11 Ein unerwarteter Brief

Sie können unmöglich erwarten, dass ich das hier unterschreibe«, sagte Elayne und warf die Handvoll Papiere neben ihrem Stuhl zu Boden.

»Es ist unwahrscheinlich, dass sie das tun«, sagte Dyelin. Ihr blondes Haar saß makellos, ihre faltenfreie Miene war kontrolliert, ihr schlanker Körper strahlte Selbstsicherheit aus. Die Frau war perfekt! Es war einfach ungerecht, dass sie so makellos aussah, wo sich Elayne wie eine zum Schlachten gemästete Sau vorkam.

Der Kamin in Elaynes Wohnzimmer knisterte warm. Auf einer Kommode an der Wand stand eine Kanne Wein, aber natürlich durfte sie davon nicht trinken. Wenn ihr noch eine einzige Person verdammte Ziegenmilch anbot…

Birgitte lehnte am anderen Ende des Raumes an der Wand. Ihr goldener Zopf hing über ihrer rechten Schulter und bot einen Kontrast zu dem roten Mantel mit dem weißen Kragen und den himmelblauen Hosen. Sie hatte sich eine Tasse Tee eingeschenkt und lächelte in sie hinein, amüsiert von Elaynes Wut. Das Gefühl wurde durch den Behüterbund an Elayne übermittelt.

Sie waren in dem Raum allein. Elayne hatte sich in das Wohnzimmer zurückgezogen, nachdem sie den Vorschlag von Elloriens Boten entgegengenommen und erklärt hatte, das Angebot in Ruhe zu »überdenken«. Nun, sie hatte darüber nachgedacht! Und in den Müll geworfen, wo es hingehörte!

»Das ist eine Beleidigung«, sagte sie und deutete auf die Seiten.

»Wollt Ihr sie für alle Ewigkeit gefangen halten, Elayne?«, fragte Dyelin und hob eine Braue. »Ein Lösegeld können sie sich nicht leisten, nicht nach ihren Ausgaben für den Versuch, die Thronfolge anzutreten. Das überlässt Euch die Entscheidung.«

»Von mir aus können sie verfaulen.« Elayne verschränkte die Arme. »Sie haben Heere gegen mich aufgestellt und Caemlyn belagert!«

»Ja«, erwiderte Dyelin tonlos. »Ich glaube, ich war dabei.«

Elayne fluchte leise vor sich hin, dann stand sie auf und fing an, auf und ab zu gehen. Birgitte musterte sie; Melfane hatte darauf hingewiesen, dass sie sich nicht zu sehr verausgaben sollte. Stur erwiderte sie den Blick ihrer Behüterin, dann ging sie weiter auf und ab. Sollte man sie zu Asche verbrennen, und diese verdammte Hebamme gleich mit! Zu laufen hieß nicht, sich zu verausgaben!

Ellorien gehörte zu den Letzten, die sich lautstark gegen Elaynes Herrschaft aussprachen, und sie war die Heikelste – ausgenommen vielleicht Jarid Sarand. Diese Monate markierten den Anfang einer langen Prüfung für Elayne. Wie stand sie zu bestimmten Themen? Wie leicht konnte man sie herumschubsen? Wie sehr kam sie nach ihrer Mutter?

Sie sollten wissen, dass man sie nicht so leicht einschüchtern konnte. Aber unglücklicherweise sah die Wahrheit nun einmal so aus, dass sie oben auf einem wackeligen Turm aus Teetassen stand. Jede dieser Tassen verkörperte eines der Adelshäuser von Andor; manche hatten sie freiwillig unterstützt, andere nur widerstrebend. Nur sehr wenige von ihnen waren so stark, wie sie gern gehabt hätte.

»Die gefangenen Adligen sind eine Ressource«, sagte Elayne. »Man sollte sie darum auch so betrachten.«

Dyelin nickte. Die Adlige hatte so eine Art, Elayne zu locken, sie dazu zu zwingen, sich nach Antworten abzumühen, von denen beide wussten, dass sie sie finden musste. »Eine Ressource ist bedeutungslos, solange man sie nicht irgendwann benutzt«, bemerkte Dyelin. Sie hielt einen Becher Wein. Verdammtes Frauenzimmer.

