbeit hätte sie nur zu gern jemand anderem überlassen.

Sie war Wächterin, edle Diebin, Lady, Bäuerin, Mörderin und Retterin gewesen. Aber noch nie zuvor Behüterin. Die damit verbundenen Neuerungen störten sie nicht. In den meisten ihrer Leben wusste sie nicht mehr, was zuvor geschehen war. Was sie jetzt aus ihren früheren Leben ziehen konnte, war ein Vorteil, ja, aber sie hatte kein Anrecht auf diese Erinnerungen.

Das hinderte aber ihr Herz keineswegs daran, sich jedes Mal zu verkrampfen, wenn eine dieser Erinnerungen verblich. Beim Licht! Wenn sie dieses Mal schon nicht mit Gaidal zusammen sein konnte, durfte sie sich denn nicht wenigstens an ihn erinnern? Es war, als wüsste das Muster einfach nicht, was es mit ihr anfangen sollte. Sie war in dieses Leben hineingezwungen worden und hatte alle anderen Fäden zur Seite gedrängt, um einen unerwarteten Platz einzunehmen. Das Muster versuchte sie hineinzuweben. Was würde passieren, wenn sämtliche Erinnerungen verblichen waren? Würde sie sich noch an irgendetwas erinnern, wenn sie eines Tages als Erwachsene ohne Geschichte aufwachte? Der Gedanke machte ihr mehr Angst als jedes Schlachtfeld.

Sie nickte einer ihrer Gardistinnen zu, Kaila Bent, die an der hintersten Reihe des provisorischen Theaters vorbeikam und salutierte.

Birgitte trat um die Ecke, um mit ihr zu sprechen. »Und?«

»Keine besonderen Vorkommnisse«, sagte Kaila. »Alles in Ordnung.« Sie war eine schlanke Frau mit feuerrotem Haar und hatte sich schnell daran gewöhnt, Hosen und Mantel der Gardistinnen zu tragen. »Zumindest soweit alles in Ordnung sein kann, während man Der Tod von Prinzessin Walishen über sich ergehen lassen muss.«

»Hört auf, Euch zu beschweren«, sagte Birgitte und unterdrückte ein Zusammenzucken, als die Diva, wie sie von den anderen Schauspielern genannt wurde, zu einer besonders schrillen Arie ansetzte. So nannte man ein Lied, das man allein sang. Warum brauchten diese Schauspieler so viele neue Namen für alte Dinge? »Ihr könntet im Regen patrouillieren.«

»Wäre das möglich?«, fragte Kaila eifrig. »Warum habt Ihr das nicht früher gesagt? Vielleicht würde mich ein Blitz treffen. Das wäre dem hier vorzuziehen.«

Birgitte schnaubte. »Geht zurück zu Eurer Runde.«

Kaila salutierte und ging. Birgitte wandte sich wieder der Aufführung zu und lehnte sich gegen die Säule. Vielleicht hätte sie etwas Wachs für die Ohren mitbringen sollen. Sie warf Elayne einen Blick zu. Die Königin saß ganz ruhig da und verfolgte das Schauspiel. Manchmal kam sich Birgitte eher wie ein Kindermädchen als wie eine Leibwächterin vor. Wie sollte man eine Frau beschützen, die manchmal entschlossen den Tod zu suchen schien?

Andererseits war Elayne so außerordentlich fähig. Genau wie heute Abend; irgendwie hatte sie ihre bitterste Rivalin davon überzeugt, sich dieses Schauspiel anzusehen. Ellorien saß drüben in der östlichen Reihe. Das letzte Mal hatte diese Frau den Palast mit einer solchen Verbitterung verlassen, dass Birgitte niemals mit ihrer Rückkehr gerechnet hätte, es sei denn, man hätte sie in Ketten hergeschleift. Und doch saß sie da. Es roch nach einem politischen Manöver Elaynes, das dreizehn Schritte subtiler war, als Birgitte es verstehen konnte.

