46 Lederarbeiten

Androl holte vorsichtig das ovale Lederstück aus dem dampfenden Wasser; es war dunkel geworden und krümmte sich. Er nahm es vorsichtig mit seinen schwieligen Fingern. Das Leder war jetzt elastisch.

Schnell setzte er sich an seinen Arbeitstisch. Durch das Fenster auf seiner rechten Seite kam ein Rechteck Sonnenlicht herein. Er wickelte das Leder um einen dicken, ungefähr zwei Zoll breiten Holzstab, dann bohrte er Löcher in den Rand.

Danach nähte er das Leder an ein anderes Stück, das er bereits vorbereitet hatte. Eine ordentliche Naht an der Kante würde es am Ausfransen hindern. Viele Lederhandwerker nahmen es mit den Nähten nicht so genau. Androl war da anders. Die Nähte waren immer das Erste, das den Leuten auffiel; sie stachen hervor wie die Farbe an der Wand.

Während er arbeitete, trocknete das Leder und verlor etwas von seiner Geschmeidigkeit, aber es war immer noch beweglich genug. Er setzte die Stiche sauber und gleichmäßig. Er zog die letzten fest und benutzte sie, um das Leder um den Holzstab zu binden; er würde sie abschneiden, nachdem das Leder getrocknet war.

Da die Nähte nun fertig waren, fügte er ein paar Verzierungen hinzu. Oben drauf einen Namen, den er mit seinem kleinen Hammer und den Buchstabenstempeln anfertigte. Dann kamen die Symbole von Schwert und Drache; die Vorlagen hatte er selbst nach dem Vorbild der Anstecknadeln der Asha’man hergestellt.

Unten stempelte er mit den kleineren Werkzeugen die Worte »Verteidigen-Bewachen – Beschützen« ein. Während das Leder weiter trocknete, holte er Farben und Tuch, um Buchstaben und Zeichen sorgfältig zu kolorieren, damit sie einen deutlichen Kontrast bildeten.

Diese Arbeit brachte eine gewisse Beschaulichkeit mit sich; ein so großer Teil seines Lebens drehte sich in letzter Zeit allein um Zerstörung. Ihm war klar, dass das nicht anders möglich war. Er war hauptsächlich zur Schwarzen Burg gegangen, weil ihm völlig klar war, was da auf sie zukam. Trotzdem war es nett, auch einmal etwas Konstruktives zu tun.

Er legte das Werkteil beiseite, damit es trocknen konnte, und widmete sich in der Zwischenzeit ein paar Sattelriemen. Er maß die Riemen an den auf seinem Tisch angebrachten Markierungen ab, dann griff er nach der Schere im Werkzeugbeutel, der an der Tischkante herabhing – er hatte sie selbst hergestellt. Zu seiner Verärgerung entdeckte er, dass sie nicht an Ort und Stelle war.

Verflucht soll der Tag sein, an dem sich herumgesprochen hat, dass ich gute Scheren habe, dachte er. Trotz Taims angeblich so strengen Regeln in der Schwarzen Burg herrschte hier ein beunruhigendes Maß an Chaos. Grobe Verstöße wurden hart bestraft, aber die kleinen Dinge – wenn zum Beispiel jemand die Werkstatt eines Mannes betrat und sich seine Schere »borgte« – ignorierte man. Vor allem, wenn es sich bei dem, der sich etwas ausborgte, um einen der Favoriten des M’Hael handelte.

Androl seufzte. Sein Gürtelmesser wartete in Cuellars Werkstatt aufs Schärfen. Nun gut. Taim erzählt uns doch ständig, wir sollten nach Entschuldigungen für das Machtlenken suchen … Androl machte sich von sämtlichen Gefühlen frei, dann ergriff er die Quelle. Es war Monate her, seit ihm das schwergefallen war – zuerst hatte er die Eine Macht nur lenken können, wenn er dabei einen Lederriemen hielt. Das hatte ihm der M’Hael herausgeprügelt. Es war kein erfreuliches Lernen gewesen.

Saidin floss in ihn hinein, süß, mächtig und wunderschön. Einen langen Augenblick saß er einfach nur da und genoss es. Der Makel war verschwunden. Welch ein Wunder. Er schloss die Augen und atmete tief ein.

Wie würde es wohl sein, so viel von der Einen Macht in sich aufnehmen zu können wie die anderen? Manchmal dürstete er förmlich danach. Er wusste, dass er schwach war – von den Geweihten der Schwarzen Burg war er der Schwächste. Möglicherweise sogar so schwach, dass man ihn eigentlich niemals hätte befördern sollen. Logain war deshalb zum Lord Drachen gegangen und hatte die Beförderung gegen Taims ausdrücklichen Wunsch durchgesetzt.

Androl öffnete die Augen, hielt den Riemen hoch und webte ein winziges Wegetor von einem Zoll Durchmesser. Es erwachte vor ihm grell zum Leben und schnitt den Riemen in zwei Stücke. Er lächelte, dann ließ er es verschwinden und wiederholte den Prozess.

So manch einer behauptete, dass Logain Androls Beförderung nur erzwungen hatte, um Taims Autorität zu untergraben. Aber Logain zufolge war es allein um Androls unglaubliches Talent mit Wegetoren gegangen, das ihm den Titel eines Geweihten verschafft hatte. Logain war ein harter Mann, dessen Ränder zerbrochen waren, wie eine alte Schwertscheide, die man nicht anständig lackiert hatte. Aber in dieser Scheide steckte noch immer ein tödliches Schwert. Logain war ehrlich. Unter der Abnutzung ein guter Mann.

Androl stellte die Riemen fertig. Dann ging er hinüber und durchschnitt die Schnur, die das ovale Lederstück festzurrte. Es behielt seine Form bei, und er hielt es ins Sonnenlicht und musterte die Nähte. Das Leder war steif, ohne brüchig zu sein. Er schob es sich auf den Unterarm. Ja, die Form war gut.

