34 Das Urteil

Ich will die Kundschafter im Feld haben«, sagte Perrin energisch. »Selbst während des Prozesses.« »Das wird den Töchtern nicht gefallen, Perrin Aybara«, erwiderte Sulin. »Nicht, wenn sie dadurch die Chance versäumen, mit den Speeren tanzen zu können.«

»Sie werden es trotzdem tun«, sagte Perrin und setzte seinen Gang durch das Lager fort, Dannil und Gaul an seiner Seite. Ihnen folgten Azi und Will al’Seen, seine beiden Leibwächter des Tages.

Sulin musterte Perrin, dann nickte sie. »Es wird geschehen. « Sie ging.

»Lord Perrin«, fragte Dannil. Er roch nervös. »Worum geht es?«

»Das kann ich noch nicht sagen«, erwiderte Perrin. »Mit dem Wind stimmt etwas nicht.«

Dannil runzelte die Stirn und sah verwirrt aus. Nun, auch Perrin war verwirrt. Verwirrt und sich zusehends immer sicherer. Das erschien wie ein Widerspruch, aber es stimmte.

Im Lager herrschte Hektik, seine Heere sammelten sich, um den Weißmänteln entgegenzutreten. Nicht sein Heer, seine Heere. Zwischen ihnen herrschte so viel Uneinigkeit. Arganda und Gallenne rangelten um ihre Position, die Männer von den Zwei Flüssen verabscheuten die hinzugekommenen Söldnertrupps, die ehemaligen Flüchtlinge standen überall dazwischen. Und da waren natürlich die Aiel, die über allem standen und taten, wozu sie Lust hatten.

Ich löse die Heere auf, sagte sich Perrin. Was spielt das also noch für eine Rolle? Trotzdem störte es ihn. Es war eine schlampige Art und Weise, ein Lager zu führen.

Perrins Leute hatten sich größtenteils von der letzten Blase des Bösen erholt. Vermutlich würde keiner von ihnen jemals seine Waffen wieder auf die gleiche Weise betrachten, aber die Verwundeten waren Geheilt und die Machtlenker ausgeruht.

Die Weißmäntel waren über die Verzögerung nicht erfreut gewesen, die vermutlich länger als erwartet gewesen war. Aber Perrin hatte die Zeit gebraucht, aus verschiedenen Gründen.

»Dannil«, sagte er. »Ich nehme an, meine Gemahlin hat Euch in ihre Pläne eingespannt, mich zu beschützen.« Dannil zuckte zusammen. »Wie …«

»Sie braucht ihre Geheimnisse«, fuhr Perrin fort. »Die Hälfte bekomme ich nicht mit, aber das war so klar wie der Tag. Sie ist nicht glücklich über dieses Gerichtsverfahren. Zu was hat sie Euch angestiftet? Irgendeinen Plan mit den Asha’man, um mich aus der Gefahr herauszuholen?«

»So etwas in der Art, mein Lord«, gestand Dannil.

»Sollte es schlimm werden, dann gehe ich«, sagte Perrin. »Aber greift nicht zu früh ein. Ich lasse nicht zu, dass das zu einem Blutbad wird, nur weil einer der Weißmäntel zur falschen Zeit einen Fluch ausstößt. Wartet auf mein Signal. Verstanden?«

»Ja, mein Lord«, sagte Dannil und roch nach Verlegenheit.

Perrin musste das alles hinter sich lassen. Sich davon befreien. Jetzt. Denn im Verlauf der letzten paar Tage hatte es angefangen, sich ganz natürlich anzufühlen. Ich bin bloß ein … Er hielt inne. Bloß ein was? Ein Schmied? Konnte er das überhaupt noch sagen? Was genau war er?

Ein Stück voraus saß Neald in der Nähe des Reisegeländes auf einem Baumstumpf. Während der letzten paar Tage hatten der jugendliche Soldat und Gaul nach Perrins Anweisungen mehrere Richtungen erkundet, um zu sehen, ob Wegetore funktionierten, wenn man sich weit genug vom Lager entfernte. Tatsächlich stellte sich heraus, dass es sich genauso verhielt, obwohl man stundenlang marschieren musste, um dem Effekt zu entkommen.

Abgesehen von den wieder funktionierenden Wegetoren waren weder Neald noch Gaul irgendwelche Veränderungen aufgefallen. Auf dieser Seite gab es keine Barriere oder gar sichtbare Hinweise, aber wenn Perrin recht hatte, entsprach das Gebiet, in dem die Wegetore nicht funktionierten, ganz genau dem im Wolfstraum von der Kuppel bedeckten Grund.

Das war der Zweck der Kuppel, und darum bewachte der Schlächter sie. Es ging nicht um die Jagd auf die Wölfe, obwohl ihm das sicherlich Vergnügen bereitete. Etwas verursachte sowohl die Kuppel wie auch die Probleme der Asha’man.

»Neald«, sagte Perrin und blieb vor dem Asha’man stehen. »Die letzte Erkundung verlief gut?«

»Ja, mein Lord.«

»Als Grady und Ihr mir das erste Mal von den versagenden Geweben erzähltet, da habt Ihr erwähnt, dass Euch so etwas schon einmal passiert ist. Wann war das?«

»Als wir das Wegetor öffnen wollten, um die Kundschafter aus Cairhien zu holen. Wir versuchten es, und die Gewebe zerfielen. Aber wir warteten eine Weile ab und versuchten es erneut. Da klappte es.«

Das war direkt nach der Nacht, in der ich die Kuppel entdeckte, dachte Perrin. Sie bildete sich für eine kurze Zeit und verschwand. Der Schlächter muss sie getestet haben.

»Mein Lord.« Neald trat nahe an ihn heran. Der Mann war ein Geck, aber wenn Perrin ihn gebraucht hatte, war er stets verlässlich gewesen. »Was geht da vor?«

»Ich glaube, da baut jemand eine Falle für uns«, sagte Perrin leise. »Sperrt uns ein. Ich habe noch andere ausgeschickt, um nach dem Ding zu suchen, das das verursacht; vermutlich handelt es sich um irgendeinen Gegenstand der Einen Macht.« Er hatte die Befürchtung, dass er im Wolfstraum verborgen lag. Konnte dort etwas eine Wirkung in der realen Welt verursachen? »Seid Ihr absolut sicher, keine Wegetore erschaffen zu können? Nicht einmal zu anderen Stellen in der Nähe, also innerhalb des betroffenen Gebiets?« Neald schüttelte den Kopf.

Dann sind die Regeln auf dieser Seite anders. Oder zumindest sind die Auswirkungen auf das Reisen anders als bei der Versetzung im Wolfstraum. »Neald, Ihr sagtet doch, dass Ihr bei dem Einsatz eines Zirkels mit den größeren Toren das ganze Heer in wenigen Stunden transportieren könntet?«

Der Asha’man nickte. »Wir haben das geübt.«

»Wir müssen dafür bereit sein«, sagte Perrin und warf einen Blick zum Himmel. Er konnte noch immer das Unnatürliche in der Luft riechen. Der Hauch Abgestandenheit.