Sie schüttelte den Kopf. Elayne war eine Königin. Die Unberechenbarkeit gehörte dazu. Sie würde gut für Andor sein. Immer natürlich unter der Voraussetzung, dass Birgitte verhindern konnte, dass man ihr den blonden Kopf vom Hals schlug.

Nachdem sie den Gesang eine Weile ertragen hatte, kam Kaila erneut. Birgittes Neugier wuchs, als sich die Frau rasch näherte. »Was ist?«

»Ihr seht gelangweilt aus«, flüsterte Kaila, »also dachte ich mir, ich teile Euch das mit. Ein Tumult am Pflaumentor.« Das war der südöstlichste Eingang des Palastgeländes. »Jemand wollte sich einschleichen.«

»Wieder ein Bettler auf der Suche nach Abfällen? Oder ein Spion von einem der Lordschaften, der etwas belauschen wollte?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Kaila. »Ich erfuhr es zufällig aus dritter Hand von Calison, als wir uns auf unserer Patrouille begegneten. Er sagte, die Wächter hätten den Eindringling am Tor festgesetzt.«

Birgitte warf einen Blick zur Seite. Anscheinend nahm das nächste Solo seinen Anfang. »Ihr habt hier das Kommando; besetzt diesen Posten und nehmt die Berichte entgegen. Ich vertrete mir die Beine und sehe mir den Zwischenfall einmal an.«

»Bringt mir Wachs für die Ohren mit, wenn Ihr zurückkommt; wäre das möglich?«

Birgitte kicherte, verließ das Theater und betrat den in Weiß und Rot gehaltenen Palastkorridor. Obwohl sie Gardistinnen und Männer mit zusätzlichen Bogen in den Gängen postiert hatte, trug Birgitte immer ein Schwert, denn ein Attentatsversuch würde mit Sicherheit in einem Handgemenge enden.

Sie lief den Korridor entlang und warf einen Blick nach draußen, als sie an einem Fenster vorbeikam. Vom Himmel fiel ständig stärker werdender Nieselregen. Absolut unerfreulich. Gaidal hätte dieses Wetter gefallen. Er hatte den Regen geliebt. Gelegentlich hatte sie gescherzt, dass Nieselregen besser zu seinem Gesicht gepasst hätte, weil er den Kindern dann weniger Angst gemacht hätte. Beim Licht, wie sie diesen Mann vermisste.

Der schnellste Weg zum Pflaumentor führte sie durch die Dienstbotenquartiere. In vielen Palästen hätte das bedeutet, einen bedeutend schlichteren Teil des Gebäudes zu betreten, da er für die weniger wichtigen Leute bestimmt war. Aber dieses Gebäude war von Ogiern erbaut worden, und sie hatten diesbezüglich ihre eigenen Ansichten. Der Marmor war hier genauso großartig bearbeitet wie anderswo auch, mit roten und weißen Mosaiken am Boden.

Verglichen mit dem königlichen Standard waren die Räume klein, aber sie waren immer noch groß genug, um eine ganze Familie beherbergen zu können. Birgitte zog für gewöhnlich vor, ihre Mahlzeiten im großen Speisesaal der Diener einzunehmen. Dort prasselten vier Kamine und boten dem ungemütlichen Abend die Stirn, während Diener, die Feierabend hatten, und Wächter lachten und plauderten. Viele waren der Ansicht, dass man einen Monarchen nach der Art und Weise beurteilen konnte, wie er jene behandelte, die ihm dienten. Falls das zutraf, dann war der Palast von Andor auf eine Weise entworfen worden, um das Beste in seinen Königinnen zum Vorschein zu bringen.

Zögernd passierte Birgitte den einladenden Essensduft und ging stattdessen hinaus in den kalten Sommersturm. Die Kälte ging nicht in Mark und Bein. Sie war lediglich ungemütlich. Birgitte schlug die Kapuze ihres Umhangs hoch und überquerte das regennasse Pflaster zum Pflaumentor. Das Torhaus war hell erleuchtet, und Gardisten mit feuchten Umhängen und Hellebarden standen davor.

