20 Eine Entscheidung

Ihr dürft nicht sprechen«, sagte Rosil zu Nynaeve. Die schlanke Frau mit dem Schwanenhals trug ein orangefarbenes, gelb geschlitztes Kleid. »Das heißt, sprecht nur, wenn Ihr angesprochen werdet. Ihr kennt die Zeremonie?«

Nynaeve nickte. Ihr Herz pochte verräterisch, als sie die kerkerähnlichen Tiefen der Weißen Burg betraten. Rosil war die neue Oberin der Novizinnen und zufällig ein Mitglied der Gelben Ajah.

»Ausgezeichnet, ausgezeichnet«, versicherte ihr Rosil. »Darf ich vorschlagen, dass Ihr den Ring auf den dritten Finger Eurer linken Hand umsteckt?«

»Das dürft Ihr«, erwiderte Nynaeve, ließ den Ring aber da, wo er war. Man hatte sie bereits zur Aes Sedai erhoben. In diesem Punkt würde sie nicht nachgeben.

Rosil schürzte die Lippen, sagte aber nichts mehr. Während Nynaeves kurzer Zeit in der Weißen Burg war ihr die Frau mit einer bemerkenswerten Freundlichkeit begegnet – was eine Erleichterung gewesen war. Eigentlich hatte Nynaeve damit gerechnet, dass sie jede Gelbe Schwester mit Geringschätzung oder zumindest Gleichgültigkeit behandeln würde. Oh, sie hielten sie für talentiert, und viele bestanden darauf, von ihr unterrichtet zu werden. Aber sie betrachteten sie nicht als eine der ihren. Noch nicht.

Diese Frau war anders, und es war nicht richtig, eine Klette in ihrer Sandale zu sein. »Es ist mir wichtig, Rosil, dass ich der Amyrlin gegenüber nicht den Anschein von Respektlosigkeit erwecke«, erklärte sie. »Sie erhob mich zur Aes Sedai. Mich wie eine bloße Aufgenommene zu verhalten würde ihre Worte untergraben. Diese Prüfung ist wichtig – als mich die Amyrlin erhob, war nie davon die Rede, dass ich die Prüfung nicht ablegen muss. Aber ich bin eine Aes Sedai.«

Rosil neigte den Kopf zur Seite und nickte dann. »Ja, ich verstehe. Ihr habt recht.«

Nynaeve blieb in dem dunklen Korridor stehen. »Ich möchte Euch und den anderen danken, die mich in den vergangenen Tagen willkommen geheißen haben, so wie Niere und Meramor. Ich hätte nicht geglaubt, von euch akzeptiert zu werden.«

»Einige widersetzen sich den Veränderungen, meine Liebe«, sagte Rosil. »Das wird immer so sein. Aber Eure neuen Gewebe sind beeindruckend. Und was viel wichtiger ist, sie sind effektiv. Damit habt Ihr Euch von mir ein herzliches Willkommen verdient.«

Nynaeve lächelte.

»Aber.« Rosil hob einen Finger. »Vielleicht seid Ihr ja in den Augen der Amyrlin und der Burg Aes Sedai, doch die Traditionen gelten noch immer. Also sprecht während dem Rest der Zeremonie nicht mehr, bitte.«

Die schlanke Frau ging weiter voraus. Nynaeve folgte ihr und verkniff sich jede Bemerkung. Sie würde nicht zulassen, dass ihre Nerven sie beherrschten.

Sie kamen immer tiefer in die Burg, und trotz ihrer Entschlossenheit, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, verspürte sie eine ständig wachsende Nervosität. Sie war eine Aes Sedai, und sie würde diese Prüfung bestehen. Sie hatte die hundert Gewebe gemeistert. Sie brauchte sich keine Sorgen zu machen.

Allerdings kehrten manche Frauen nicht von der Prüfung zurück.

Diese Keller wiesen eine große Schönheit auf. Der glatte Steinboden war sorgfältig begradigt. Hoch an den Wänden brannten Lampen; vermutlich hatte sie eine Schwester oder eine Aufgenommene mit der Einen Macht entzünden müssen. Nur wenige Leute kamen hier herunter, und die meisten der Räume wurden als Lager benutzt. Nynaeve kam es wie eine Verschwendung vor, so viel Mühe für einen so selten benutzten Ort aufzuwenden.

Schließlich kamen sie zu einer Flügeltür von so gewaltigen Ausmaßen, dass Rosil sie mit der Einen Macht öffnen musste. Das ist ein Hinweis, dachte Nynaeve und verschränkte die Arme. Die Bogengänge, die riesige Tür. Das alles soll den Aufgenommenen zeigen, wie wichtig das ist, was sie nun tun.