»Mein Lord«, sagte Neald. »Wir werden bereit sein, aber wenn wir keine Wegetore erschaffen können, dann spielt das keine Rolle. Aber wir könnten das Heer bis zu der Stelle jenseits des Effekts marschieren lassen und von dort entkommen.«

Leider hatte Perrin den Verdacht, dass das nicht reichte. Springer hatte das als Sache der fernen Vergangenheit bezeichnet. Also standen die Chancen gut, dass der Schlächter mit den Verlorenen zusammenarbeitete. Oder er war selbst einer der Verlorenen. Perrin hatte das noch nie zuvor in Betracht gezogen. Aber egal, wie sich das nun auch verhielt, diejenigen, die diese Falle planten, würden ihn beobachten. Falls sein Heer zu entkommen versuchte, würde der Feind die Falle zuschnappen lassen oder einfach die Kuppel verlegen.

Die Verlorenen hatten die Shaido mit diesen Kästchen hereingelegt und sie an die gewünschte Stelle platziert. Und da war sein Konterfei, das man überall verteilte. Gehörte das alles zu dieser Falle, was sie auch immer bezwecken sollte? Gefahren. So viele Gefahren jagten ihn.

Nun, was hast du erwartet? Es ist Tarmon Gai’don.

»Ich wünschte, Elyas würde zurückkehren«, sagte er. Er hatte den Mann allein auf eine besondere Erkundungsmission geschickt. »Haltet Euch einfach bereit, Neald. Dannil, es wäre besser, wenn Ihr meine Warnungen an Eure Männer weitergebt. Ich will keine Zwischenfälle.«

Dannil und Neald gingen ihre getrennten Wege, und Perrin schritt zu den Pferdeseilen, um Traber zu finden. Gaul setzte sich so lautlos wie der Wind an seine Seite.

Da zieht jemand eine Schlinge immer fester um mein Bein, ganz langsam, einen Zoll nach dem anderen. Wartete vermutlich darauf, dass er gegen die Weißmäntel kämpfte. Danach würde sein Heer geschwächt und verletzt sein. Eine leichte Beute. Wäre er früher gegen Damodred in die Schlacht gezogen, wäre die Falle möglicherweise schon da zugeschnappt, wie er mit einem Frösteln erkannte. Plötzlich nahm dieser Prozess eine immense Bedeutung an.

Perrin musste eine Möglichkeit finden, eine Schlacht herauszuzögern, bis er noch einmal in den Wolfstraum eingetreten war. Vielleicht fand er dort eine Möglichkeit, die Kuppel zu zerstören und seine Leute zu befreien.

»Du veränderst dich, Perrin Aybara«, sagte Gaul.

»Was?«, sagte Perrin und nahm Traber von einem Pferdeknecht entgegen.

»Das ist eine gute Sache«, erwiderte Gaul. »Gut zu sehen, dass du aufhörst, dich zu beschweren, ein Häuptling zu sein. Gut zu sehen, dass du das Kommando genießt.«

»Ich habe aufgehört, mich darüber zu beschweren, weil ich Besseres zu tun habe«, erwiderte Perrin. »Und ich genieße es keinesfalls, das Kommando zu haben. Ich tue es, weil ich es tun muss.«

Gaul nickte, als wäre er der Ansicht, dass Perrin ihm zustimmte.

Aiel. Perrin schwang sich in den Sattel. »Also lass uns gehen. Die Männer marschieren los.«


»Ab mit Euch«, sagte Faile zu Aravine. »Das Heer marschiert los.«

Aravine machte einen Knicks und ging los, um den Befehl an die Flüchtlinge weiterzuleiten. Faile war sich nicht sicher, was dieser Tag bringen würde, aber sie wollte, dass die Zurückbleibenden das Lager abbrachen und sich für alle Fälle zum Abmarsch vorbereiteten.

Als Aravine ging, sah Faile, dass sich der Buchhalter Aldin ihr anschloss. In letzter Zeit schien er Aravine recht oft zu besuchen. Vielleicht hatte er Arrela endlich aufgegeben.

Sie eilte zum Zelt. Unterwegs kam sie an Flann Barstere, Jon Gaelin und Marek Cormer vorbei, die Bogensehnen und die Befiederungen an den Pfeilen überprüften. Alle drei schauten auf und winkten. In ihren Blicken schien eine gewisse Erleichterung zu liegen, was ein gutes Zeichen war. Einst hatten diese Männer beschämt ausgesehen, wenn sie sie sahen, als würden sie sich für die Art und Weise verantwortlich fühlen, auf die Perrin während ihrer Abwesenheit angeblich mit Berelain gebalzt hatte.

Die Zeit, die sie mit Berelain verbrachte, und die formelle Entkräftung der Gerüchte überzeugte das Lager langsam, dass nichts Ungehöriges geschehen war. Interessanterweise schien die Tatsache, dass Faile Berelain während der Blase des Bösen das Leben gerettet hatte, die Meinung der Leute am stärksten zu beeinflussen. Sie nahmen deswegen an, dass zwischen den beiden Frauen kein Streit herrschte.

Natürlich hatte Faile der Frau nicht das Leben gerettet, sondern ihr bloß geholfen. Aber die Gerüchte besagten anderes, und es freute Faile, dass sie ausnahmsweise einmal zugunsten von Perrin und ihr arbeiteten.

Sie erreichte das Zelt und wusch sich rasch mit einem feuchten Tuch. Dann trug sie etwas Parfüm auf und zog ihr hübschestes Gewand an; es wies ein dunkles Graugrün auf und hatte aufgestickte Ranken auf dem Oberteil und am Saum. Schließlich warf sie einen schnellen Blick in den Spiegel. Gut. Sie verbarg ihre Nervosität. Perrin würde nichts passieren. Nichts.

Sie schob sich trotzdem ein paar Messer in den Gürtel und in die Ärmel. Ein Pferdeknecht hatte ihr Tageslicht gebracht. Sie saß auf – und vermisste Schwalbe, den die Shaido getötet hatten. Selbst die Röcke ihrer besten Kleider waren zum Reiten abgenäht; auf Reisen trug sie nichts anderes. Ihre Mutter hatte ihr beigebracht, dass bei Soldaten nichts mehr die Glaubwürdigkeit einer Frau zunichtemachte als ein Damensattel. Und sollte das Unvorstellbare dennoch eintreten und Perrin fallen, würde Faile das Kommando über die Streitkräfte übernehmen.

Im Schritttempo ritt sie an die Spitze des sich versammelnden Heeres. Perrin saß dort schon im Sattel. Wie konnte er es wagen, so geduldig auszusehen!

Faile ließ sich ihren Ärger nicht anmerken. Es gab eine Zeit für einen Wirbelsturm und eine Zeit für eine sanfte Brise. Sie hatte Perrin bereits deutlich zu verstehen gegeben, was sie von dieser Gerichtsverhandlung hielt. Im Augenblick aber musste man sehen, dass sie ihren Gemahl unterstützte.