Birgitte marschierte zum Torhaus. Wasser tropfte ihr von der Kapuze, als sie gegen die dicke Eichentür klopfte. Sie wurde geöffnet und enthüllte das schnurrbärtige Gesicht und den Kahlkopf von Renald Macer, dem diensthabenden Sergeanten. Der stämmige Mann hatte große Hände und ein mildes Temperament. Sie war immer der Ansicht gewesen, er hätte besser in einen Schuhmacherladen gepasst, aber die Garde nahm alle möglichen Leute auf, und Verlässlichkeit war oft wichtiger als der Umgang mit dem Schwert.

»Generalhauptmann!«, rief er aus. »Was macht Ihr denn hier?«

»Ich genieße den Regen«, fauchte sie.

»O je!« Er trat zurück und gab den Weg frei, damit sie das Torhaus betreten konnte. Es bestand aus einem einzigen bevölkerten Raum. Die Soldaten taten Dienst in der Sturmschicht – das bedeutete, dass das Tor von doppelt so vielen Männern wie üblich bewacht wurde, aber sie würden nur eine Stunde draußen stehen müssen, bevor sie sich mit Männern abwechselten, die sich ihm Torhaus aufgewärmt hatten.

Drei Gardisten saßen am Tisch und warfen Würfel in einen Würfelkasten, während ein offener Eisenofen Scheite verschlang und Tee wärmte. Ein drahtiger Mann, dessen Gesicht zur Hälfte von einem schwarzen Halstuch verborgen wurde, würfelte mit den Soldaten. Seine Kleidung war abgetragen, und der feuchte braune Haarschopf stand in allen Richtungen ab. Über dem Halstuch musterten braune Augen Birgitte, dann sackte der Mann ein Stück in sich zusammen.

Birgitte nahm den Umhang von den Schultern und schüttelte das Regenwasser ab. »Ich nehme an, das ist Euer Eindringling?«

»Nun ja«, sagte der Sergeant. »Wieso habt Ihr davon gehört?«

Sie betrachtete den Eindringling. »Er hat versucht, sich auf das Palastgelände zu schleichen, und jetzt würfelt ihr mit ihm?«

Der Sergeant und die anderen Männer sahen verlegen aus. » Nun, meine Lady …«

»Ich bin keine Lady.« Zumindest nicht dieses Mal. »Ich arbeite für meinen Lebensunterhalt.«

»Ah, ja«, fuhr Macer fort. »Nun, er gab sein Schwert freiwillig ab, und so gefährlich wirkt er nicht. Nur ein weiterer Bettler, der Reste aus der Küche haben will. Ein wirklich netter Bursche. Ich dachte, wir lassen ihn sich aufwärmen, bevor wir ihn bei diesem Wetter wieder rausjagen.«

»Ein Bettler«, sagte sie. »Mit einem Schwert?«

Sergeant Macer kratzte sich am Kopf. »Irgendwie ist das schon merkwürdig.«

»Du könntest einem General auf dem Schlachtfeld auch seinen Helm abschwatzen, nicht wahr, Mat?«, sagte sie.

»Mat?«, erwiderte der Mann mit vertrauter Stimme. »Ich weiß nicht, was Ihr meint, gute Frau. Mein Name ist Garard, ein einfacher Bettler mit einer übrigens recht interessanten Vergangenheit, wenn Ihr sie erfahren wollt…«

Sie sah ihn bloß energisch an.