Er nickte. Einer der Tricks des Lebens bestand darin, auf die Kleinigkeiten zu achten. Sich zu konzentrieren, die kleinen Dinge richtig zu machen. War jeder Stich auf einem Armschutz ordentlich gesetzt, würde er weder ausfransen noch reißen. Für einen Bogenschützen machte das möglicherweise den Unterschied aus, eine Salve zu beenden oder den Bogen wegstellen zu müssen.

Ein Bogenschütze machte keinen Unterschied in einer Schlacht. Aber die kleinen Dinge addierten sich, eines nach dem anderen, bis sie zu großen Dingen wurden. Er stellte den Armschutz fertig, indem er auf der Hinterseite ein paar Schnüre anbrachte, damit man ihn am Arm festschnallen konnte.

Er nahm den schwarzen Mantel von der Stuhllehne. Der silberne Schwertanstecker am hohen Kragen funkelte im durch das Fenster fallenden Licht, als er ihn zuknöpfte. Er betrachtete sich im Spiegelbild der Scheibe und vergewisserte sich, dass der Mantel ordentlich saß. Kleine Dinge waren wichtig. Sekunden waren kleine Dinge, und wenn man sie anhäufte, verwandelten sie sich in das Leben eines Mannes.

Er legte den Armschutz an, dann stieß er die Tür der kleinen Werkstatt auf und betrat das äußere Viertel des zur Schwarzen Burg gehörenden Dorfes. Hier hatte man die zweistöckigen Gebäude so zu kleinen Gruppen angeordnet, wie es in den Kleinstädten von Andor üblich war. Strohgedeckte Spitzdächer, gerade Holzwände, dazu noch etwas Stein und Ziegel. Eine doppelte Reihe führte direkt zum Dorfzentrum. Wenn man sich umsah, hätte man den Eindruck gewinnen können, durch Neubraem oder Grafendale zu spazieren.

Natürlich hätte man dazu die Männer in den schwarzen Mänteln ignorieren müssen. Sie waren überall, erledigten Besorgungen für den M’Hael, gingen zu ihrem Unterricht, arbeiteten am Fundament der Schwarzen Burg. Dieser Ort war noch immer ein unvollendetes Werk. Eine Gruppe Soldaten – sie durften weder den Schwertanstecker noch den rotgoldenen Drachen tragen – grub mit der Einen Macht eine lange Mulde in den Boden neben der Straße. Man hatte entschieden, dass das Dorf einen Kanal brauchte.

Androl konnte die Gewebe sehen, hauptsächlich Erde, die um die Soldaten umherwirbelten. In der Schwarzen Burg erledigte man so viel wie möglich mit der Einen Macht. Ununterbrochen übte man, so wie Männer Steine stemmten, um kräftiger zu werden. Beim Licht, wie Logain und Taim diese Jungen antrieben.

Androl blieb auf der kürzlich mit Schotter versehenen Straße. Der Schotter wies größtenteils geschmolzene Kanten auf, weil man ihn mit Feuer hergestellt hatte. Sie hatten mithilfe von Geweben aus Luft Felsen durch Wegetore hergeschafft und dann mit explosiven Geweben zerschmettert. Es war wie auf einem Schlachtfeld gewesen, berstender Stein, durch die Luft wirbelnde Splitter. Mit dieser Macht und der dazugehörigen Übung würden die Asha’man dazu in der Lage sein, sämtliche Stadtmauern in Trümmer zu verwandeln.

Androl ging weiter. Die Schwarze Burg war ein Ort seltsamer Anblicke, und geschmolzener Schotter war bei weitem nicht das Seltsamste. Genauso wenig wie die Soldaten, die den Boden aufrissen und Androls sorgfältigen Vermessungen folgten. Für ihn war der seltsamste Anblick in letzter Zeit die Kinder. Sie liefen umher und spielten, sprangen in die Mulde, die die Soldaten gegraben hatten, rutschten die steilen Wände hinunter und kletterten wieder nach oben.

Kinder. Die in von Saidin-Explosionen erschaffenen Löchern spielten. Die Welt veränderte sich. Androls Großmutter, die so alt gewesen war, dass sie keinen Zahn mehr im Mund gehabt hatte, hatte ihm mit Geschichten über Männer, die die Macht lenken, so viel Angst eingejagt, dass er sich in Nächten, in denen er aus dem Haus schleichen wollte, um die Sterne zu betrachten, zitternd in sein Bett verkrochen hatte. Die Dunkelheit draußen hatte ihm keine Angst machen können, genauso wenig wie die Geschichten über Trollocs und Blasse. Aber Männer, die die Macht lenkten… das hatte ihm Höllenängste eingejagt.

Und jetzt war er hier, in seinen mittleren Jahren, hatte plötzlich Angst vor der Dunkelheit, fühlte sich aber wohl unter Männern, die die Macht lenkten. Kies knirschte unter seinen Stiefeln. Die Kinder kletterten auf allen vieren aus der Grube und scharten sich um ihn. Ohne großes Aufheben holte er eine Handvoll Süßigkeiten aus der Tasche, die er bei der letzten Kundschaftermission gekauft hatte.

»Jeder zwei«, sagte er streng, als schmutzige Hände nach den Süßigkeiten griffen. »Und es wird nicht geschubst, klar?« Hände flogen zu den Mündern, und die Kinder nickten dankend und nannten ihn »Meister Genhaid«, bevor sie fortliefen. Sie gingen nicht zurück zum Graben, sondern erfanden ein neues Spiel, rannten zu den Feldern im Osten.

Lächelnd rieb sich Androl die Hände sauber. Kinder waren so anpassungsfähig. Bei ihnen konnten Jahrhunderte der Tradition, des Schreckens und des Aberglaubens dahinschmelzen wie zu lange in der Sonne liegen gelassene Butter. Aber es war gut, dass sie aus dem Graben verschwunden waren. Die Eine Macht konnte unberechenbar sein.

Nein. Das war so nicht richtig. Saidin war völlig berechenbar. Die Männer hingegen, die es lenkten … Nun, das war eine ganz andere Geschichte.