Sie ritt an seine Seite, während die Aes Sedai hinter ihm Aufstellung nahmen und genau wie die Weisen Frauen zu Fuß gingen. Keine Töchter. Wo steckten sie? Es musste wichtig sein, um sie von der Verhandlung fernzuhalten. Für Sulin und die anderen war der Schutz Perrins eine vom Car’a’carn auferlegte Pflicht, und sollte er fallen, würde das für sie eine ernsthafte Angelegenheit von Toh sein.

Sie ließ den Blick über das Lager schweifen und bemerkte zwei Gai’schain, die in ihren weißen Kapuzengewändern zur vordersten Reihe eilten. Gaul, der neben Perrins Pferd stand, runzelte die Stirn. Eine der Gestalten verneigte sich vor ihm und hielt ihm ein Bündel Speere hin. »Frisch geschärft«, sagte Chiad.

»Und neu befiederte Pfeile«, fügte Bain hinzu. »Ich habe bereits Speere und Pfeile«, erwiderte Gaul. »Ja«, sagten die Frauen wie aus einem Mund, gingen vor ihm auf die Knie und hielten ihre Gaben noch immer hin.

»Was?«

»Wir sorgen uns bloß um deine Sicherheit«, sagte Bain. »Schließlich hast du alle diese Waffen selbst vorbereitet.« Sie sagte das in einem völlig ernsten Tonfall, ohne einen Hauch von Spott oder Unehrlichkeit. Und doch kamen die Worte einer Belehrung sehr nahe.

Gaul fing an zu lachen. Er nahm die angebotenen Waffen und übergab den Frauen die anderen. Trotz der anstehenden Probleme musste Faile lächeln. Der Umgang der Aiel miteinander wies eine hinterhältige Komplexität auf. Was Gaul an seinen Gai’schain hätte erfreuen sollen, schien ihn oft zu frustrieren, aber was man als beleidigend hätte betrachten können, wurde mit Belustigung aufgenommen.

Als sich Bain und Chiad zurückzogen, betrachtete Faile das sich versammelnde Heer. Jeder kam, nicht nur die Hauptmänner oder abkommandierten Gruppen. Die meisten würden den Prozess gar nicht sehen können, aber sie mussten da sein. Für alle Fälle.

Faile beugte sich zu ihrem Gemahl hinüber. »Etwas macht dir Sorgen«, sagte sie zu ihm.

»Die Welt hält den Atem an, Faile,« » Was meinst du?«

Er schüttelte den Kopf. »Die Letzte Jagd hat begonnen. Rand ist in Gefahr. Mehr als jeder Einzelne von uns. Und ich kann nicht an seine Seite eilen. Noch nicht.«

»Perrin, deine Worte ergeben keinen Sinn. Wie kannst du wissen, ob Rand in Gefahr ist?«

»Ich sehe ihn. Jedes Mal, wenn ich seinen Namen erwähne oder an ihn denke, eröffnet sich mir eine Vision von ihm.«

Sie blinzelte.

Er wandte sich ihr zu, und in seinen gelben Augen lag ein nachdenklicher Blick. »Ich bin mit ihm verbunden. Er… er zieht an mir, musst du wissen. Schließlich wollte ich dir gegenüber über solche Dinge offen sein.« Er zögerte. »Meine Heere hier, sie werden getrieben. Wie Schafe zu ihrem Metzger.« Plötzlich hielt er inne. »Da war eine Vision im Wolfstraum, Schafe, die von Wölfen gehetzt wurden. Und ich glaubte zu ihnen zu gehören.«

Faile hörte aufmerksam zu. »Und dann?«

»Ich erzähle es dir später genau. Aber mir ist gerade etwas klar geworden. Beim Licht, ich habe mich geirrt.« Er nickte. »Der Wind verrät es mir. Das Problem mit den Wegetoren hat mit etwas im Wolfstraum zu tun. Jemand will, dass wir nicht von diesem Ort fliehen können.«

Ein kalter Lufthauch schlug über ihnen zusammen, in dieser Mittagshitze eher seltsam. »Bist du sicher?«, wollte Faile wissen.

»Ja«, erwiderte Perrin. »Seltsamerweise bin ich das.« »Sind die Töchter damit beschäftigt? Sind sie auf Erkundung?«

»Jemand will uns hier festhalten und angreifen. Da ist es vernünftig, uns mit den Weißmänteln streiten zu lassen und dann die Überlebenden zu töten. Aber dazu würde man ein Heer brauchen, von dem aber jede Spur fehlt. Es gibt nur uns und die Weißmäntel. Elyas sucht nach einem Tor der Kurzen Wege, aber bis jetzt hat er noch nichts gefunden. Also ist das vielleicht alles Unsinn, und ich habe Angst vor meinem eigenen Schatten.«

»In letzter Zeit, mein Gemahl, ist es wahrscheinlich, dass diese Schatten beißen können. Ich vertraue deinen Instinkten.«

Er sah sie an, dann lächelte er breit. »Vielen Dank.« » Was also sollen wir tun?«

»Wir reiten zu dieser Verhandlung«, sagte Perrin. »Und bemühen uns nach allen Kräften, nicht gegen die Weißmäntel in die Schlacht ziehen zu müssen. Und heute Abend sehe ich, ob ich das Ding vernichten kann, das unsere Wegetore verhindert. Wir können nicht weit genug reiten, um ihm zu entkommen; das Ding kann bewegt werden. Ich sah es an zwei Orten. Irgendwie muss ich es vernichten. Danach entkommen wir.«

Sie nickte, und Perrin gab den Befehl zum Abmarsch. Obwohl die hinter ihnen versammelte Streitmacht chaotisch erschien – wie ein verheddertes Seil -, setzte sich das Heer in Bewegung. Die verschiedenen Gruppen ordneten sich selbst und entwirrten sich.

Sie legten das kurze Stück auf der Jehannahstraße zurück und näherten sich dem Feld mit dem Pavillon. Die Weißmäntel waren bereits da; sie standen in Formation. Dem ersten Anschein nach hatten auch sie ihr gesamtes Heer mitgebracht.

Das würde ein spannungsgeladener Nachmittag.

Gaul lief neben Perrins Pferd, und weder erschien er besorgt, noch hatte er sich verschleiert. Faile wusste, dass er es für eine ehrenhafte Sache hielt, dass sich Perrin diesem Prozess stellte. Perrin musste sich entweder verteidigen oder Toh zugeben und das Urteil akzeptieren. Aiel waren ohne Fesseln zu ihrer eigenen Hinrichtung gegangen, um Toh zu akzeptieren.

Sie ritten zum Pavillon. Am nördlichen Ende hatte man auf einer niedrigen Plattform einen Stuhl hingestellt, dessen Rücken dem fernen Wald aus Zwerglorbeer zugewandt stand. Morgase saß auf dem erhöhten Stuhl und sah jeden Zoll wie eine Königin aus; sie trug ein Gewand in roten und goldenen Farben, das Galad irgendwo für sie aufgetrieben haben musste. Wie hatte Faile diese Frau nur jemals für eine beliebige Zofe halten können?