»Ach, verdammte Asche, Birgitte«, beklagte er sich und zog das Tuch herunter. »Ich wollte einfach nur eine Weile ins Warme.«

»Und meinen Männern ihr Geld abnehmen.«

»Ein freundschaftliches Spiel hat noch keinem geschadet.«

» Solange es nicht mit dir ist. Warum in aller Welt schleichst du dich in den Palast?«

»Das letzte Mal war es einfach zu mühsam, hier hereinzukommen, verdammt noch mal«, sagte Mat und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Dachte, dieses Mal erspare ich mir das.«

Sergeant Macer warf Birgitte einen Blick zu. »Ihr kennt diesen Mann?«

»Leider. Ihr könnt ihn in meine Obhut entlassen, Sergeant. Ich sorge dafür, dass man sich gebührend um Meister Cauthon kümmert.«

»Meister Cauthon?«, sagte einer der Soldaten. »Ihr meint den Prinz der Raben?«

»Ach, verflucht noch eins …«, sagte Mat, als er aufstand und seinen Wanderstab ergriff. »Danke«, sagt er trocken zu Birgitte und schlüpfte in seinen Mantel.

Sie legte den Umhang wieder um und stieß die Tür auf, während einer der Gardisten Mat das Schwert zusammen mit seinem Gürtel zurückgab. Seit wann trug Mat ein Kurzschwert? Vermutlich sollte es nur von dem Kampfstab ablenken.

Die beiden traten hinaus in den Regen, während Mat den Gürtel festschnallte. »Prinz der Raben?«, fragte sie. »Ich will nicht darüber reden.«

»Warum nicht?«

»Weil ich verdammt noch mal einfach zu berühmt werde, darum.«

»Warte, bis es dich über Generationen hinweg verfolgt«, meinte sie und schaute in den Himmel, um dann zu blinzeln, als sie ein Regentropfen direkt ins Auge traf.

»Komm schon, lass uns was trinken«, sagte Mat und ging in Richtung Tor.

»Warte«, erwiderte sie. »Willst du nicht Elayne besuchen?«

» Elayne? Blut und Asche, Birgitte, ich bin hier, um mit dir zu sprechen. Warum glaubst du wohl, habe ich mich von den Gardesoldaten einfangen lassen? Willst du etwas zu trinken oder nicht?«

Sie zögerte, dann zuckte sie mit den Schultern. Indem sie ihren Posten an Kaila übergeben hatte, war sie offiziell außer Dienst. Und sie kannte eine halbwegs ordentliche Schenke nur zwei Straßen vom Palast entfernt.

»Also gut«, sagte sie, winkte den Gardisten zu und führte Mat auf die regnerische Straße. »Aber ich muss Milch oder Tee trinken und kein Ale. Wir sind uns nicht sicher, ob es den Kindern schaden kann, wenn ihre Behüterin trinkt.« Sie lächelte, als sie sich eine betrunkene Elayne vorstellte, die nach der Aufführung mit ihren Verbündeten sprechen wollte. »Obwohl, wenn ich sie beschwipst mache, wäre das eine gute Rache für einige der Dinge, die sie mit mir gemacht hat.«

»Ich verstehe sowieso nicht, warum du zugelassen hast, dass sie den Bund mit dir eingeht«, sagte Mat. Die Straße war so gut wie leer, obwohl die Schenke voraus einladend aussah. Gelbes Licht fiel auf den Bürgersteig.

»In dieser Sache hatte ich nichts zu sagen. Aber ich bereue es auch nicht. Bist du wirklich in den Palast geschlichen, um mich zu sprechen?«

Mat zuckte mit den Schultern. »Ich habe ein paar Fragen.«

»Worum geht es?«

Er zog das lächerliche Halstuch hoch, das in der Mitte ein Loch aufwies, wie ihr auffiel. »Du weißt schon«, sagte er. »Eben gewisse Dinge.«

Mat gehörte zu den wenigen, die wussten, wer sie wirklich war. Er glaubte doch wohl nicht… »Nein«, sagte sie und drehte sich um. »Ich will nicht darüber sprechen.«

»Verdammte Asche, Birgitte! Ich brauche deine Informationen. Komm schon, für einen alten Freund.«