»Ja«, sagte Elayne, »aber eine Ressource unter Wert zu verkaufen bringt einem nur den Ruf ein, nicht sorgfältig genug zu sein.«

»Es sei denn, man verkauft etwas unmittelbar vor dem Augenblick, an dem sein Wert dramatisch fällt«, entgegnete Dyelin. »Man hat schon viele Kaufleute als Narren bezeichnet, weil sie Eispfeffer mit einem Preisnachlass verkauften, nur um sie später als klug zu loben, weil die Preise noch tiefer fielen.«

»Und diese Gefangenen? Fällt ihr Wert Eurer Meinung nach bald?«

»Ihre Häuser sind kompromittiert worden«, sagte Dyelin. »Je stärker Eure Position wird, Elayne, desto mehr verlieren diese politischen Gefangenen an Wert. Ihr solltet den Vorteil nicht verschleudern, aber Ihr solltet ihn auch nicht wegsperren, bis sich keiner mehr darum schert.«

»Du solltest sie hinrichten«, sagte Birgitte.

Beide Frauen starrten sie an.

»Was denn?«, sagte Birgitte. »Das haben sie verdient, und es würde dir den Ruf verleihen, hart durchgreifen zu können. «

»Das wäre nicht richtig«, sagte Elayne. »Man sollte sie nicht dafür töten, weil sie einen anderen Thronanwärter unterstützten. Es kann keinen Verrat geben, wenn es keine Königin gibt.«

»Also können unsere Soldaten sterben, aber die Adligen spazieren ungeschoren davon?«, fragte Birgitte. Dann hob sie eine Hand, bevor Elayne protestieren konnte. »Erspare mir die Belehrung. Ich verstehe. Ich stimme zwar nicht zu, aber ich verstehe. So ist es immer schon gewesen.«

Elayne nahm wieder ihre Wanderung auf. Allerdings blieb sie kurz stehen, um auf Elloriens Angebot zu treten. Das brachte ihr ein Augenrollen von Birgitte ein, aber es fühlte sich gut an. Das »Angebot« war eine Liste leerer Versprechungen, die mit der Forderung abschloss, Elayne sollte die Gefangenen zum »Wohle Andors« freilassen. Ellorien behauptete, da die Gefangenen ja mittellos waren, die Krone ihnen ein Pardon gewähren und sie freilassen sollte, damit sie beim Wiederaufbau helfen konnten.

Ehrlich gesagt hatte Elayne schon darüber nachgedacht. Aber wenn sie sie jetzt freiließ, würden die drei Ellorien als ihre Retterin betrachten! Die Dankbarkeit, die man Elayne gegenüber empfunden hätte, würde stattdessen an ihre Rivalin gehen. Blut und verdammte Asche!

»Die Windsucherinnen fangen an, nach dem Land zu fragen, das Ihr ihnen versprochen habt«, bemerkte Dyelin.

»Jetzt schon?«

Die ältere Frau nickte. »Diese Bitte bereitet mir noch immer Sorgen. Warum wollen sie so ein Stück Land haben?«

»Sie haben es sich verdient«, sagte Elayne.

»Vielleicht. Aber es bedeutet, dass Ihr seit fünf Generationen die erste Königin seid, die einer fremden Körperschaft ein Stück von Andor abtretet – ganz egal, wie klein es auch sein mag.«

Elayne holte tief Luft und entdeckte, dass sie seltsamerweise ruhiger war. Diese verfluchten Stimmungsschwankungen! Hatte Melfane nicht versprochen, dass sie weniger ausgeprägt sein sollten, je weiter die Schwangerschaft voranschritt? Trotzdem hatte sie manchmal den Eindruck, dass ihre Gefühle wie ein Ball bei einem Kinderspiel herumhüpften.

Sie sammelte ihre Gedanken und setzte sich wieder. »Ich kann das nicht erlauben. Alle Häuser suchen nach Gelegenheiten, sich in die Macht hineinzudrängen.«

»An ihrer Stelle würdet Ihr bestimmt das Gleiche tun«, meinte Dyelin.

»Nicht wenn ich wüsste, dass die Letzte Schlacht näher rückt«, fauchte Elayne. »Wir müssen etwas tun, damit sich die Adligen um wichtigere Dinge kümmern. Etwas, um sie hinter mir zu vereinen, oder das sie zumindest davon überzeugt, dass man mit mir nicht spielen kann.«

»Wisst Ihr eine Möglichkeit, wie das gehen soll?«, fragte Dyelin.