Vor Morgase waren Stühle aufgestellt worden, die zur Hälfte mit Weißmänteln gefüllt waren. Galad stand neben ihrem provisorischen Richterthron. Seine Uniform war makellos, sein Umhang fiel glatt zu Boden, jede Haarlocke lag perfekt an Ort und Stelle. Faile warf einen Blick zur Seite und erwischte Berelain dabei, wie sie Galad anstarrte und errötete; sie sah fast schon hungrig aus. Sie hatte die ganze Zeit den Versuch nicht aufgegeben, Perrin überreden zu wollen, sie zu den Weißmänteln zu schicken, um Frieden zu schließen.

»Galad Damodred«, rief Perrin und stieg vor dem Pavillon vom Pferd. Faile stieg ebenfalls ab und blieb an seiner Seite. »Ich möchte, dass Ihr mir etwas versprecht, bevor wir anfangen.«

»Und was sollte das sein?«, rief der junge Kommandant aus dem Zelt mit den aufgerollten Wänden.

»Schwört, das nicht in eine Schlacht ausarten zu lassen.«

»Das könnte ich versprechen«, erwiderte Galad. »Aber natürlich müsstet Ihr mir versprechen, dass Ihr nicht weglauft, sollte Euch das Urteil nicht gefallen.«

Perrin schwieg. Dann legte er die Hand auf seinen Hammer.

»Wie ich sehe, wollt Ihr das nicht versprechen«, sagte Galad. »Ich biete Euch diese Gelegenheit, weil meine Mutter mich dazu überredet hat, Euch zu erlauben, zu Eurer Verteidigung zu sprechen. Aber ich würde eher sterben, als einem Mann, der Kinder des Lichts ermordet hat, zu erlauben, sich ungehindert zurückzuziehen. Wenn Ihr nicht wollt, dass das hier mit einer Schlacht endet, dann solltet Ihr Eure Verteidigung überzeugend präsentieren, Perrin Aybara. Entweder das oder die Strafe akzeptieren.«

Faile sah ihren Gemahl an; er runzelte die Stirn. Er erweckte den Eindruck, als wollte er das geforderte Versprechen geben. Sie legte ihm die Hand auf den Arm.

»Ich sollte das tun«, sagte er leise. »Wie kann ein Mann über dem Gesetz stehen, Faile? Ich habe diese Männer in Andor getötet, als Morgase Königin war. Ich sollte mich ihrem Urteil fügen.«

»Und was ist mit der Pflicht, die du den Menschen in deinem Heer gegenüber hast? Deine Pflicht Rand gegenüber und der Letzten Schlacht?« Und mir!

Perrin zögerte, dann nickte er. »Du hast recht.« Dann fuhr er lauter fort: »Bringen wir es hinter uns.«


Perrin betrat den Pavillon, dicht gefolgt von Neald, Dannil und Grady. In ihrer Gegenwart kam sich Perrin wie ein Feigling vor; ihre Haltung verkündete deutlich, dass sie nicht vorhatten, Perrin ohne Gegenwehr abführen zu lassen.

Was war ein Prozess, dessen Urteil er sich nicht unterwerfen würde? Nur ein Schauspiel, nichts weiter.

Die Weißmäntel beobachteten sie angespannt, ihre Offiziere standen im Schatten des Pavillons, ihr Heer nahm Paradestellung ein. Sie erweckten nicht den Eindruck, während des Verfahrens bequem stehen zu wollen. Perrins weniger ordeutlich aufgestellte, wenn auch zahlenmäßig überlegene Streitkräfte reagierten, indem sie sich gegenüber von den Weißmänteln aufbauten.

Perrin nickte, und Rowan Hurn setzte sich in Bewegung, um sich zu vergewissern, dass Galad die Gefangenen freigelassen hatte. Perrin ging an dem Pavillon entlang und blieb direkt vor Morgases erhöhtem Sitz stehen. Faile blieb an seiner Seite. Man hatte Stühle für ihn aufgestellt, und er setzte sich. Ein paar Schritte zu seiner Linken erhob sich Morgases Plattform. Zu seiner Rechten setzten sich die Zuschauer. Er kehrte seinem Heer den Rücken zu.

Faile nahm neben ihm Platz; sie roch nach Misstrauen. Andere gesellten sich hinzu. Berelain und Alliandre setzten sich mit ihren Wächtern neben ihn; die Aes Sedai und Weisen Frauen blieben stehen. Die letzten freien Sitze wurden von ein paar Männern aus den Zwei Flüssen in Beschlag genommen und einigen Abgeordneten der Flüchtlinge.

Die Offiziere der Weißmäntel setzten sich auf der anderen Seite hin, genau gegenüber von ihm und Faile. Bornhaid und Byar saßen in der ersten Reihe. Insgesamt gab es etwa dreißig Stühle, die die Weißmäntel vermutlich Perrins Ausrüstung entnommen hatten.

»Perrin«, sagte Morgase. »Seid Ihr sicher, dass Ihr das tun wollt?«

»Das bin ich.«

»Also gut«, sagte sie mit regloser Miene, obwohl sie zögernd roch. »Ich erkläre diese Verhandlung formell für eröffnet. Der Angeklagte ist Perrin Aybara, auch als Perrin Goldauge bekannt.« Sie zögerte. »Lord der Zwei Flüsse«, fügte sie hinzu. »Galad, Ihr tragt die Anklage vor.«

»Es gibt drei Anklagepunkte«, begann Galad. »Die ersten beiden betreffen die unrechtmäßige Ermordung von Kind Lathin und die unrechtmäßige Ermordung von Kind Yamwick. Aybara wird ebenfalls beschuldigt, ein Schattenfreund zu sein und die Trollocs zu den Zwei Flüssen geführt zu haben.«

Die letzte Anschuldigung löste bei den Männern aus den Zwei Flüssen wütendes Gemurmel aus. Diese Trollocs hatten auch Perrins Familie getötet.

Galad sprach weiter. »Die letzte Beschuldigung kann noch nicht untermauert werden, da man meine Männer aus den Zwei Flüssen vertrieb, bevor sie Beweise sammeln konnten. Was die ersten beiden Anklagepunkte angeht, hat Aybara seine Schuld bereits zugegeben.«

»Stimmt das, Lord Aybara?«, wollte Morgase wissen.

»Ich tötete diese Männer«, sagte Perrin. »Aber es war kein Mord.«

»Dann wird dieses Gericht das klären«, sagte Morgase förmlich. »Und das ist der Disput.«

Morgase schien eine völlig andere Person als Maighdin zu sein. Erwartete man von ihm ein solches Verhalten, wenn er Recht sprach? Aber er musste zugeben, dass sie dem Verfahren etwas von der dringend nötigen Formalität verlieh. Schließlich fand es in einem Zelt auf einem Feld statt, und der Richterstuhl war anscheinend mit ein paar Kisten erhöht worden, über die man einen Teppich geworfen hatte.