Die Soldaten hielten in ihrer Arbeit inne und wandten sich ihm zu. Er war kein vollwertiger Asha’man, darum stand ihm auch kein Gruß zu, aber sie erwiesen ihm ihren Respekt. Fast schon zu viel. Er war sich nicht so richtig darüber im Klaren, warum sie das taten. Er war kein großer Mann, vor allen Dingen nicht hier in der Schwarzen Burg.

Trotzdem nickten sie ihm beim Vorbeigehen zu. Die meisten von ihnen gehörten zu den Rekruten von den Zwei Flüssen. Alles stämmige Burschen, alle eifrig, auch wenn viele von ihnen noch ziemlich jung waren. Die Hälfte von ihnen musste sich nicht häufiger als einmal in der Woche rasieren. Androl begab sich zu ihnen, inspizierte ihre Arbeit, musterte die Reihen aus Schnüren, die er an kleine Holzpflöcke gebunden hatte. »Der Winkel ist gut, Jungs«, sagte er. »Aber macht die Seiten steiler, wenn ihr könnt.«

»Ja, Meister Genhaid«, sagte der Mann, der die Gruppe anführte. Jaim Torfinn war sein Name, ein dürrer junger Mann mit hellbraunen Haaren. Er hielt noch immer die Macht. Der tobende Strom aus Kraft war so verführerisch. Nur selten gab es Männer, die ihn ohne ein tief empfundenes Gefühl des Verlusts loslassen konnten.

Der M’Hael ermunterte sie, sie festzuhalten, behauptete, dass sie auf diese Weise besser lernten, sie zu kontrollieren. Aber Androl hatte schon zuvor ähnlich verführerische Gefühle wie Saidin kennengelernt – die Erregung in einer Schlacht, den Rausch selten genossener Getränke von den Inseln des Meervolks, das siegestrunkene Gefühl eines Erfolges. Ein Mann konnte sich von diesen Gefühlen leicht beherrschen lassen und die Selbstkontrolle verlieren, sich darin vergessen. Und Saidin war verführerischer als alles, was er je zuvor erlebt hatte.

Er hatte Taim nichts von seinen Vorbehalten gesagt. Es war nicht seine Angelegenheit, den M’Hael zu belehren.

»Lasst mich euch zeigen, was ich mit gerade meine«, sagte Androl. Er holte tief Luft, dann machte er sich von allen Gefühlen frei. Dazu benutzte er den alten Soldatentrick – den hatte ihm sein erster Fechtlehrer beigebracht, der alte und einarmige Garfin, dessen schwerer ländlicher illianischer Akzent so gut wie unverständlich gewesen war. Natürlich hatte Androl selbst einen leichten tarabonischen Akzent, wie man ihm gesagt hatte. Aber der war in den Jahren, seit er das letzte Mal in seiner Heimat gewesen war, verblichen.

Innerhalb des Nichts fühlte Androl die tobende Macht von Saidin. Er griff danach, wie ein Mann nach dem Hals eines galoppierenden Pferdes griff in der Hoffnung, es ein bisschen lenken zu können, sich aber in Wahrheit bloß festzuklammern versuchte.

Saidin war großartig. Ja, es war mächtiger als jedes Rauschmittel. Es machte die Welt schöner, praller. Als Androl diese schreckliche Macht hielt, hatte er das Gefühl, zum Leben erwacht zu sein, die trockene Hülle seines ehemaligen Selbst zurückgelassen zu haben. Sie drohte, ihn mit ihrem rasenden Strom davonzutragen.

Er arbeitete schnell, webte ein winziges Rinnsal Erde – so gut er das vermochte, denn in Erde war er am schwächsten und schnitt die Kanalseiten sorgfältig zurecht. »Wenn ihr zu viele Vorsprünge übrigiast«, erklärte er, während er arbeitete, »dann wird der Kanalfluss schlammig bleiben, weil die Erde an den Seiten fortgeschwemmt wird. Je gerader und fester die Seiten sind, umso besser. Seht ihr?«

Die Soldaten nickten. Ihre Stirn war schweißbedeckt, überall im Gesicht klebte Schmutz. Aber ihre schwarzen Mäntel waren sauber, vor allem die Ärmel. Man konnte den Respekt eines Mannes für seine Uniform daran ablesen, ob er sich an Tagen wie diesen die Stirn mit dem Ärmel abwischte oder nicht. Die Jungs aus den Zwei Flüssen benutzten Taschentücher.

Die älteren Asha’man schwitzten natürlich selten. Die jungen Burschen hier würden noch viel üben müssen, bevor ihnen das gelang, während sie sich so stark konzentrierten.

»Gut gemacht«, sagte Androl, richtete sich auf und musterte sie. Er legte Jaim die Hand auf die Schulter. »Ihr Jungs leistet gute Arbeit. Die Zwei Flüsse bringen anständige Männer hervor.«

Die Jungs strahlten. Es war gut, sie hier zu haben, vor allem wenn man sie mit der Qualität der Männer verglich, die Taim in letzter Zeit rekrutiert hatte. Die Späher des M’Hael behaupteten, jeden zu nehmen, den sie finden konnten, aber warum kamen sie hauptsächlich mit Leuten zurück, die ein so wütendes, unausgeglichenes Gemüt aufwiesen?

»Meister Genhaid?«, fragte einer der Soldaten.

»Ja, Trost?«

»Habt Ihr … habt Ihr etwas von Meister Logain gehört?«

Die anderen sahen hoffnungsvoll aus.

Androl schüttelte den Kopf. »Er ist noch nicht von seiner Aufklärungsmission zurückgekehrt. Ich bin sicher, er ist bald zurück.«

Die Jungs nickten, obwohl ihm nicht entging, dass sie anfingen, sich Sorgen zu machen. Dazu hatten sie auch allen Grund. Androl sorgte sich schon seit Wochen. Seit Logain mitten in der Nacht aufgebrochen war. Warum hatte er Donalo, Mezar und Welyn – drei der mächtigsten ihm ergebenen Geweihten – mitgenommen?