»Ja«, sagte Elayne und schaute nach Osten. »Es ist Zeit, Cairhien zu erobern.«

Birgitte verschluckte sich an ihrem Tee. Dyelin hob lediglich eine Braue. »Ein mutiger Zug.«

»Mutig?«, fragte Birgitte und wischte sich das Kinn ab. »Das ist verdammter Wahnsinn. Du hast doch kaum Andor im Griff.«

»Das macht den Augenblick nur besser«, sagte Elayne. »Wir haben Schwung. Davon abgesehen, wenn wir uns jetzt um Cairhien kümmern, zeigt das allen, dass ich mehr als ein einfältiges Mäuschen von Königin bin.«

»Ich bezweifle, dass das jemand von dir erwartet«, sagte Birgitte. »Und wenn doch, haben sie vermutlich während der Kämpfe ein paar Schläge zu viel auf den Kopf davongetragen.«

»Sie hat recht, so ungehobelt ihre Worte auch sein mögen«, stimmte Dyelin ihr zu. Sie warf Birgitte einen Blick zu, und Elayne fühlte durch Birgittes Bund ihre heftige Abneigung. Beim Licht! Was war nötig, damit sich die beiden vertrugen? »Niemand bezweifelt Eure Stärke als Königin, Elayne. Das wird die anderen nicht davon abhalten, so viel Macht an sich zu reißen, wie sie können; sie wissen genau, dass sie später dazu kaum Gelegenheit haben werden.«

»Ich habe keine fünfzehn Jahre, um wie Mutter meine Herrschaft zu konsolidieren«, sagte Elayne. »Wir wissen doch alle, was Rand davon hält, dass ich mich auf den Sonnenthron setze. Dort herrscht jetzt ein Statthalter und wartet auf mich, und nach dem, was mit Colavaere passiert ist, wagt es keiner, gegen Rands Edikte zu verstoßen.«

»Indem Ihr diesen Thron ergreift«, sagte Dyelin, »riskiert Ihr den Eindruck, als würdet Ihr ihn aus al’Thors Hand empfangen.«

»Und? Andor musste ich auf mich allein gestellt erobern, aber es ist nichts verkehrt daran, Cairhien als sein Geschenk zu akzeptieren. Seine Aiel haben es befreit. Wir tun den Cairhienern einen Gefallen, indem wir einen hässlichen Streit um die Thronfolge verhindern. Mein Anspruch auf diesen Thron ist stark, zumindest so stark wie von jedem anderen auch, und die, die loyal zu Rand stehen, werden sich hinter mich stellen. «

» Riskiert Ihr dabei nicht, Euch zu übernehmen?«

»Schon möglich«, sagte Elayne, »aber ich glaube, es ist das Risiko wert. In einem Schritt könnte ich einer der mächtigsten Monarchen seit Artur Falkenflügel sein.«

Ein höfliches Klopfen an der Tür unterbrach die Debatte. Elayne sah Dyelin an, und der nachdenkliche Gesichtsausdruck der Frau bedeutete, dass sie über ihre Worte nachdachte. Nun, sie würde nach dem Sonnenthron greifen, mit oder ohne Dyelins Zustimmung. Die Frau wurde immer nützlicher als ihre Beraterin – dem Licht sei Dank, dass Dyelin den Thron nicht für sich selbst beansprucht hatte -, aber eine Königin durfte nicht in die Falle tappen, sich zu sehr allein auf eine Person zu verlassen.

Birgitte ging zur Tür und ließ den storchenhaften Meister Norry eintreten. Er trug Rot und Weiß, und sein Gesicht war wie immer ernst. Unter dem Arm trug er seine Ledermappe, und Elayne unterdrückte ein Stöhnen. »Ich dachte, wir wären für heute fertig gewesen.«

»Das dachte ich auch, Euer Majestät«, erwiderte er. »Aber da ergaben sich ein paar neue Entwicklungen. Ich dachte, sie könnten Euch… interessieren.«

»Was meint Ihr?«

»Nun, Euer Majestät«, sagte Norry, »Ihr wisst, dass ich gewisse Tätigkeiten nicht besonders … nun, mag. Aber angesichts kürzlicher Ergänzungen meines Stabes hatte ich Grund, meine Aufmerksamkeit zu erweitern.«

»Ihr sprecht von Hark, nicht wahr?«, fragte Birgitte. »Was macht das wertlose Stück Dreck?«

Norry schaute sie an. » Er ist sehr … äh … dreckig, muss ich sagen.« Er wandte sich wieder Elayne zu. »Aber er ist sehr geschickt, wenn er richtig motiviert ist. Bitte vergebt mir, falls ich mir Freiheiten herausgenommen haben sollte, aber nach den letzten Geschehnissen und den Gästen, die sie Eurem Kerker verschafft haben, hielt ich das für klug.«

»Meister Norry, wovon sprecht Ihr?«, fragte Elayne.