»Galad«, sagte Morgase. »Eure Männer dürfen ihre Sicht der Geschichte erzählen.«

Galad nickte Byar zu. Byar stand auf, und ein anderer Weißmantel, ein junger Mann, der gänzlich kahl war, trat vor und gesellte sich zu ihm. Bornhaid blieb sitzen.

»Euer Gnaden«, begann Byar, »es geschah vor etwa zwei Jahren. Im Frühling. Einem ungewöhnlich kalten Frühling, wie ich mich erinnere. Wir waren auf dem Rückweg von einer wichtigen Mission für den Kommandieren Lordhauptmann, und wir durchquerten die Wildnis in der Mitte Andors. Wir wollten in einem verlassenen S tedding der Ogier übernachten, am Fuß der Überreste einer einstmals gewaltigen Statue. Die Art von Ort, von der man annimmt, dort sicher zu sein.«

Perrin erinnerte sich an diese Nacht. Ein kalter Ostwind blies und ließ seinen Umhang rascheln, als er neben einem Teich mit Frischwasser stand. Er erinnerte sich daran, wie die Sonne stumm im Osten starb. Er erinnerte sich daran, im schwindenden Licht den Teich anzustarren und zuzusehen, wie der Wind die Oberfläche kräuselte, und die ganze Zeit hielt er die Axt in seinen Händen.

Diese verdammte Axt. Er hätte sie dort wegwerfen sollen. Elyas hatte ihn überredet, sie zu behalten.

»Bei unserem Eintreffen entdeckten wir, dass das Lager kürzlich benutzt worden war«, fuhr Byar fort. »Das bereitete uns Sorgen; das Stedding war nur wenigen Menschen bekannt. Aus dem einzigen Feuer schlossen wir, dass es nicht viele von den geheimnisvollen Reisenden gegeben hatte.«

Seine Stimme klang präzise, seine Beschreibung methodisch. So hatte Perrin diese Nacht nicht in Erinnerung. Nein, er erinnerte sich an das Zischen der Flammen und die wütend aufstiebenden Funken, als Elyas den Inhalt des Teekessels ins Feuer goss. Er erinnerte sich an eine hastige Botschaft der Wölfe, die seinen Verstand überschwemmte und ihn verwirrte.

Das Misstrauen der Wölfe hatte es schwergemacht, sich von ihnen zu trennen. Er erinnerte sich an Egwenes Furchtgeruch, wie er an Belas Sattel herumgefummelt hatte. Und er erinnerte sich an Hunderte Männer, die falsch rochen. Wie die Weißmäntel im Pavillon. Sie rochen wie kranke Wölfe, die nach allem schnappten, was sich in ihre Nähe wagte.

»Der Lordhauptmann war besorgt«, fuhr Byar fort. Offensichtlich verzichtete er darauf, den Namen des Hauptmanns zu erwähnen, vermutlich aus Rücksicht auf Bornhaid. Der junge Hauptmann der Weißmäntel saß völlig reglos da und starrte Byar an, als hätte er Angst, die Beherrschung verlieren, falls er Perrin ansah. »Er glaubte, dass dort Räuber gelagert hatten. Wer sonst würde sein Feuer löschen und in dem Augenblick verschwinden, in dem ein anderer kam? Da sahen wir den ersten Wolf.«

Im Versteck, der Atem ging stoßartig, Egwene drängte sich in der Finsternis an ihn. Aus ihrer und seiner Kleidung stieg der Geruch von Lagerfeuerqualm. In der Dunkelheit atmete Bela. Die beschützende Enge einer gewaltigen Steinhand, die Hand der Statue Artur Falkenflügels, die vor so langer Zeit abgebrochen war.

Die wütende und besorgte Scheckie. Bilder von Männern in Weiß mit flackernden Fackeln. Der zwischen den Bäumen hervorschießende Wind.

»Der Lordhauptmann hielt die Wölfe für ein schlechtes Zeichen. Jeder weiß, dass sie dem Dunklen König dienen. Er schickte uns auf Erkundung. Meine Gruppe übernahm den Osten, durchsuchte die Felsformationen und die Trümmer der gewaltigen zerbrochenen Statue.«

Schmerzen. Brüllende Männer. Perrin? Wirst du am Sonntag mit mir tanzen? Wenn wir bis dahin zu Hause sind…

»Die Wölfe griffen uns an«, sagte Byar, und seine Stimme wurde härter. »Es war offensichtlich, dass es keine gewöhnlichen Geschöpfe waren. Ihr Angriff war viel zu koordiniert. Es schienen Dutzende zu sein, die durch die Schatten huschten. Bei ihnen waren Männer, die unsere Pferde töteten.«

Perrin hatte alles mit zwei Paar Augen betrachtet. Mit seinen eigenen und mit den Augen der Wölfe, die bloß in Ruhe gelassen werden wollten. Sie waren zuvor von einem gewaltigen Rabenschwarm verletzt worden. Sie hatten versucht, die Menschen zu vertreiben. Ihnen Angst einzujagen.

So viel Furcht. Die Furcht der Männer, und die Furcht der Wölfe. Sie hatte diese Nacht beherrscht und beide Seiten kontrolliert. Er erinnerte sich, wie er von den Botschaften verwirrt darum gekämpft hatte, er selbst zu bleiben.

»Die Nacht nahm kein Ende«, sagte Byar, und seine Stimme wurde weicher, war aber noch immer voller Zorn. »Wir passierten einen Hügel, der von einem gewaltigen flachen Felsen gekrönt wurde, und Kind Lathin behauptete, etwas in den Schatten zu sehen. Wir blieben stehen und streckten unsere Lichter aus. Wir entdeckten die Beine eines Pferdes unter dem Vorsprung. Ich gab Lathin ein Zeichen, und er trat vor, um denjenigen, wer immer sich dort verbarg, zu befehlen, herauszukommen und ihre Namen zu nennen.

Nun, dieser Mann – Aybara – trat mit einer jungen Frau aus der Dunkelheit. Er trug eine gefährliche Axt, und er trat ruhig vor Lathin und ignorierte die auf seine Brust zielende Lanze. Und dann …«

Und dann übernahmen die Wölfe. Es war das erste Mal, dass Perrin das passierte. Ihre Botschaften waren so stark gewesen, dass er sich darin verloren hatte. Er konnte sieh daran erinnern, Lathins Hals mit den Zähnen durchgebissen zu haben, und das warme Blut schoss in seinen Mund, als hätte er in eine Frucht gebissen. Das war Springers Erinnerung gewesen, aber im Augenblick dieses Kampfes konnte sich Perrin nicht von dem Wolf trennen.

»Und dann?«, wollte Morgase wissen.

»Und dann gab es einen Kampf«, sagte Byar. »Wölfe sprangen aus den Schatten, und Aybara griff uns an. Er bewegte sich nicht wie ein Mensch, sondern wie eine knurrende Bestie. Wir überwältigten ihn und töteten einen der Wölfe, aber nicht bevor Aybara zwei der Kinder töten konnte.«

Byar setzte sich. Morgase stellt keine Fragen. Sie wandte sich dem anderen Weißmantel zu, der neben Byar gestanden hatte.