»Wir hatten abgemacht, die Geheimnisse des anderen zu wahren.«

»Und ich will deine ja auch nicht weitererzählen«, sagte Mat schnell. »Aber weißt du, da ist diese Sache.«

»Was für eine Sache?«

» Der Turm von Ghenjei.«

»Das ist keine Sache«, sagte sie. »Du hältst dich fern davon.«

»Das kann ich nicht.«

»Natürlich kannst du das. Es ist ein verdammtes Gebäude. Es kann dich nicht gerade jagen, oder?«

»Witzig. Hör mal, lass es mich wenigstens bei einem Becher erklären, ja? Ein Becher, äh, Milch. Ich bezahle.«

Sie verharrte einen Augenblick lang. Dann seufzte sie. »Und ob du bezahlst«, murmelte sie und bedeutete ihm weiterzugehen. Sie betraten die Schenke Die Große Wanderung, die wegen des Regens besser besucht war als üblich. Aber der Wirt war ein Freund von ihr, und um für sie Platz zu machen, ließ er den Rausschmeißer einen Betrunkenen hinauswerfen, der in einer Nische seinen Rausch ausschlief.

Dankbar warf sie ihm ein paar Münzen zu, und er nickte ihr zu – er war ein hässlicher Bursche, ihm fehlten mehrere Zähne, ein Auge und der Großteil seiner Haare. Und er war der bestaussehende Kerl im Laden. Birgitte hielt zwei Finger hoch, um zu bestellen – er wusste, dass sie im Augenblick Milch trank -, und sie winkte Mat zur Nische.

»Ich glaube nicht, dass ich jemals einen hässlicheren Kerl als diesen Wirt gesehen habe«, sagte Mat, als sie sich setzten.

»Dafür lebst du noch nicht lange genug«, erwiderte sie, lehnte sich gegen die Wand und legte die Stiefel auf den Tisch.

Auf der Bank in der Nische war dafür gerade genug Platz. »Wäre der alte Snert ein paar Jahre jünger und jemand würde ihm die Nase ein paarmal brechen, käme er durchaus für mich in Betracht. Er hat eine hübsche Brust mit schönen gekräuselten Haaren, in denen man seine Finger versenken kann.«

Mat grinste. »Habe ich jemals erwähnt, wie seltsam es ist, mit einer Frau zu trinken, die auf diese Weise über Männer spricht?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ghenjei. Warum im Namen von Normads Ohren willst du dorthin?«

»Wessen Ohren?«

»Antworte mir.«

Mat seufzte, dann nahm er gedankenverloren von der Schankmaid den Becher entgegen, den sie ihm reichte. Ausnahmsweise schlug er ihr nicht auf die Kehrseite, allerdings sah er ihr anzüglich nach, als sie wieder ging. »Diese verdammten Schlangen und Füchse haben eine gewisse Person in ihrer Gewalt«, sagte er, schob das Tuch herunter und trank einen Schluck.

»Lass sie. Du kannst sie nicht retten. Wenn sie so dumm war, sich in ihr Reich zu wagen, dann hat sie ihr Schicksal verdient. «

»Es ist eine Frau«, sagte Mat.

Ah, dachte Birgitte. Verdammter Narr. Heldenhaft, aber trotzdem ein Narr.

»Ich kann sie nicht im Stich lassen«, fuhr Mat fort. »Ich schulde ihr etwas. Davon abgesehen betritt ihn ein guter Freund von mir, ob ich es will oder nicht. Ich muss helfen.«

»Dann haben sie euch alle drei«, sagte Birgitte. »Sieh mal, wenn du durch eines der Portale gehst, dann bist du auf Gedeih und Verderb an eines der alten Abkommen gebunden. Die beschützen dich bis zu einem gewissen Punkt, aber sie schränken dich auch ein. Du erreichst nie etwas Vernünftiges, wenn du durch einen der Türrahmen eintrittst.«