»Frau Basaheen, Euer Majestät«, sagte Norry. »Den ersten Befehl, den ich unserem guten Meister Hark gab, bestand darin, die Unterkunft der Aes Sedai zu beobachten – ein gewisses Gasthaus mit dem Namen Zum Begrüßungssaal.«

Aufregung ergriff Elayne, und sie setzte sich aufrecht. Duhara Basaheen hatte mehrmals versucht, eine Audienz bei ihr zu bekommen, indem sie diverse Angehörige des Palastpersonals einschüchterte. Allerdings wussten nun alle Bescheid, dass sie nicht vorgelassen werden sollte. Aes Sedai oder nicht, sie war Elaidas Repräsentantin, und Elayne wollte nichts mit ihr zu tun haben.

»Ihr habt sie beobachten lassen«, sagte Elayne interessiert. »Bitte sagt mir, dass Ihr etwas entdeckt habt, mit dem ich diese unerträgliche Frau verbannen kann.«

»Dann macht man mir das nicht zum Vorwurf?«, fragte Meister Norry vorsichtig, noch immer so trocken und unaufgeregt wie immer. Er war noch immer unerfahren, wenn es um Spionage ging.

»Beim Licht, nein«, sagte Elayne. »Ich hätte das selbst anordnen sollen. Ihr habt mich vor diesem Versehen bewahrt, Meister Norry. Falls Eure Entdeckungen gute Neuigkeiten sind, werde ich Euch vermutlich einen Kuss geben.«

Das rief eine Reaktion hervor; er riss entsetzt die Augen auf. Es reichte, um Elayne lachen zu lassen, und auch Birgitte kicherte. Dyelin schien nicht erfreut zu sein. Nun, soweit es Elayne betraf, konnte sie an einem Ziegenfuß saugen.

»Äh… nun ja«, sagte Norry, »das wird nicht nötig sein, Euer Majestät. Ich bin von der Annahme ausgegangen, sollten Schattenfreunde in der Stadt sein, die sich als Aes Sedai ausgeben …« – wie alle anderen hatte er gelernt, Falion und die anderen in Elaynes Gegenwart nicht als Aes Sedai zu bezeichnen – »… wir besser jeden gut im Auge behalten, der angeblich aus der Weißen Burg kommt.«

Elayne nickte eifrig. Norry war aber auch wieder umständlich!

»Ich fürchte, ich muss Euer Majestät enttäuschen«, sagte Norry, dem offensichtlich ihre Aufregung auffiel, »wenn Ihr auf einen Beweis hofft, dass diese Frau ein Schattenfreund ist.«

»Oh.«

»Aber«, fuhr Norry fort und hob einen schmalen Finger, »ich habe Grund zu der Annahme, dass Duhara Sedai etwas mit dem Dokument zu tun haben könnte, das Ihr mit… äh, ungewöhnlicher Sorgfalt zu behandeln scheint.« Er sah auf die Seiten, die Elayne auf den Boden geworfen hatte. Eine Seite zeigte deutlich den Abdruck von ihrem Schuh.

»Duhara hat sich mit Ellorien getroffen?«

»In der Tat«, sagte Meister Norry. »Die Besuche nehmen an Häufigkeit zu. Sie geschehen auch mit einer gewissen Geheimhaltung. «

Elayne sah Dyelin an. »Warum will Duhara, dass meine Rivalen freikommen?«

Dyelin sah beunruhigt aus. »Sie kann doch nicht so dumm sein und glauben, dass sie eine Bewegung gegen Euch auf die Beine stellt, vor allen Dingen mit einer Gruppe gebrochener, bankrotter Lords und Ladys.«

»Euer Majestät?«, fragte Norry. »Falls ich dazu etwas anmerken darf…«

»Natürlich, Meister Norry.«

»Vielleicht will die Aes Sedai die Gunst von Lady Ellorien erringen. Wir wissen nicht mit Sicherheit, dass sie an dem Dokument mitgearbeitet hat; es erscheint lediglich wahrscheinlich, wenn man den Zeitpunkt der Besuche der Aes Sedai in Betracht zieht. Aber vielleicht will sie weniger Eure Feinde unterstützen, als sich vielmehr die Gunst einiger Adliger der Stadt sichern.«

Es war möglich. Duhara würde kaum zur Weißen Burg zurückkehren, ganz egal wie oft Elayne ihr das auch vorschlug. Eine Rückkehr würde Elaida mit leeren Händen und einem feindlichen Andor dastehen lassen. Keine Aes Sedai würde sich so leicht von etwas abbringen lassen. Konnte sie allerdings mit der Loyalität einiger andoranischer Adliger zurückkehren, würde das schon ein gewisser Erfolg sein.