»Ich habe nur wenig hinzuzufügen«, sagte der Mann. »Ich war dabei, und ich habe die gleichen Erinnerungen. Ich will nur unterstreichen, dass, als wir Aybara festnahmen, er bereits schuldig gesprochen war. Wir wollten ihn …«

»Dieses Urteil hat keinen Einfluss auf dieses Verfahren«, sagte Morgase kalt.

»Nun, dann erlaubt meiner Stimme, die Aussage eines zweiten Zeugen zu sein. Ich sah ebenfalls alles.« Der kahle Weißmantel setzte sich.

Morgase wandte sich an Perrin. »Ihr dürft sprechen.«

Perrin stand langsam auf. »Die beiden sprechen die Wahrheit, Morgase. Ungefähr so hat sich das zugetragen.«

»Ungefähr?«, fragte Morgase.

»Er hat so gut wie recht.«

»Eure Schuld oder Unschuld hängt von diesem ›so gut wie‹ ab, Lord Aybara. Es ist der Teil, an dem sich das Urteil messen wird.«

Perrin nickte. »Das tut es. Verratet mir etwas, Euer Gnaden. Wenn Ihr über jemanden richtet, versucht Ihr dann, seine sämtlichen Beweggründe zu verstehen?«

Sie runzelte die Stirn. »Was?«

»Mein Meister, der Mann, der mich zum Schmied ausbildete, brachte mir eine wichtige Lektion bei. Um etwas zu erschaffen, muss man es vorher verstehen. Und um es zu verstehen, muss man wissen, wie es sich zusammensetzt.«

Ein kühler Luftzug strich durch den Pavillon und zupfte an den Umhängen. Er entsprach den leisen Lauten auf der Ebene – Männer, deren Rüstung klirrte, dampfende Pferde, ein gelegentliches Flüstern, als seine Worte in den Rängen weitergesagt wurden.

»Kürzlich habe ich etwas begriffen«, sagte Perrin. »Menschen setzen sich aus so vielen unterschiedlichen Motiven zusammen. Wer sie sind, hängt davon ab, in welche Situationen man sie bringt. Ich war am Tod dieser Männer beteiligt. Aber um das zu verstehen, müsst Ihr verstehen, wie ich bin, was mich im Einzelnen ausmacht.«

Er erwiderte Galads Blick. Der junge Hauptmann der Weißmäntel stand kerzengerade da, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Perrin wünschte sich, er könnte seinen Geruch aufschnappen.

Er konzentrierte sich wieder auf Morgase. »Ich kann mit Wölfen sprechen. Ich höre ihre Stimmen in meinem Kopf. Ich weiß, das klingt wie das Geständnis eines Verrückten. Aber ich vermute, dass das viele aus meinem Lager nicht überrascht, wenn sie es hören. Mit etwas Zeit könnte ich Euch das beweisen, mithilfe einiger Wölfe aus der Nähe.«

»Das wird nicht nötig sein«, sagte Morgase. Sie roch nach Angst. Das Getuschel in den Heeren wurde lauter. Er fing Failes Duft auf. Sorge.

»Diese Gabe habe ich«, sagte Perrin. »Sie ist ein Aspekt von mir, so wie ich Eisen schmiede. So wie ich Männer anführe. Falls Ihr deswegen ein Urteil über mich fällt, dann solltet Ihr das verstehen.«

»Ihr grabt Euch Euer eigenes Grab, Aybara«, sagte Bornhaid, stand auf und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Unser Kommandierender Lordhauptmann sagte, er könne nicht beweisen, dass Ihr ein Schattenfreund seid, und hier stellt Ihr Euch hin und präsentiert unseren Fall!«

»Das macht mich nicht zu einem Schattenfreund«, sagte Perrin.

»Der Zweck dieser Verhandlung besteht nicht darin, über diese Beschuldigung zu urteilen«, sagte Morgase energisch. »Wir werden Aybaras Verantwortung für den Tod dieser beiden Männer ergründen und nichts anderes. Ihr dürft Euch setzen, Kind Bornhaid.«

Bornhaid setzte sich wütend.

»Ich habe noch immer nicht Eure Verteidigung gehört, Lord Aybara«, sagte Morgase.

»Ich habe Euch gesagt, was ich bin und was ich tue, um Euch zu zeigen, dass diese Wölfe meine Freunde waren.« Er holte tief Luft. »Diese Nacht in Andor … sie war schrecklich, genau wie Byar sagte. Wir hatten Angst, wir alle. Die Weißmäntel fürchteten sich vor den Wölfen, die Wölfe fürchteten sich vor dem Feuer und den drohenden Bewegungen der Männer, und ich hatte einfach nur Angst vor der ganzen Welt um mich herum. Ich hatte die Zwei Flüsse noch nie zuvor verlassen und verstand nicht, warum ich Wölfe in meinem Kopf hörte.

Nun, nichts davon ist eine Entschuldigung, und das soll es auch nicht sein. Ich tötete diese Männer, aber sie griffen meine Freunde an. Wenn die Männer Jagd auf Wolfspelze machten, wehrten sich die Wölfe.« Er hielt inne. Sie mussten die ganze Wahrheit erfahren. »Um ehrlich zu sein, Euer Gnaden, ich hatte mich nicht unter Kontrolle. Ich wollte mich ergeben. Aber mit den Wölfen in meinem Kopf… ich fühlte ihren Schmerz. Dann töteten die Weißmäntel einen guten Freund von mir, und ich musste kämpfen. Ich würde das Gleiche tun, um einen Bauer zu beschützen, der von Soldaten gequält wird.«

»Ihr seid eine Kreatur des Schattens!«, stieß Bornhaid hervor und stand wieder auf. »Eure Lügen beleidigen die Toten!«

Perrin wandte sich dem Mann zu und erwiderte seinen Blick. Stille breitete sich im Zelt aus. Perrin konnte die Anspannung riechen, die in der Luft hing. »Ist Euch noch nie aufgefallen, dass sich manche Männer von Euch unterscheiden, Bornhaid?«, fragte er. »Habt Ihr je versucht, Euch zu überlegen, wie es sein muss, ein anderer zu sein? Wenn Ihr durch meine goldenen Augen sehen könntet, würdet Ihr die Welt als einen anderen Ort betrachten.«

Bornhaid öffnete den Mund, als wollte er eine weitere Beleidigung ausspucken, leckte sich aber die Lippen, als wären sie plötzlich ausgetrocknet. »Ihr habt meinen Vater ermordet«, brachte er schließlich hervor.