Und jetzt kampierten diese Aes Sedai dort draußen, die angeblich der Drache geschickt hatte, damit sie mit Asha’man den Behüterbund eingingen. Taim hatte das mit seinem schmalen Lächeln kommentiert, das nie die Augen erreichte, und ihnen gesagt, dass die Gruppe aus der Weißen Burg die erste Wahl hatte, da sie zuerst gekommen waren. Die anderen warteten ungeduldig.

»Der M’Hael«, sagte einer der Männer aus den Zwei Flüssen finster, »er…«

»Behaltet einen klaren Kopf«, unterbrach Androl ihn, »und schlagt keine Wellen. Noch nicht. Wir warten auf Logain.«

Die Männer seufzten, nickte dann aber. Durch die Unterhaltung abgelenkt, hätte Androl beinahe nicht bemerkt, dass Schatten auf ihn zukrochen. Die Schatten von Männern, die im Sonnenlicht länger wurden. Schatten im Graben. Schatten von Steinen und Rissen in der Erde. Langsam und hinterhältig wandten sie sich Androl zu. Androl stählte sich, konnte die aufsteigende Panik aber nicht vertreiben. Diesen einzigen Schrecken, den er trotz des Nichts verspürte.

Sie kamen immer dann, wenn er zu lange an Saidin festhielt. Er ließ sofort los, und die Schatten krochen zögernd dorthin zurück, wo sie hingehörten.

Die Jungs von den Zwei Flüssen beobachteten ihn, und ihnen war deutlich ihr Unbehagen anzusehen. Konnten sie den wilden Blick in Androls Augen sehen? Niemand sprach von den … Unregelmäßigkeiten, die die Männer der Schwarzen Burg befielen. Das gehörte sich einfach nicht. So wie man auch keine schmutzigen Familiengeheimnisse weiterflüsterte.

Der Makel war beseitigt worden. Diese Jungs würden niemals die Dinge fühlen müssen, die er fühlte. Irgendwann würden er und die anderen, die sich vor der Reinigung der Burg angeschlossen hatten, zu einer Seltenheit werden. Beim Licht, er konnte wirklich nicht verstehen, warum jemand auf ihn hören sollte. Schwach in der Macht und obendrein wahnsinnig?

Und das Schlimmste daran war, dass er tief in seinem Inneren genau wusste, dass diese Schatten real waren. Sie waren kein Wahnsinn, den sein Verstand hervorrief. Sie waren real, und sie würden ihn vernichten, falls sie ihn jemals erreichten. Sie waren real. Sie mussten es sein.

Ach beim Licht, dachte er und biss die Zähne zusammen. Jede Möglichkeit ist furchteinflößend. Entweder bin ich verrückt, oder die Dunkelheit selbst will mich vernichten.

Darum konnte er nachts nicht länger schlafen, ohne Angst zu haben. Manchmal konnte er die Quelle stundenlang umarmen, ohne die Schatten zu sehen. Manchmal nur Minuten. Er holte tief Luft.

»Also gut«, sagte er und war zufrieden, dass zumindest seine Stimme kontrolliert klang, »macht euch wieder an die Arbeit. Aber achtet darauf, dass diese Neigung in die richtige Richtung verläuft. Sonst haben wir eine Menge Arbeit, falls das Wasser über das Ufer steigt und diese Gegend überflutet.«

Als sie gehorchten, verließ Androl sie und ging weiter durch das Dorf. Nahe dem Zentrum standen die Unterkünfte, fünf große Gebäude aus dickem Stein für die Soldaten, ein Dutzend kleinerer Gebäude für die Geweihten. Im Augenblick war dieses kleine Dorf die Schwarze Burg. Das würde sich noch ändern. In der Nähe baute man an einem richtigen Turm, dessen Fundament bereits gegraben war.

Er konnte sich genau vorstellen, wie dieser Ort eines Tages aussehen würde. Er hatte einmal bei einem Meisterarchitekten gearbeitet – eine der Dutzend verschiedenen Lehren, die er in einem Leben absolviert hatte, das manchmal viel zu lang erschien. Ja, er konnte es vor seinem inneren Auge sehen. Einen alles dominierenden schwarzen Steinturm, errichtet mit der Macht. Stark, robust. Und unten an seinem Fundament würde es kantige rechteckige Bauten mit Zinnen geben.

Dieses Dorf würde zu einer Kleinstadt wachsen, dann zu einer Stadt so groß wie Tar Valon. Man hatte die Straßen groß genug angelegt, damit mehrere Wagen einander passieren konnten. Neue Viertel wurden ausgemessen und angelegt. Alles verriet Vision und Planung. Die Straßen selbst flüsterten vom Schicksal der Schwarzen Burg.

Androl folgte einem niedergetretenen Pfad durch kurzes Gras. In der Ferne hallten laute Geräusche über die Ebenen, als würde man riesige Peitschen schlagen. Jeder Mann kam aus seinen ureigenen Gründen her. Rache, Neugier, Verzweiflung, Machtgier. Aus welchem Grund war er hier? Vielleicht alle vier?

Er verließ das Dorf, umrundete schließlich ein paar Baumgruppen und kam zum Schießstand – einer kleinen Schlucht zwischen zwei Hügeln. Dort lenkten Männer Feuer und Erde. Die Hügel mussten abgetragen werden, damit man Land für Ackerbau gewann. Eine Gelegenheit zur Ausbildung.

Bei diesen Männern handelte sich hauptsächlich um Geweihte. Gewebe wirbelten durch die Luft; sie waren weitaus geschickter und mächtiger als die der Jungen von den Zwei Flüssen. Sie waren schneidig, wie zischende Schlangen oder fliegende Pfeile. Felsen explodierten, Erdwolken schossen in die Luft. Die Sprengungen geschahen in einem unvorhersehbaren Muster, um den Feind zu verwirren. Androl konnte sich mühelos vorstellen, wie eine Gruppe Kavalleristen diesen Hügel hinunterpreschte, nur um von explodierendem Erdreich überrascht zu werden. Ein einzelner Geweihter vermochte in wenigen Augenblicken Dutzende Reiter auszulöschen.