»Als Duhara ihr Gasthaus verließ, um Ellorien in ihrem Haus zu besuchen«, sagte Elayne, »wie war sie gekleidet?« Obwohl Ellorien kurz davon gesprochen hatte, auf ihre Güter zurückzukehren, war sie doch nicht abgereist; möglicherweise war ihr aufgegangen, dass das politisch noch nicht von Nutzen sein würde. Zurzeit lebte sie in ihrem Herrenhaus in Caemlyn.

»Mit einem Umhang, Euer Majestät«, sagte Norry. »Mit tiefgezogener Kapuze.«

»Teuer oder billig?«

»Ich… ich weiß nicht«, erwiderte Norry verlegen. »Ich könnte Meister Hark holen lassen …«

»Das wird nicht nötig sein. Aber sagt mir eines. Ging sie allein?«

»Nein. Ich glaube, sie nahm immer ein relativ großes Kontingent an Dienern mit.«

Elayne nickte. Jede Wette, dass Duhara zwar einen Umhang mit hochgeschlagener Kapuze trug, aber ihren Großen Schlangenring nicht zurückließ und einen erkennbar teuren Umhang und Diener für ihr Täuschungsmanöver benutzte.

»Meister Norry«, sagte sie, »ich fürchte, man hat Euch hereingelegt. «

»Euer Majestät?«

Dyelin nickte. »Sie wollte, dass man ihre Besuche bei Ellorien sieht. Sie wollte keinen offiziellen Besuch machen – damit würde sie sich zu sichtbar gegen Euren Thron stellen. Aber sie wollte, dass Ihr wisst, was sie da tut.«

»Sie spricht unverfroren mit meinen Feinden«, sagte Elayne. »Es ist eine Warnung. Sie hat mir schon gedroht und gesagt, dass es mir nicht gefallen würde, gegen sie und Elaida zu sein.«

»Ah«, sagte Norry enttäuscht. »Also war meine Initiative doch nicht so schlau.«

»Oh, sie war trotzdem nützlich«, sagte Elayne. »Hättet Ihr sie nicht beobachten lassen, hätten wir das nicht gewusst – was peinlich gewesen wäre. Wenn sich schon jemand so viel Mühe macht, mich zu beleidigen, dann will ich das zumindest wissen. Wenn auch nur, damit ich später weiß, wen ich köpfen lasse.«

Norry erbleichte.

»Bildlich gesprochen, Meister Norry«, versicherte sie ihm. So gern sie es auch in Wirklichkeit getan hätte. Und Elaida gleich mit. Sie wagte es, einen ihrer Wachhunde zu schicken, um Elayne zu »beraten«? Elayne schüttelte den Kopf. Beeil dich, Egwene. Wir brauchen dich in der Burg. Die Welt braucht dich dort.

Sie seufzte und wandte sich wieder Norry zu. »Ihr spracht eben von ›mehreren neuen Entwicklungen‹, die meine Aufmerksamkeit erfordern?«

»In der Tat, Euer Majestät«, sagte er und öffnete seine schreckliche Ledermappe. Er holte ein Blatt daraus hervor, das er offensichtlich nicht mit der üblichen Andacht behandelte, die er sonst den dort gesammelten Papieren zukommen ließ. Tatsächlich hielt er es zwischen zwei Fingern in die Höhe, wie ein Mann, der ein totes Tier aus der Gosse hochhielt. »Ihr erinnert Euch sicherlich an Eure Befehle, was Söldnerbanden betrifft?«

Sie verzog das Gesicht. »Ja.« Sie wurde durstig. Missmutig betrachtete sie die Tasse mit warmer Ziegenmilch auf dem Tisch neben ihrem Stuhl. Die Nachrichten über Kämpfe hatten verschiedene Gruppen von Söldnern angelockt, die begierig darauf waren, ihre Dienste anzubieten.

Zum Pech für diese Männer war es nur eine kurze Belagerung gewesen. Neuigkeiten verbreiteten sich schnell, aber müde und hungrige Soldaten reisten langsam. Soldatenkompanien trafen noch immer in einem stetigen Strom ein, und die Männer waren enttäuscht, dass man sie nicht brauchte.