Die gewaltigen, torähnlichen Türflügel schwangen auf, und Nynaeve zwang sich, ihre Nervosität zu bezwingen. Die Letzte Schlacht stand unmittelbar bevor. Sie würde diese Prüfung bestehen. Sie hatte wichtige Dinge zu erledigen.

Hoch erhobenen Hauptes betrat sie das Gemach. Es hatte eine Kuppeldecke, ringsum an den Wänden standen Kandelaber. Ein großes Ter’angreal dominierte die Mitte. Es handelte sich um ein oben und unten verjüngtes Oval, das ohne jede Stütze dort stand.

Viele Ter’angreale sahen ganz gewöhnlich aus. Das war hier nicht der Fall. Dieses Oval war offensichtlich mit der Einen Macht erschaffen worden. Es bestand aus Metall, aber das Licht veränderte die Farben, wenn es von den silbrigen Seiten reflektiert wurde, was den Eindruck erweckte, dass das Ding glühte und in ständiger Bewegung war.

»Tretet vor«, sagte Rosil förmlich.

Andere Aes Sedai waren anwesend. Eine von jeder Ajah, unglücklicherweise einschließlich der Roten. Es waren alles Sitzende, was seltsam war, aber möglicherweise lag das an Nynaeves berüchtigtem Ruf in der Burg. Saerin von den Braunen, Yukiri von den Grauen, Barasine von den Roten. Bemerkenswerterweise war auch Romanda von den Gelben anwesend; sie hatte auf der Teilnahme bestanden. Bis jetzt war sie sehr hart zu Nynaeve gewesen.

Egwene war ebenfalls da. Eine mehr als üblich, und dann auch noch die Amyrlin. Nynaeve erwiderte ihren Blick, und Egwene nickte. Im Gegensatz zur Prüfung zur Aufgenommenen – die allein mit dem Ter’angreal durchgeführt wurde – nahmen an dieser Prüfung die Schwestern aktiv teil; sie würden dafür sorgen, dass sich Nynaeve beweisen musste. Und Egwene würde die strengste von allen sein. Um zu zeigen, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, Nynaeve zu erheben.

»Ihr kommt in Unwissenheit, Nynaeve al’Meara«, verkündete Rosil. »Wie wollt Ihr gehen?«

»In Selbsterkenntnis«, erwiderte Nynaeve.

»Aus welchem Grund seid Ihr hergerufen worden?«

»Um geprüft zu werden.«

»Aus welchem Grund sollte man Euch prüfen?«

»Um zu zeigen, dass ich würdig bin.«

Mehrere Frauen runzelten die Stirn, Egwene eingeschlossen. Das waren nicht die richtigen Worte – Nynaeve hätte sagen müssen, dass sie erfahren wollte, ob sie würdig war oder nicht. Aber sie war bereits eine Aes Sedai, also war sie von der Definition her würdig. Sie musste es den anderen nur noch beweisen.

Rosil zögerte, fuhr dann aber fort. »Und… Wozu sollte man Euch würdig befinden?«

»Die Stola zu tragen, die man mir verlieh«, sagte Nynaeve. Sie sagte es nicht, um arrogant zu sein. Wieder verkündete sie lediglich die Wahrheit, wie sie sie sah. Egwene hatte sie erhoben. Sie trug die Stola bereits. Warum so tun, als wäre das nicht der Fall?

Diese Prüfung wurde in Licht gekleidet abgenommen. Sie fing an, sich auszuziehen.

»Darum werde ich Euch instruieren«, sagte Rosil. »Ihr werdet dieses Zeichen auf dem Boden sehen.« Sie hob die Finger und formte Gewebe, die ein glühendes Symbol in die Luft zeichneten. Ein sechszackiger Stern, zwei sich überlappende Dreiecke.

Saerin umarmte die Quelle und webte ein Gewebe aus Geist. Nynaeve unterdrückte das Verlangen, ebenfalls die Quelle zu umarmen.

Nur noch eine Weile, dachte sie. Und dann wird mich keiner mehr infrage stellen können.

Saerin berührte sie mit dem Gewebe aus Geist. »Erinnert Euch an das, das nicht vergessen werden darf«, murmelte sie.

Das Gewebe hatte etwas mit Erinnerung zu tun. Was war sein genauer Zweck? Der Stern schwebte in Nynaeves Sichtfeld.

»Wenn Ihr dieses Zeichen seht, werdet Ihr Euch unverzüglich ruhigen Schrittes dorthin begeben, weder eilig noch zögerlich, und erst dann dürft Ihr die Macht umarmen. Mit dem erforderlichen Gewebe muss sofort begonnen werden, und Ihr dürft dieses Zeichen nicht verlassen, bis es vollendet ist.«

»Erinnert Euch an das, was nicht vergessen werden darf«, murmelte Saerin erneut.