Androl bemerkte unzufrieden, dass die dort arbeitenden Männer in zwei Gruppen standen. In der Burg fand eine langsame Spaltung statt, jene, die loyal zu Logain standen, wurden gemieden und geächtet. Auf der rechten Seite arbeiteten Canler, Emarin und Nalaam konzentriert und entschlossen, verstärkt von Jonneth Dowtry – dem fähigsten Soldaten von den Zwei Flüssen. Links stand eine Gruppe von Taims Kumpanen und lachte hämisch. Ihre Gewebe waren viel wilder, aber auch zerstörerischer. Weiter hinten lungerte Coteren herum, lehnte an einem Baum und überwachte alles.

Die Männer legten eine Pause ein und riefen einen Dorfjungen herbei, der ihnen Wasser bringen sollte. Arien Nalaam sah Androl als Erster und winkte ihn mit einem breiten Lächeln herbei. Der Domani trug einen schmalen Schnurrbart. Er war gerade mal dreißig Jahre alt, obwohl er sich manchmal viel jünger benahm. Androl ärgerte sich noch immer über das eine Mal, als Nalaam ihm Baumharz in die Stiefel gekippt hatte.

»Androl!«, rief Nalaam. »Kommt her und erzählt diesen unerfahrenen Burschen, was ein Retashen Dazer ist!«

»Ein Retashen Dazer?«, fragte Androl. »Das ist ein Getränk. Eine Mischung aus Met und Schafsmilch. Übles Zeug.«

Nalaam sah die anderen stolz an. Er trug keine Anstecknadeln an seinem Mantel. Er war nur Soldat, obwohl er mittlerweile längst weiter hätte sein müssen.

»Prahlt Ihr wieder über Eure Reisen, Nalaam?«, fragte Androl und schnürte den Armschutz ab.

»Wir Domani kommen eben herum«, erwiderte Nalaam. »Ihr wisst schon, die Art von Arbeit, die mein Vater macht, die Spionage für die Krone …«

»Letzte Woche habt Ihr behauptet, Euer Vater sei Kaufmann«, sagte Canler. Der stämmige Mann war der älteste der Gruppe; sein Haar wurde bereits grau, das kantige Gesicht war von vielen Jahren in der Sonne ganz faltig.

»Das ist er auch«, erwiderte Nalaam. »Das ist ja seine Tarnung als Spion!«

»Sind in Arad Doman nicht Frauen die Kaufleute?«, fragte Jonneth und rieb sich das Kinn. Er war ein großer, stiller Mann mit einem runden Gesicht. Seine ganze Familie – seine Geschwister, seine Eltern und sein Großvater Buel – waren ins Dorf umgezogen, statt ihn allein ziehen zu lassen.

»Nun, sie sind die Besten«, sagte Nalaam, »und meine Mutter ist da keine Ausnahme. Aber wir Männer wissen auch ein oder zwei Dinge. Und weil meine Mutter die Tuatha’an infiltrieren musste, musste sich mein Vater um das Geschäft kümmern.«

»Also jetzt wird es aber lächerlich!« Canler runzelte die Stirn. »Warum sollte man sich bei einer Horde Kesselflicker einschleichen?«

»Um ihre Geheimrezepte zu erfahren. Es heißt, dass ein Kesselflicker einen so großartigen Eintopf kochen kann, dass man Haus und Herd verlässt, um sich ihnen anzuschließen. Es stimmt, ich habe ihn selbst probiert, und man musste mich danach drei Tage lang in einem Schuppen fesseln, bevor die Wirkung nachließ.«

Canler schnaubte. Aber einen Augenblick später fragte er: »Und … hat sie das Rezept erfahren?«

Nalaam setzte zur nächsten Geschichte an, und Canler und Jonneth hörten aufmerksam zu. Emarin sah ihnen amüsiert zu – er war der andere Soldat ohne Anstecknadeln in der Gruppe. Der bereits ältere Mann hatte dünnes Haar und Falten um die Augen. Sein weißer Bart war zu einer Spitze zugeschnitten.

Der distinguierte Mann war in vielerlei Hinsicht rätselhaft; Logain hatte ihn eines Tages mitgebracht und nichts über seine Vergangenheit verraten. Er benahm sich ausgesprochen selbstsicher und drückte sich gewählt aus. Er war ein Adliger, da gab es keinen Zweifel. Aber im Gegensatz zu den meisten anderen Adligen in der Schwarzen Burg versuchte er nicht, auf seine angemaßte Autorität zu pochen. Viele Adlige brauchten Wochen, bis sie begriffen hatten, dass die Aufnahme in die Schwarze Burg jede gesellschaftliche Position bedeutungslos machte, die man in der Außenwelt innehatte. Das machte sie mürrisch und barsch, aber Emarin hatte sich sofort an das Leben in der Burg gewöhnt.

Es brauchte schon einen Adligen mit wahrer Würde, um die Befehle eines Kommandanten klaglos auszuführen, der nur halb so alt wie man selbst war. Emarin trank einen Schluck Wasser, das der Junge gebracht hatte, bedankte sich bei ihm und begab sich dann zu Androl. Er wies mit dem Kopf auf Nalaam, der die anderen noch immer unterhielt. »Er hat das Herz eines Gauklers.«

Androl grunzte. »Vielleicht kann er sich damit ja etwas hinzuverdienen. Er schuldet mir immer noch ein Paar neue Socken.«

»Und Ihr habt die Seele eines Sekretärs, mein Freund!« Emarin lachte. »Ihr vergesst niemals etwas, oder?« Androl zuckte mit den Schultern.

»Woher wusstet Ihr, was ein Retashen Dazer ist? Ich halte mich in diesen Dingen für recht bewandert, aber ich hatte noch nie davon gehört.«

»Ich habe einmal einen getrunken«, erwiderte Androl. »Es war eine Wette.«

»Ja, aber wo?«

»In Retash, natürlich.«

»Aber das ist Meilen von der Küste entfernt, auf einer Inselgruppe, die nicht einmal das Meervolk oft besucht!«

Androl zuckte erneut mit den Schultern. Er warf einen Blick auf Taims Kumpane. Ein Dorfjunge hatte ihnen von Taim beauftragt einen Fresskorb gebracht, obwohl der M’Hael behauptete, keine Favoriten zu haben. Hätte Androl gefragt, hätte er herausgefunden, dass ein Junge auch den anderen etwas zu essen hätte bringen sollen. Aber dieser Junge hätte das dann vergessen oder einen anderen harmlosen Fehler gemacht. Taim hätte jemanden auspeitschen lassen, und nichts hätte sich geändert.