Elayne hatte angefangen, sie wieder wegzuschicken. Dann war ihr klar geworden, wie dumm das war. BeiTarmon Gai’don würde man jeden Mann brauchen, und wenn Andor fünf- oder zehntausend zusätzliche Soldaten für den Konflikt aufbringen konnte, dann wollte sie das auch tun.

Ihr fehlte das Geld, um sie jetzt zu bezahlen, aber sie wollte sie auch nicht verlieren. Also hatte sie Meister Norry und Hauptmann Guybon befohlen, allen Söldnerbanden die gleichen Befehle zu geben. Sie durften nie mehr als eine bestimmte Anzahl ihrer Männer nach Caemlyn hineinschicken, und sie durften nicht näher als eine Meile von der Stadt entfernt lagern.

So konnten sie von der Annahme ausgehen, dass sie sich irgendwann mit ihnen treffen und ihnen Arbeit anbieten würde. Möglicherweise würde sie auch genau das tun, jetzt, da sie sich entschieden hatte, sich auf den Sonnenthron zu setzen. Andererseits hatten die letzten Söldner, die sie in ihre Dienste genommen hatte, sie ziemlich häufig im Stich gelassen.

Wider besseres Wissen nahm sie die Milch und trank einen Schluck. Birgitte nickte zufrieden, aber Elayne verzog das Gesicht. Da war es doch besser, durstig zu bleiben!

»Nun«, sagte Meister Norry und betrachtete das Blatt zwischen seinen Fingern, »einer der Söldnerführer hat sich die Mühe gemacht, Euch einen sehr … vertrauten Brief zu schicken. Ich hätte Euch damit nicht belästigt, aber bei der zweiten Durchsicht erschien es mir, dass Ihr ihn sehen solltet. Die Behauptungen dieses Schurken sind grotesk, aber ich möchte nur ungern derjenige sein, der sie ignoriert hat, sollten sie sich als … äh … wahr erweisen.«

Neugierig griff Elayne nach dem Blatt. Groteske Behauptungen? Sie kannte keine Söldnerführer. Das Gekritzel auf der Seite war schlampig, einige Wörter waren durchgestrichen, und die Schreibweise war manchmal kreativ. Wer auch immer dieser Mann war, sie würde …

Überrascht blinzelte sie, als sie den Schluss erreichte. Dann las sie ihn erneut.

Eure Königliche Nervensäge,


Wir warten verdammt noch mal darauf, mit dir zu sprechen, und langsam sind wir sauer echauviert. (Das heißt ärgerlich.) Thom sagt, du bist jetzt eine Königin, aber ich nehme an, das ändert gar nix, da du dich sowieso immer wie eine Königin benommen hast. Vergiss nicht, dass ich deinen hübschen kleinen Hintern aus einem Loch in Tear geschleift getragen hab, aber du hast dich damals wie eine Königin benommen, also weiß ich wirklich nicht, warum ich jetzt überrascht bin, dass du dich wie eine benimmst, wo du wirklich eine Königin bist.

Also sollte ich dich wohl wie eine verdammte Königin behandeln und dir einen verdammten Brief schreiben und so hochnäsig reden, um deine Aufmergsamkeit zu erregen. Ich hab sogar meinen Ring als Siegel benutzt, wie sich dass das so gehört. Also ist hier meine formelle Salutation. Also HÖR VERDAMMT NOCH MAL DAMIT AUF MICH ABZUWEISEN, damit wir reden können. Ich brauch deine Glockengießer. Es ist verdammt wichtig.

Mat

PS: Salutation heißt grüßen


PPS: Achte nicht auf die durchgestrichenen Wörter und die Schreibfehler. Ich wollte den Brief noch mal schreiben, aber Thom lacht so laut, dass ich keine Lust mehr hab


PPS: Vergiss, dass ich deinen Hintern hübsch genannt hab. Ich hab ihn mir nie genau angesehen, da ich wusste, dass du mir die Augen auskratzt, wenn du mich dabei erwischst. Davon abgesehen bin ich jetzt verheiratet, also spielt das eh keine Rolle mehr.

Elayne wusste nicht, ob sie jubeln oder wütend sein sollte. Mat hielt sich in Andor auf, und Thom war am Leben! Sie waren aus Ebou Dar entkommen. Hatten sie Olver gefunden? Wie waren sie den Seanchanern entwischt?