»Und wenn man den anderen Weg nimmt?«, wollte Mat wissen. »Du hast Olver verraten, wie man den Turm öffnet.«

»Weil ich ihm eine Gutenachtgeschichte erzählte! Beim Licht, ich wäre doch nie auf die Idee gekommen, dass einer von euch Blödmännern tatsächlich versucht, dort hineinzukommen!«

»Aber wenn wir diesen Weg nehmen, können wir sie dann finden?«

»Vielleicht«, sagte Birgitte, »aber das werdet ihr nicht schaffen. Die Abkommen treten dann nicht in Kraft, also können Aelfinn und Eelfinn Blut fordern. Normalerweise muss man sich nur um Tricks mit Fallgruben oder Seilen Sorgen machen, weil sie nicht…» Sie verstummte und musterte ihn. »Wie bist du eigentlich am Strang gelandet?«

Er errötete und starrte in seinen Becher. »Sie sollten diese Türrahmen mit einer verdammten Erklärung versehen. ›Tritt hindurch, dann können sie dich verdammt noch mal aufhängen. Und das tun sie dann auch. Idiot.‹«

Birgitte schnaubte. Sie hatten über seine Erinnerungen gesprochen. Sie hätte es sich denken können. »Trittst du auf die andere Weise ein, versuchen sie das vermutlich trotzdem. In ihrem Königreich Blut zu vergießen kann seltsame Auswirkungen haben. Sie werden versuchen, dir die Knochen durch einen Sturz zu brechen oder dich mit Rauschmitteln in Schlaf zu versetzen. Und sie werden gewinnen, Mat. Das ist ihre Welt.«

»Und wenn wir schummeln?«, fragte Mat. »Eisen, Musik, Feuer.«

»Das ist doch kein Schummeln. Das ist bloß vernünftig. Jeder, der durch den Turm kommt und nur halbwegs bei Verstand ist, wird diese Dinge bei sich tragen. Aber nur einer von tausend schafft es wieder hinaus, Mat.«

Er zögerte, dann fischte er eine Handvoll Münzen aus der Tasche. »Was glaubst du, wie stehen die Chancen, dass sie alle Kopf zeigen, wenn ich die in die Luft werfe? Eins zu tausend?«

»Mat…«

Er warf sie über dem Tisch in die Höhe. Sie prasselten herunter. Nicht eine einzige davon sprang oder rollte vom Tisch auf den Boden.

Mat behielt sie nicht im Auge. Stattdessen erwiderte er Brigittes Blick, während sie alle vibrierend und klirrend zur Ruhe kamen. Sie betrachtete sie. Zwei Dutzend Münzen. Sie waren mit dem Kopf nach oben gelandet.

»Eins zu tausend, das ist eine gute Chance«, sagte er. »Für mich.«

»Verdammte Asche. Du bist genauso schlimm wie Elayne! Begreifst du es nicht? Nur ein falscher Wurf, mehr ist nicht nötig. Selbst du wirfst mal daneben.«

»Das Risiko gehe ich ein. Verdammt, Birgitte, ich weiß, dass es dumm ist, aber ich mache es. Wieso weißt du überhaupt so viel über den Turm? Du hast ihn betreten, oder?«

»Das habe ich«, gab sie zu.

Mat sah selbstzufrieden aus. »Und du konntest ihn verlassen! Wie hast du das geschafft?«

Sie zögerte, griff schließlich nach ihrer Milch. »Ich nehme an, dass diese Legende nicht überliefert wurde?«

»Ich kenne sie jedenfalls nicht.«

»Ich ging hinein, um sie darum zu bitten, die Liebe meines Lebens zu retten«, sagte sie. »Nach der Schlacht in den Hügeln von Lahpoint, als wir die Rebellion der Buchaner anführten. Gaidal war schrecklich verwundet; durch einen Schlag auf den Kopf konnte er nicht mehr richtig denken. Manchmal vergaß er sogar, wer ich war. Es brach mir das Herz, also brachte ich ihn in den Turm, damit er dort Geheilt wird.«

»Und wie bist du da rausgekommen? Wie hast du sie hereingelegt?«

»Das habe ich nicht«, sagte Birgitte leise.