»Diese Spaltung ist beunruhigend, mein Freund«, sagte Emarin leise. »Wie sollen wir für den Lord Drachen kämpfen, wenn wir nicht einmal untereinander Frieden halten können?«

Androl schüttelte den Kopf.

Emarin fuhr fort. »Angeblich hat schon seit Wochen kein von Logain geförderter Mann die Drachennadel erhalten. Es gibt viele wie Nalaam hier, die schon vor langer Zeit die Schwertnadel hätten bekommen müssen, was der M’Hael aber wiederholt abgelehnt hat. Ein Haus, dessen Angehörige sich um die Autorität streiten, wird niemals eine Bedrohung für andere Häuser sein.«

»Weise Worte«, erwiderte Androl. »Aber was sollen wir tun? Was können wir tun? Taim ist der M’Hael, und Logain ist noch nicht wieder zurückgekehrt.«

»Vielleicht könnten wir ja jemanden zu ihm schicken«, schlug Emarin vor. »Oder vielleicht könntet Ihr die anderen beschwichtigen. Ich fürchte, dass einige von ihnen kurz davor stehen durchzudrehen, und sollte es zu einem Kampf kommen, habe ich nur wenig Zweifel, wer unter Taims Disziplinierungen zu leiden hat.«

Androl runzelte die Stirn. »Das ist wahr. Aber warum ich? Ihr könnt viel besser mit Worten umgehen als ich, Emarin.«

Emarin kicherte. »Ja, aber Logain vertraut Euch. Die anderen Männer schauen zu Euch auf.«

Das sollten sie besser nicht tun, dachte Androl. »Ich sehe mal, ob mir etwas einfällt.« Nalaam setzte zur nächsten Geschichte an, aber bevor er damit beginnen konnte, winkte Androl Jonneth heran und hielt den Armschutz hoch. »Ich habe gesehen, dass Euer alter gerissen ist. Versucht den hier.«

Jonneth strahlte, als er den Armschutz entgegennahm. »Ihr seid erstaunlich, Androl! Ich hätte nicht gedacht, dass es jemandem auffällt. Es ist albern, ich weiß, aber…« Sein Lächeln wurde breiter, und er eilte zu einem Baum in der Nähe, wo ein Teil der Sachen der Männer lag, darunter sein Langbogen. Diese Männer von den Zwei Flüssen wussten sie immer gern in der Nähe.

Jonneth kehrt zurück und spannte den Bogen. Er legte den Armschutz an. »Passt traumhaft!«, verkündete er, und Androl musste lächeln. Kleine Dinge. Sie konnten so viel bedeuten.

Jonneth zielte und schoss einen Pfeil ab, das Geschoss raste in den Himmel, und die Sehne schnappte gegen den Armschutz. Der Pfeil flog weit und schlug mehr als zweihundert Schritte entfernt in einen Baum auf einem Hügel.

Canler stieß einen Pfiff aus. »So etwas wie Eure Bögen habe ich noch nie zuvor gesehen, Jonneth. In meinem ganzen Leben nicht.« Beide kamen sie aus Andor, obwohl Canler aus einem Dorf stammte, das bedeutend näher bei Caemlyn lag.

Jonneth musterte seinen Schuss kritisch, dann spannte er den Bogen erneut – dieses Mal nahm er die Sehne bis zur Wange – und ließ los. Der Pfeil schlug in denselben Baum ein. Androl wäre jede Wette eingegangen, dass die beiden Schäfte keine zwei Handspannen voneinander entfernt waren.

Canler stieß erneut einen Pfiff aus.

»Mein Vater wurde an einem von ihnen ausgebildet«, bemerkte Nalaam. »Hat die Kunst von einem Mann aus den Zwei Flüssen gelernt, den er in Illian vor dem Ertrinken rettete. Hat die Bogensehne zur Erinnerung aufbewahrt.«

Canler hob eine Braue, schien die Geschichte aber dennoch gut zu finden. Androl schüttelte bloß kichernd den Kopf. » Etwas dagegen, wenn ich es einmal versuche, Jonneth? Mit einem tairenischen Bogen bin ich ein ganz guter Schütze, und sie sind etwas länger als die meisten.«

»Aber sicher«, sagte der schlanke Mann, schnallte den Armschutz ab und reichte den Bogen weiter.

Androl befestigte den Armschutz und hob den Bogen. Er war aus schwarzer Eibe gemacht, und die Sehne war nicht ganz so straff gespannt, wie er es gewohnt war. Jonneth reichte ihm einen Pfeil, und Androl machte es ihm nach und spannte die Sehne bis zur Wange.

»Beim Licht!«, sagte er, als er die Zugkraft spürte. »Eure Arme sind täuschend klein, Jonneth. Wie könnt Ihr damit nur zielen? Ich kann ihn kaum ruhig halten!«

Jonneth lachte, als Androls Arme zitterten und er schließlich losließ, weil er den Bogen keinen Atemzug länger gespannt halten konnte. Der Pfeil schlug weit vom Ziel entfernt in den Boden ein. Er gab Jonneth den Bogen zurück.

» Das war nicht übel, Androl«, meinte Jonneth.» Viele Männer schaffen es nicht einmal, den Bogen zu spannen. Gebt mir zehn Jahre, und ich bringe Euch bei, wie man schießt, als wärt Ihr in den Zwei Flüssen geboren.«

»Ich bleibe lieber bei Kurzbögen«, sagte Androl. »So ein Monstrum könnte man niemals aus dem Sattel abschießen.«

»Das brauche ich auch nicht!«, sagte Jonneth.