So viele Fragen und Gefühle stiegen in ihr auf. Birgitte stellte sich aufrecht hin und runzelte die Stirn, als sie die Gefühle mitbekam. »Elayne? Was ist? Hat dich der Mann beleidigt?«

Elayne ertappte sich dabei, wie sie nickte, während sich Tränen in ihren Augen bildeten.

Birgitte fluchte und kam mit großen Schritten auf sie zu. Meister Norry sah entsetzt aus, als bedaure er, den Brief gebracht zu haben.

Sie fing an zu lachen.

Birgitte erstarrte. » Elayne?«

»Alles in Ordnung«, sagte sie, wischte sich die Tränen aus den Augen und zwang sich Luft zu holen. »Oh, beim Licht. Das habe ich gebraucht. Hier, lies.«

Birgitte schnappte sich den Brief, und ihr Gesicht hellte sich auf, als sie las. Sie kicherte. »Du hast einen hübschen Hintern? Das sagt der Richtige. Mat hat einen knackigen Hintern, wie ihn ein Mann nur haben kann.«

»Birgitte!«, sagte Elayne.

»Was? Es stimmt«, sagte die Behüterin und gab ihr den Brief zurück. »Ich finde sein Gesicht viel zu hübsch, aber das heißt nicht, dass ich nicht einen vernünftigen Hintern erkenne, wenn ich ihn sehe. Beim Licht, es wird gut sein, ihn zurückzuhaben! Endlich kann ich mal wieder mit jemandem einen trinken gehen, der mich nicht als seinen verdammten Vorgesetzten betrachtet.«

»Beherrsch dich, Birgitte«, sagte Elayne und faltete den Brief zusammen. Die Unterhaltung schien Norry entsetzt zu haben. Dyelin sagte nichts. Um diese Frau aus der Ruhe zu bringen, brauchte es einiges, und von Birgitte hatte sie schon Schlimmeres gehört.

»Das habt Ihr gut gemacht, Meister Norry«, sagte Elayne. »Danke, dass Ihr mir das gemeldet habt.«

»Ihr kennt diese Söldner tatsächlich?«, fragte er, einen Hauch von Überraschung in der Stimme.

»Das sind keine Söldner. Eigentlich bin ich mir nicht einmal sicher, was sie sind. Freunde. Und Verbündete, wie ich hoffe.« Warum hatte Mat die Bande der Roten Hand nach Andor gebracht? Waren sie Rand loyal ergeben? Konnte sie sie benutzen? Mat war ein Schurke, aber er hatte ein seltsam gutes Auge für Taktik und das Kriegshandwerk. Ein Soldat unter seinem Kommando sollte zehn von dem Söldnerabschaum wert sein, den sie kürzlich gezwungen war anzuheuern.

»Ich entschuldige mich für meinen Fehler, Euer Majestät«, sagte Norry. »Ich hätte Euch früher darüber in Kenntnis setzen sollen. Meine Informanten sagten mir, dass diese Gruppe kürzlich in den Diensten der Krone von Murandy stand, also missachtete ich das Beteuern ihres Anführers, er sei kein Söldner.«

»Ihr habt das Richtige getan, Meister Norry«, sagte Elayne, die noch immer amüsiert und beleidigt war. Seltsam, wie oft man zwischen den beiden Gefühlen wandelte, wenn es um Matrim Cauthon ging. »Das Licht weiß, dass ich genug zu tun hatte. Aber bitte, wenn jemand behauptet, mich persönlich zu kennen, sagt es zumindest Birgitte.«

»Ja, Euer Majestät.«

»Arrangiert ein Treffen mit Meister Cauthon«, sagte sie und wünschte sich im Stillen, die Zeit zu haben, um ihm mit einem Brief zu antworten, der mindestens genauso beleidigend wie der seine war. »Sagt ihm, er muss Thom mitbringen. Um … ihn an die Kandare zu nehmen.«

»Wie Ihr wünscht, Euer Majestät«, sagte Norry mit einer steifen Verbeugung. »Wenn ich mich zurückziehen darf…«

Sie nickte dankend, und er ging, zog hinter sich die Tür zu. Elayne hielt Mats Brief nachdenklich zwischen den Fingern. Konnte sie Mat irgendwie dazu benutzen, ihr bei ihren Schwierigkeiten mit Ellorien zu helfen? So wie sie die Grenzländer benutzt hatte? Oder war das zu offensichtlich?

»Was soll das mit den Glockengießern, was glaubst du?«, fragte Birgitte.