Mat erstarrte.

»Die Eelfinn Heilten ihn nicht«, fuhr sie fort. »Sie töteten uns beide. Ich überlebte nicht, Mat. Das ist das Ende dieser Legende.«

Er schwieg. »Oh«, sagte er schließlich. »Nun, das ist irgendwie eine traurige Geschichte.«

»Sie können nicht alle mit einem Sieg enden. Gaidal und ich kommen sowieso nicht gut mit einem glücklichen Ende zurecht. Es ist besser für uns, wenn wir spektakulär und ruhmreich untergehen.« Sie verzog das Gesicht, als sie sich an eine Inkarnation erinnerte, in der sie beide zusammen gezwungen gewesen waren, in Frieden alt zu werden. Das langweiligste Leben, das sie je gehabt hatte, obwohl sie damals durchaus glücklich damit gewesen war, weil sie nicht gewusst hatte, welche Rolle sie im Muster spielte.

»Nun, ich gehe trotzdem«, sagte Mat.

Sie seufzte. »Ich kann dich nicht begleiten, Mat. Nicht, wenn ich Elayne nicht verlassen will. Sie hat einen Todeswunsch von dem Ausmaß deines Stolzes, und ich will, dass sie überlebt.«

»Ich erwarte auch gar nicht von dir, dass du mitkommst«, sagte er schnell. »Verflucht, darum bitte ich doch gar nicht. Und …« Er runzelte die Stirn. »Einen Todeswas vom Ausmaß meines was?«

»Vergiss es«, sagte sie und trank ihre Milch. Sie mochte Milch, obwohl sie das nie jemandem erzählte. Natürlich freute sie sich darauf, wieder trinken zu können; sie vermisste das Gebräu des alten Snert. Sie mochte hässliches Bier genauso sehr wie hässliche Männer.

»Ich kam zu dir, weil ich Hilfe brauche«, sagte Mat.

»Was gibt es da noch zu sagen? Du nimmst Eisen, Feuer und Musik mit. Eisen verletzt sie, bannt sie und hält sie. Feuer macht ihnen Angst und tötet sie. Musik verzaubert sie. Aber du wirst herausfinden, dass sowohl Feuer wie auch Musik zusehends weniger effektiv sein werden, je länger du sie benutzt.

Der Turm ist kein Gebäude, er ist das Portal. Eine Art Tor zum Kreuzweg zwischen ihren Reichen. Dort wirst du beide finden, die Aelfinn-Schlangen und die Eelfinn-Füchse. Vorausgesetzt, sie arbeiten zurzeit zusammen. Sie haben eine seltsame Beziehung.«

»Aber was wollen sie?«, fragte Mat. »Ich meine, von uns? Warum interessieren sie sich für uns?«

»Gefühle«, sagte Birgitte. »Darum haben sie Portale in unsere Welt gebaut, darum locken sie uns zu ihnen. Sie nähren sich von unseren Gefühlen. Aus irgendeinem Grund mögen sie vor allem Aes Sedai. Vielleicht schmecken die mit der Einen Macht ja wie ein besonders starkes Ale.« Mat erschauderte sichtlich.

»Das Innere wird verwirrend sein«, sagte Birgitte. »Dort an einen bestimmten Ort zu gelangen ist schwierig. Der Zugang durch den Turm statt durch den Türrahmen brachte mich in Gefahr, aber ich wusste, dass ich einen Handel abschließen kann, wenn ich den Großen Saal erreiche. Übrigens, wenn du durch den Turm eintrittst, bekommst du nichts umsonst. Sie werden einen Preis fordern, etwas, das für dich von großem Wert ist.