» Und wenn man Euch verfolgt?«

»Sind es weniger als fünf Männer, dann würde ich sie hiermit alle niederstrecken, bevor sie mich erwischen«, sagte Jonneth. »Und sollten es mehr als fünf sein, wieso schieße ich dann überhaupt auf sie? Ich sollte rennen, als wäre der Dunkle König leibhaftig hinter mir her.«

Die Männer kicherten, aber Androl erwischte Emarin dabei, wie er ihn musterte. Vermutlich fragte sich der Mann, woher er wusste, wie man aus dem Sattel schoss. Er war wirklich aufmerksam, dieser Adlige. Er würde sich vorsehen müssen.

»Und was ist das?«, fragte eine Stimme. »Wollt Ihr Bogenschießen lernen, Page? Damit Ihr Euch verteidigen könnt?«

Androl biss die Zähne zusammen und drehte sich um, während Coteren herbeischlenderte. Er war ein stämmiger Mann, der sein schwarzes öliges Haar lang und offen trug. Es hing um ein ungehobeltes Gesicht mit feisten Wangen. Sein Blick war konzentriert, gefährlich. Er lächelte. Das Lächeln eines Katers, der eine Maus zum Spielen gefunden hatte.

Androl schnallte ohne Aufhebens den Armschutz ab und gab ihn Jonneth. Coteren war ein vollwertiger Asha’man, ein persönlicher Freund des M’Hael. Sein Rang war um Längen höher als der eines jeden Anwesenden.

»Der M’Hael wird davon hören«, sagte Coteren. »Ihr ignoriert eure Lektionen. Ihr werdet keine Pfeile oder Bögen brauchen – nicht, wenn ihr mit der Macht töten könnt!«

»Wir ignorieren gar nichts«, erwiderte Nalaam stur.

»Seid still, mein Junge«, wies Androl ihn zurecht. »Achtet auf Euren Tonfall.«

Coteren lachte. »Hört auf den Pagen. Der M’Hael würde auch von eurer Respektlosigkeit erfahren.« Er konzentrierte sich auf Androl. »Ergreift die Quelle.«

Zögernd gehorchte Androl. Die Süße von Saidin floss in ihn hinein, und er warf einen nervösen Blick zur Seite. Von den Schatten war nichts zu sehen.

»Wie erbärmlich«, sagte Coteren. »Zerstört den Stein da drüben!«

Er war viel zu groß für ihn. Aber er hatte es schon zuvor mit Rüpeln zu tun gehabt, und Coteren war ein Rüpel der gefährlichsten Sorte – einer mit Macht und Autorität. Am besten gab man nach. Verlegenheit war eine geringe Strafe. Das war etwas, das nur wenige Rüpel zu verstehen schienen.

Androl webte das erforderliche Gewebe aus Feuer und Erde und richtete es auf den großen Stein. Das dünne Gewebe hielt beinahe die ganze Macht, zu der er fähig war, aber sie sprengte bloß ein paar Splitter von dem Stein.

Coteren lachte herzlich, genau wie die Gruppe der Geweihten, die unter einem Baum in der Nähe aßen. »Verfluchte Asche, Ihr seid so nutzlos!«, sagte Coteren. »Vergesst, was ich eben sagte, Page! Ihr braucht diesen Bogen!«

Androl ließ die Eine Macht los. Coteren hatte seinen Spaß gehabt; er würde zufrieden sein. Unglücklicherweise fühlte er, wie die Männer hinter ihm die Quelle ergriffen. Jonneth, Canler und Nalaam bauten sich neben ihm auf, und jeder von ihnen war mit der Einen Macht gefüllt und bebte vor Zorn.

Die Männer, die gegessen hatten, standen auf; sie hielten ebenfalls die Quelle. Es waren doppelt so viele wie Androls Freunde. Coteren grinste tückisch.

Androl sah Canler und die anderen an. Er hob die Hand. »Jungs, Asha’man Coteren tut bloß, was ihm der M’Hael befohlen hat. Er will mich wütend machen, damit ich mich mehr anstrenge.«

Die beiden Gruppen zögerten. Die Intensität ihrer Blicke kamen beinahe an die Macht in ihnen heran. Dann ließ Jonneth die Quelle los. Das veranlasste Nalaam, seinem Beispiel zu folgen, und schließlich wandte sich der mürrische Canler ab. Coteren lachte.

»Das gefällt mir nicht«, murmelte Canler, als die andere Gruppe abrückte. Er warf einen Blick über die Schulter. »Das gefällt mir ganz und gar nicht. Warum habt Ihr uns aufgehalten, Androl?«

»Weil sie uns schneller in unsere Einzelteile zerlegt hätten, als Ihr fluchen könnt, Canler«, fauchte Androl. »Beim Licht, Mann! Ich kann bloß ein paar Tropfen der Macht lenken, und Emarin ist nicht mal einen Monat bei uns. Jonneth lernt schnell, aber wir wissen alle, dass er noch nie mit der Macht gekämpft hat, und die Hälfte von Coterens Männern war zusammen mit dem Lord Drachen in der Schlacht! Glaubt Ihr allen Ernstes, Ihr und Nalaam könntet allein auf Euch gestellt zehn Männer überwältigen?«

Canler murmelte etwas Unhörbares, ließ das Thema aber fallen.

»Makashak Na farmalashten morkase«, murmelte Nalaam, »delf takaksaki mere!« Er lachte mit einem wilden Blick. Androl kannte die Sprache nicht – es handelte sich nicht um die Alte Sprache, so viel stand fest. Möglicherweise war es nicht einmal eine Sprache.

Keiner der anderen Männer sagte ein Wort. Gelegentlich plapperte Nalaam unverständliches Zeug vor sich hin. Falls man ihn darauf ansprach, behauptete er immer, ganz normal gesprochen zu haben. Der Ausbruch schien Emarin und Jonneth gehörig zu verstören. Sie hatten noch nie erlebt, wie Freunde den Verstand verloren und alle in ihrer Umgebung umbrachten. Und man konnte nur beim Licht hoffen, dass sie es jetzt auch niemals erleben mussten. Was auch immer Androl vom Lord Drachen hielt, weil er sie im Stich gelassen hatte, die Reinigung sprach al’Thor von allem frei. Nun war Machtlenken gefahrlos.