»Es könnte etwa so Simples sein, wie eine neue Glocke für sein Lager zu brauchen, die die Stunde schlägt.«

»Aber du glaubst nicht, dass es so einfach ist.«

»Es geht um Mat«, sagte Elayne. »Er hat so eine Art, die Dinge zu komplizieren, und wie er diesen Satz schrieb, riecht das nach einem seiner Pläne.«

»Das ist wahr. Und wenn es bloß um eine Glocke ginge, könnte er genug gewinnen, um nach einer Stunde Würfeln eine bezahlen zu können.«

»Ach, hör auf«, sagte Elayne. »So viel Glück hat er nun auch wieder nicht.«

Birgitte schnaubte in ihren Tee. »Du musst besser aufpassen, Elayne. Der Mann könnte mit dem Dunklen König würfeln und gewinnen.«

Elayne schüttelte den Kopf. Soldaten, Birgitte eingeschlossen, konnten so abergläubisch sein. »Sorg dafür, dass ein paar zusätzliche Gardistinnen Dienst haben, wenn er kommt. Er kann überschwänglich sein, und ich will nicht, dass er eine Szene macht.«

» Wer ist dieser Mann?« Dyelin klang verwirrt.

»Einer der anderen beiden Ta’veren, die zusammen mit Rand al’Thor aufwuchsen«, sagte Birgitte und stürzte ihren Tee hinunter. Während Elaynes Schwangerschaft trank sie nicht mehr. So musste wenigstens noch eine andere leiden.

»Mat ist… voller Tatendrang«, sagte Elayne. »Wenn man ihn in die richtigen Bahnen lenkt, kann er sehr nützlich sein. Wenn nicht – was meistens so ist -, kann er eine wandelnde Katastrophe sein. Aber was man auch immer über den Mann sagen will, er und seine Bande wissen, wie man kämpft.«

»Du wirst sie benutzen, nicht wahr?«, sagte Birgitte anerkennend.

»Natürlich«, erwiderte Elayne. »Und wenn ich mich richtig erinnere, hat Mat einmal gesagt, dass er viele Cairhiener in der Bande hat. Wenn ich mit diesem Teil der Bande als Abteilung meines Heeres eintreffe, wird die Übernahme vielleicht einfacher.«

»Also wollt Ihr das wirklich tun?«, fragte Dyelin. »Den Sonnenthron ergreifen? Jetzt?«

»Die Welt braucht Einheit«, sagte Elayne und stand auf. »Mit Cairhien fange ich an, uns alle zu vereinen. Rand kontrolliert bereits Illian und Tear und hat einen Bund mit den Aiel. Wir sind alle miteinander verbunden.«

Sie schaute nach Westen, wo sie das Bündel an Gefühlen fühlte, das Rand darstellte. Das Einzige, das sie in diesen Tagen je von ihm wahrnahm, war tief vergrabener, kalter Zorn. War er in Arad Doman?

Elayne liebte ihn. Aber sie beabsichtigte nicht, dabei zuzusehen, wie Andor ein weiterer beliebiger Teil des Drachenimperiums wurde. Davon abgesehen, falls Rand tatsächlich am Shayol Ghul starb, wer würde dieses Imperium beherrschen? Es konnte zerbrechen, aber sie sorgte sich, dass jemand – möglicherweise Darlin – stark genug sein würde, um alles zusammenzuhalten. In diesem Fall stünde Andor allein zwischen einem aggressiven seanchanischen Reich im Südwesten, Rands Nachfolger im Nordwesten und Südosten und den vereinigten Grenzlanden im Norden und Nordosten.

Das konnte sie nicht zulassen. Die Frau in ihr zuckte bei dem Gedanken zusammen, für den Fall von Rands Tod zu planen, aber die Königin konnte nicht so zimperlich sein. Die Welt veränderte sich.

»Mir ist klar, dass es schwierig werden wird, zwei Nationen zu regieren«, sagte sie. »Aber ich muss Cairhien halten. Zum Wohl beider Throne.«

Sie drehte sich um und erwiderte Dyelins Blick, und die ältere Frau nickte langsam. »Anscheinend habt ihr Euch entschieden. «

»Das habe ich«, sagte Elayne. »Aber ich habe das Gefühl, dass ich einen verlässlichen Zugang zum Schnellen Reisen brauche, wenn ich das schaffen soll. Vereinbart ein Treffen mit Sumeko und Alise. Wir müssen über die Zukunft der Kusinen sprechen.«

Загрузка...