»Das Horn von Valere wurde geblasen«, erwiderte Perrin, »am Himmel kämpfte der Wiedergeborene Drache gegen Ishamael. Artur Falkenflügels Heere waren an diese Küsten zurückgekehrt, um sie zu unterwerfen. Ja, ich war in Falme. Ich ritt an der Seite der Helden des Horns in die Schlacht, an der Seite von Falkenflügel selbst, kämpfte gegen die Seanchaner. Ich kämpfte auf derselben Seite wie Euer Vater, Bornhaid. Ich sagte bereits, dass er ein guter Mann war, und das war er auch. Er griff tapfer an. Er starb tapfer.«

Das Publikum stand so still, dass sie genauso gut Statuen hätten sein können. Niemand regte sich. Bornhaid wollte erneut widersprechen, sagte dann aber nichts.

»Ich schwöre Euch unter dem Licht, bei meiner Hoffnung auf Rettung und Wiedergeburt, dass ich Euren Vater nicht getötet habe«, sagte Perrin. »Und ich hatte auch nichts mit seinem Tod tun.«

Bornhaid betrachtete forschend Perrins Blick und sah aufgewühlt aus.

»Hört nicht auf ihn, Dain«, sagte Byar. Sein Geruch war stark, stärker als alle anderen im Pavillon. Erregt, wie verfaultes Fleisch. »Er hat Euren Vater getötet.«

Galad stand noch immer da und verfolgte die Diskussion. »Ich habe nie so richtig verstanden, woher Ihr das wisst, Kind Byar. Was habt Ihr gesehen? Vielleicht sollte das der Gegenstand der Verhandlung sein, die wir abhalten.«

»Es ist nicht das, was ich sah, Lordhauptmann«, sagte Byar. »Sondern was ich weiß. Wie erklärt sich sonst, dass er überlebte, die Legion aber nicht! Euer Vater war ein tapferer Krieger, Bornhaid. Er wäre den Seanchanern nie zum Opfer gefallen!«

»Das ist doch Unsinn«, sagte Galad. »Die Seanchaner haben uns immer wieder geschlagen. Selbst ein guter Mann kann in der Schlacht fallen.«

»Ich sah Goldauge dort«, erwiderte Byar und deutete wild auf Perrin. »Wie er an der Seite von Geistern kämpfte! Kreaturen des Bösen!«

»Die Helden des Horns, Byar«, sagte Perrin. »Könnt Ihr nicht begreifen, dass wir an der Seite der Weißmäntel kämpften?«

»Es hatte den Anschein«, sagte Byar wild. »Genau wie du die Menschen in den Zwei Flüssen scheinbar verteidigt hast. Aber ich habe dich durchschaut, Schattengezücht! Ich habe dich in dem Augenblick durchschaut, in dem ich dir begegnete!«

»Habt Ihr mir deshalb geraten, ich solle fliehen?«, sagte Perrin leise. »Nach meiner Gefangennahme, als man mich im Zelt von Lord Bornhaid dem Vater einsperrte. Ihr habt mir einen scharfkantigen Stein gegeben und mir gesagt, dass mich niemand verfolgen würde, wenn ich fliehe.«

Byar erstarrte. Das schien er völlig vergessen zu haben.

»Ihr wolltet, dass ich versuche zu fliehen«, fuhr Perrin fort, »damit Ihr mich töten konntet. Ihr wolltet Egwene und mich um jeden Preis tot sehen.«

»Stimmt das, Kind Byar?«, fragte Galad.

Byar stotterte. »Natürlich … natürlich nicht. Ich …« Plötzlich fuhr er auf dem Absatz herum und wandte sich an Morgase auf ihrem schlichten Richterstuhl. »Bei diesem Verfahren geht es nicht um mich, sondern um ihn! Ihr habt beide Seiten gehört. Wie lautet Eure Antwort? Richtet, Frau!«

»Ihr solltet nicht so zu meiner Mutter sprechen«, sagte Galad leise. Seine Miene war ganz ruhig, aber Perrin roch Gefahr an ihm. Bornhaid hatte sich wieder hingesetzt und stützte den Kopf mit den Händen; er wirkte sehr aufgewühlt.

»Nein, schon gut«, sagte Morgase. »Er hat recht. Bei diesem Verfahren geht es um Perrin Aybara.« Sie betrachtete Perrin. Und er erwiderte ihren Blick. Sie roch … als sei sie wegen irgendetwas neugierig. »Lord Aybara. Seid Ihr der Ansicht, ausreichend in Eurem Fall gesprochen zu haben?«

»Ich beschützte mich und meine Freunde«, sagte Perrin. »Die Weißmäntel hatten nicht die Autorität, uns herumzukommandieren oder zu bedrohen. Ich vermute, Ihr kennt ihren Ruf genauso gut wie wir alle. Wir hatten gute Gründe, ihnen zu misstrauen und uns ihren Befehlen zu widersetzen. Es war kein Mord. Ich habe mich nur verteidigt.«

Morgase nickte. »Dann werde ich meine Entscheidung treffen. «

» Soll kein anderer für Perrin sprechen?«, verlangte Faile zu wissen und stand auf.

»Das wird nicht notwendig sein, Lady Faile«, sagte Morgase. »Soweit ich es sagen kann, ist die einzige andere Person, die wir befragen könnten, Egwene al’Vere, die für dieses Verfahren nicht zur Verfügung zu stehen scheint.«

»Aber…«

»Es reicht«, unterbrach Morgase sie mit kalter Stimme. »Wir könnten ein Dutzend Kinder aufmarschieren lassen, die ihn als Schattenfreund bezeichnen, und zwei Dutzend seiner Anhänger, die seine Tugenden preisen. Nichts davon würde diesem Verfahren dienlich sein. Wir sprechen von bestimmten Ereignissen an einem bestimmten Tag.«

Faile verstummte, obwohl sie wütend roch. Sie nahm Perrins Arm, blieb aber stehen. Perrin verspürte … Bedauern. Er hatte die Wahrheit dargestellt. Aber er war nicht zufrieden.

Er hatte diese Weißmäntel nicht töten wollen, aber er hatte es getan. Und er hatte es in einem wilden Rausch getan, völlig außer Kontrolle. Er konnte dafür die Wölfe verantwortlich machen, er konnte dafür die Weißmäntel verantwortlich machen, aber die schlichte Wahrheit war, dass er die Kontrolle verloren hatte. Als er erwacht war, hatte er sich kaum noch an das erinnern können, was er getan hatte.

»Ihr kennt meine Antwort, Perrin«, sagte Morgase. »Ich kann es in Euren Augen lesen.«

»Tut, was Ihr tun müsst«, erwiderte er.

»Perrin Aybara, ich erkläre Euch für schuldig.«

»Nein!«, schrie Faile. »Wie könnt Ihr es wagen! Er hat Euch aufgenommen!«

Perrin legte ihr die Hand auf die Schulter. Reflexartig hatte sie nach ihrem Ärmel gegriffen und den dort versteckten Messern.