Oder zumindest weniger gefährlich. Machtlenken würde niemals ungefährlich sein, vor allem jetzt nicht, wo Taim sie derart antrieb.

»Immer mehr Leute erhalten von Taim diesen verdammten persönlichen Unterricht«, murmelte Nalaam, als sie sich in den Schatten der Bäume begaben. »Nensens Erfolg hat die Männer aufgestachelt. In den vergangenen paar Wochen haben wir ein gutes Dutzend an Taims Seite verloren. Bald wird es außer uns hier keinen mehr geben. Ich habe Angst, mit der Hälfte der Männer zu sprechen, denen ich einst vertraute. «

»Norley ist vertrauenswürdig«, meinte Canler. »Evin Hardlin auch.«

»Das ist eine kleine Liste«, sagte Nalaam. »Zu klein.«

»Die Männer von den Zwei Flüssen stehen zu uns«, sagte Jonneth. »Bis auf den letzten Mann.«

»Immer noch eine kleine Liste«, sagte Nalaam. »Unter uns ist nicht ein vollwertiger Asha’man.«

Sie alle richteten den Blick auf Androl. Er wiederum schaute Taims Gefolgsleuten hinterher, die nun wieder unter ihresgleichen lachten.

»Was ist, Androl?«, wollte Nalaam wissen. »Ihr werdet uns doch nicht für diese Worte rügen?«

»Welche Worte?« Androl wandte sich wieder ihnen zu.

»Als ginge es um sie gegen uns!«

»Ich wollte nicht, dass ihr getötet oder eingesperrt werdet, aber das heißt nicht, dass ich das Problem nicht erkenne.« Er nickte. »Aye, hier braut sich Ärger zusammen, wie ein Sturm.«

»Die Männer, die Taims Privatunterricht erhalten, lernen viel zu schnell«, sagte Nalaam. »Noch vor kurzem war Nensen kaum mächtig genug, um als Geweihter in Betracht zu kommen. Jetzt ist er ein vollwertiger Asha’man. Hier geht etwas sehr Seltsames vor. Und diese Aes Sedai. Warum erklärte sich Taim einverstanden, dass sie mit uns den Bund eingehen? Er hat sämtliche seiner Günstlinge beschützt, indem er die Aes Sedai daran hinderte, sich einen Mann mit der Drachennadel auszusuchen. Soll man mich doch zu Asche verbrennen, aber ich weiß nicht, was ich tun werde, sollte mich eine erwählen. Ich lasse mich nicht von irgendeiner Aes Sedai an die Leine legen.«

Zustimmendes Gemurmel ertönte.

»Taims Männer verbreiten Gerüchte unter den Neuankömmlingen«, sagte Jonneth leise. »Sie reden über den Lord Drachen, wie er gute Männer dazu getrieben hat, zum Verräter zu werden. Sie sagen, er hätte uns verlassen, und dass er verrückt geworden wäre. Der M’Hael will nicht, dass man diese Gerüchte zu ihm zurückverfolgen kann, aber soll man mich zu Asche verbrennen, wenn nicht er dahintersteckt.«

»Vielleicht hat er ja recht«, sagte Canler. Die anderen sahen ihn scharf an, und er runzelte die Stirn. »Ich sage ja nicht, dass ich mich in Taims Lager schlage. Aber der Lord Drache? Was hat er denn für uns getan? Es hat doch den Anschein, als hätte er diesen Ort völlig vergessen. Vielleicht ist er ja tatsächlich wahnsinnig.«

»Das ist er nicht«, sagte Emarin und schüttelte den Kopf. »Ich bin ihm kurz vor meiner Ankunft hier begegnet.«

Die anderen sahen ihn überrascht an.

»Er hat mich beeindruckt«, sagte Emarin. »Jung, aber so willensstark. Ich vertraue ihm. Beim Licht! Ich habe kaum ein halbes Dutzend mal mit ihm gesprochen, aber ich vertraue ihm.«

Die anderen nickten langsam.

»Verflucht«, sagte Canler. »Ich schätze, das reicht mir. Aber ich wünschte mir, er würde zuhören! Ich habe Logain fluchen gehört, dass der Lord Drache seine Warnungen vor Taim einfach nicht hören wollte.«

»Und wenn wir ihm Beweise liefern?«, fragte Jonneth. »Was, wenn wir etwas finden, das beweist, dass Taim nichts Gutes im Schilde führt?«

»Etwas an Nensen ist seltsam«, wiederholte Nalaam. »Und dieser Kash. Wo kam der überhaupt her, und wieso konnte er so schnell so mächtig werden? Was wäre, wenn wir bei Logains Rückkehr Informationen für ihn hätten? Oder wenn wir sie dem Lord Drachen direkt überbringen könnten …«

Die Gruppe wandte sich an Androl. Warum sahen sie ihn an, den schwächsten von ihnen? Er konnte doch bloß Wegetore erschaffen. Daher rührte auch Coterens Spitzname für ihn her. Page. Er war bloß dazu zu gebrauchen, Botschaften zu überbringen und Leute an andere Orte zu schaffen.

Aber die anderen schauten zu ihm auf. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schauten sie zu ihm auf.

»Also gut«, sagte Androl. »Sehen wir zu, was wir herausfinden. Holt Evin, Hardlin und Norley dazu, aber sagt es sonst niemandem, nicht einmal den anderen Jungs von den Zwei Flüssen. Provoziert weder Taim noch seine Männer… aber wenn ihr etwas findet, dann bringt es mir. Und ich sehe, ob ich eine Möglichkeit finde, mit Logain Kontakt aufzunehmen. Oder zumindest herausfinde, wo er ist.«

Jeder der Männer nickte ernst. Das Licht stehe uns bei, wenn wir uns irren, dachte Androl und schaute wieder zu Taims Günstlingen hinüber. Und das Licht stehe uns erst recht bei, wenn wir recht haben.

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