Aber wie dem auch sei, ich fand eine Methode, den Großen Saal zu finden. An den Kreuzungen ließ ich Eisenstaub zurück, damit ich wusste, welchen Weg ich gekommen war. Sie können ihn nicht anfassen, und … bist du sicher, dass du diese Geschichte nie gehört hast?«

Mat nickte energisch.

»In dieser Gegend hier war sie früher recht populär«, sagte sie stirnrunzelnd. »Vor hundert Jahren oder so.«

»Du klingst aufgebracht.«

»Es war ja auch eine gute Geschichte.«

»Wenn ich überlebe, lasse ich Thom daraus eine verdammte Ballade machen. Erzähl mir von dem Staub. Hat dein Plan funktioniert?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich verirrte mich trotzdem. Ich weiß nicht, ob sie den Staub irgendwie wegblasen konnten oder ob der Ort so groß ist, dass ich nie auf einen zuvor benutzten Weg stieß. Am Ende hatte man mich in die Ecke gedrängt, mein Feuer erlosch, meine Laute war kaputt, meine Bogensehne gerissen und Gaidal bewusstlos hinter mir. An manchen der Tage dort drinnen konnte er gehen, aber an anderen war er dazu viel zu benommen, also zog ich ihn auf einer mitgebrachten Trage hinter mir her.«

»An manchen Tagen?«, wiederholte Mat. »Wie lange warst du denn dort?«

»Ich hatte Proviant für zwei Monate«, sagte Birgitte leise. »Ich weiß nicht mehr, wie lange wir noch durchhielten, nachdem alles aufgebraucht war.«

»Verdammte Asche!«, sagte Mat und nahm einen tiefen Schluck von seinem Ale.

»Ich habe dir ja gesagt, du sollst nicht da reingehen«, sagte Birgitte. »Einmal angenommen, du findest deine Freundin, du wirst es niemals wieder hinausschaffen. An diesem Ort kannst du wochenlang umherwandern, ohne jemals nach rechts oder nach links abzubiegen, du gehst einfach geradeaus, durch einen Gang nach dem anderen. Sie sind alle gleich. Wüsstest du, welche Richtung du einschlagen müsstest, könnte der Große Saal nur Minuten weit entfernt sein. Aber du wirst ihn verfehlen.«

Mat starrte in seinen Becher und wünschte sich vermutlich, etwas Stärkeres bestellt zu haben.

»Überlegst du es dir anders?«, wollte sie wissen.

»Nein«, sagte er. »Aber wenn wir da wieder raus sind, dann sollte Moiraine besser verdammt dankbar sein. Zwei Monate?« Er runzelte die Stirn. »Moment mal. Wenn ihr beide dort gestorben seid, wie ist die Geschichte dann bekannt geworden?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Das habe ich nie herausgefunden. Vielleicht hat eine der Aes Sedai ihre Fragen benutzt, um sich danach zu erkundigen. Es war allgemein bekannt, dass ich den Turm betreten hatte. Damals nannte man mich Jethari Mondtänzer. Bist du sicher, dass du die Geschichte nie gehört hast?«

Er nickte wieder.

Sie seufzte. Nun, nicht jede ihrer Geschichten konnte für alle Ewigkeit bestehen, aber sie hätte gedacht, dass gerade die ein paar Generationen länger in Umlauf geblieben wäre.

Sie hob den Becher, um den letzten Schluck Milch zu trinken. Der Becher schaffte es nie bis zu ihren Lippen. Sie erstarrte, als sie Elaynes Gefühle wie ein Blitzschlag trafen. Zorn, Wut, Schmerz.

Birgitte knallte den Becher auf den Tisch, warf drei Münzen hin und stand fluchend auf. »Was?« Mat sprang auf.

»Elayne. In Schwierigkeiten. Schon wieder. Sie ist verletzt. «

»Verdammte Asche«, knurrte Mat und schnappte sich Mantel und Stab, als sie zum Ausgang rannten.

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