»Das hat nichts mit meinen persönlichen Gefühlen für Perrin zu tun«, sagte Morgase. »Das ist ein Gerichtsverfahren nach andoranischem Gesetz. Nun, das Gesetz ist eindeutig. Perrin mag glauben, dass die Wölfe seine Freunde waren, aber das Gesetz legt fest, dass der Hund oder das Vieh eines Mannes einen bestimmten Wert hat. Sie zu töten verstößt gegen das Gesetz, aber einen Mann zur Vergeltung zu töten ist ein noch größerer Verstoß. Ich kann Euch die genauen Passagen zitieren, falls Ihr es wünscht.«

Im Pavillon herrschte Stille. Neald hatte sich ein Stück von seinem Stuhl erhoben, aber Perrin warf ihm einen Blick zu und schüttelte den Kopf. Die Mienen der Aes Sedai und der Weisen Frauen verrieten nichts. Berelain sah resigniert aus, und die blonde Alliandre hatte eine Hand vor den Mund geschlagen.

Dannil und Azi al’Thone rückten näher an Perrin und Faile heran, und Perrin zwang sie nicht zurück.

»Was spielt das für eine Rolle?«, verlangte Byar zu wissen. »Er wird sich dem Urteil sowieso nicht unterwerfen!«

Weitere Weißmäntel standen auf, und dieses Mal vermochte Perrin nicht alle niederzustarren, die auf seiner Seite ihrem Beispiel folgten.

»Ich habe noch kein Urteil verkündet«, sagte Morgase kühl.

»Was für ein anderes Urteil könnte es da schon geben?«, sagte Byar. »Ihr habt gesagt, dass er schuldig ist.«

»Ja. Obwohl ich der Ansicht bin, dass es noch andere Umstände gibt, die für das Urteil relevant sind.« Ihre Züge waren noch immer wie in Stein gemeißelt, und sie roch nach Entschlossenheit. Was hatte sie vor?

»Die Weißmäntel waren eine unautorisierte militärische Gruppe in meinem Reich«, sagte Morgase. »Unter dem Licht erkläre ich Perrin zwar für schuldig, Eure Männer getötet zu haben, aber ich stelle fest, dass der Zwischenfall unter das Kainec-Protokoll fällt.«

»Ist das nicht das Gesetz, das Söldnerfragen regelt?«, fragte Galad.

»In der Tat.«

»Was ist das?«, fragte Perrin.

Galad wandte sich ihm zu. »Sie hat entschieden, dass unser Streit eine Prügelei zwischen Söldnergruppen war. Grob gesagt stellt das Urteil fest, dass es bei der Auseinandersetzung keine Unschuldigen gab – darum seid Ihr auch nicht des Mordes angeklagt. Stattdessen habt Ihr illegal getötet.«

»Da gibt es einen Unterschied?«, fragte Dannil stirnrunzelnd.

»Das ist eine Frage der Auslegung«, sagte Galad, die Hände noch immer hinter dem Rücken verschränkt. Perrin fing seinen Geruch auf; Neugier. »Ja, das ist eine gute Entscheidung, Mutter. Aber ich glaube, die Strafe ist trotzdem der Tod.«

»Das kann sie sein«, sagte Morgase. »Galad, Ihr tragt die Verantwortung für die getöteten Männer, oder zumindest kommt Ihr dem am nächsten. Ich übertrage Euch das Strafmaß. Ich habe das Urteil gesprochen und die legale Definition festgelegt. Ihr entscheidet die Strafe.«

Galad und Perrin starrten sich quer durch den Pavillon an.

»Ich verstehe«, sagte Galad. »Eine seltsame Entscheidung, Euer Gnaden. Aybara, die Frage stellt sich erneut. Fügt Ihr Euch dem Urteil dieses Verfahrens, das Ihr selbst angeregt habt? Oder muss das durch einen Kampf entschieden werden?«

Faile spannte sich an seiner Seite an. Perrin hörte genau, wie hinter ihm sein Heer in Bewegung geriet, Männer murmelnd Schwerter in ihren Scheiden lockerten. Die Botschaft verbreitete sich unter ihnen wie ein leises Summen. Lord Perrin, für schuldig befunden. Sie werden versuchen ihn zu ergreifen. Das lassen wir nicht zu, oder?


Im Pavillon vermengten sich die bitteren Gerüche von Furcht und Zorn; beide Seiten starrten sich bedrohlich an. Und über allem konnte Perrin das in der Luft liegende Übel riechen.

Kann ich weiter davonlaufen?, dachte er. Verfolgt von diesem Tag? Ta’veren kannten keine Zufälle. Warum hatte ihn das Muster an diesen Ort gebracht, um sich den Albträumen seiner Vergangenheit zu stellen?

»Ich füge mich, Damodred«, verkündete Perrin.

»Was?«, keuchte Faile.

»Aber«, fuhr Perrin fort und hob einen Finger, »nur solange Ihr versprecht, das Urteil erst dann zu vollstrecken, nachdem ich in der Letzten Schlacht meine Pflicht tat.«

»Ihr akzeptiert das Urteil nach der Letzten Schlacht?«, fragte Bornhaid verwirrt. »Nach dem Ereignis, das möglicherweise das Ende der Welt selbst ist? Nachdem Ihr Zeit zur Flucht hattet, uns vielleicht verraten habt? Was soll das denn für ein Versprechen sein?«

»Das Einzige, das ich geben kann«, erwiderte Perrin. »Ich weiß nicht, was uns die Zukunft bringt, oder ob wir sie je erleben. Aber wir kämpfen um unser Überleben. Vielleicht sogar das Überleben der Welt. Dem gegenüber sind alle anderen Dinge zweitrangig. Das ist die einzige Möglichkeit, mit der ich dienen kann.«

»Woher sollen wir wissen, dass Ihr Euer Wort haltet?«, fragte Galad. »Meine Männer halten Euch für Schattengezücht. «

»Ich kam her, oder nicht?«, fragte Perrin. »Weil wir Eure Leute gefangen hatten.« »Würde Schattengezücht darauf etwas geben?«, wollte Perrin wissen. Galad zögerte.

»Ich schwöre es«, sagte Perrin. »Beim Licht und meiner Hoffnung auf Erlösung und Wiedergeburt. Bei meiner Liebe für Faile und bei dem Namen meines Vaters. Ihr bekommt Eure Gelegenheit, Galad Damodred. Überlebt Ihr und ich das bis zum Ende, unterwerfe ich mich Eurer Autorität.«

Galad musterte ihn, dann nickte er. »Also gut.«

»Nein!«, rief Byar. »Das ist doch Wahnsinn!«

»Wir gehen, Kind Byar«, sagte Galad und ging auf den Rand des Pavillons zu. »Ich habe meine Entscheidung getroffen. Mutter, begleitest du mich?«

»Es tut mir leid, Galad«, sagte Morgase. »Nein. Aybara ist auf dem Weg zurück nach Andor, und ich muss mit ihm gehen. «

» Nun gut.« Galad ging weiter.

»Wartet«, rief Perrin. »Ihr habt mir noch nicht gesagt, welche Strafe ich zu erwarten habe, wenn ich mich Euch unterwerfe. «

»Nein«, sagte Galad und ging weiter. »Das habe ich nicht.«

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