»Nach Vollendung des Gewebes werdet Ihr das Zeichen erneut sehen, es wird Euren Weg markieren«, sagte Rosil, »und Ihr werdet ihn gehen, wieder stetigen Schrittes, ohne Zögern. «

»Erinnert Euch an das, was nicht vergessen werden darf.«

»Einhundert Mal werdet Ihr weben, in der Reihenfolge, die man Euch gelehrt hat und in perfekter Selbstbeherrschung.«

»Erinnert Euch an das, was nicht vergessen werden darf«, murmelte Saerin ein letztes Mal.

Nynaeve fühlte, wie das Gewebe in sie eindrang, so ähnlich wie eine Heilung. Sie zog Kleid und Unterkleid aus, während die anderen Schwestern neben dem Ter’angreal niederknieten und komplizierte Gewebe aus allen Fünf Mächten webten. Sie ließen es hell erstrahlen, und die Farben auf seiner Oberfläche verwandelten sich ständig. Rosil räusperte sich, und Nynaeve gab ihr errötend ihre zusammengefaltete Kleidung, dann nahm sie den Großen Schlangenring ab und legte ihn obendrauf, gefolgt von Lans Ring – den sie für gewöhnlich um den Hals trug.

Rosil nahm die Kleidung entgegen. Die anderen Schwestern waren völlig in ihre Arbeit versunken. Das Ter’angreal leuchtete plötzlich in der Mitte grellweiß, dann fing es an, sich langsam und knirschend zu drehen.

Nynaeve holte tief Luft und machte einen Schritt darauf zu. Sie blieb vor dem Ter’angreal stehen, trat hindurch und …

… wo war sie? Sie runzelte die Stirn. Das sah nicht wie die Zwei Flüsse aus. Sie stand in einem Dorf, das sich aus Hütten zusammensetzte. Links von ihr schlugen Wellen gegen einen Sandstrand, und rechts von ihr folgte das Dorf einer Anhöhe bis zu einer Felsenklippe. In der Ferne erhob sich ein hoher Berg.

Eine Art Insel. Die Luft war schwül, die Brise friedlich. Zwischen den Hütten gingen Menschen umher und grüßten einander freundlich. Ein paar blieben stehen und starrten Nynaeve an. Sie schaute an sich herunter und wurde sich das erste Mal bewusst, dass sie nackt war. Sie errötete. Wer hatte ihr die Kleidung abgenommen? Wenn sie denjenigen fand, würde sie ihm den Hintern so sehr versohlen, dass er wochenlang nicht sitzen konnte!

An einer Wäscheleine in der Nähe hing ein Gewand. Sie zwang sich, in aller Gemütsruhe hinzugehen und es sich zu nehmen. Sie würde den Besitzer finden und bezahlen. Sie konnte ja wohl kaum ohne einen Faden am Leib herumlaufen. Sie zog sich das Kleid über den Kopf.

Plötzlich bebte der Boden. Die sanften Wellen wurden lauter und krachten heftig gegen den Strand. Nynaeve keuchte auf und hielt sich an dem Pfosten der Wäscheleine fest. In der Höhe fing der Berg an, Rauch und Asche auszuspucken.

Nynaeve umklammerte den Pfosten, als die Klippe auseinanderbrach und Felsbrocken den Hang hinunterrollten. Leute schrien. Sie musste etwas tun! Noch während sie sich umsah, entdeckte sie einen in den Boden gegrabenen sechszackigen Stern. Am liebsten wäre sie darauf zugelaufen, aber sie wusste, dass sie in aller Gelassenheit gehen musste.

Die Ruhe zu bewahren fiel schwer. Ihr Herz pochte bei jedem Schritt entsetzt. Sie würde zerschmettert werden! Sie erreichte den Stern in dem Moment, in dem ein Steinregen herabprasselte und Hütten zerschmetterte. Trotz ihrer Furcht erschuf Nynaeve schnell das richtige Gewebe – ein Gewebe aus Luft, das eine Mauer bildete. Sie baute sie vor sich auf, und die Steine donnerten gegen die Luft und wurden zurückgeworfen.

Im Dorf gab es Verletzte. Sie verließ den Stern, um zu helfen, aber da sah sie den gleichen sechszackigen Stern aus Schilf geflochten von der Tür einer Hütte hängen. Sie zögerte.

Sie durfte nicht versagen. Sie begab sich zu der Hütte und trat über die Schwelle.

Dann erstarrte sie. Was tat sie in dieser dunklen, eiskalten Höhle? Und warum trug sie dieses Kleid aus dicken, kratzigen Fasern?

Sie hatte das erste der hundert Gewebe vollbracht. Das wusste sie, aber sonst nichts. Stirnrunzelnd durchquerte sie die Höhle. Durch Spalten in der Decke fiel Licht, und voraus sah sie einen größeren Lichtschein. Der Ausgang.

Sie verließ die Höhle und entdeckte, dass sie sich in der Wüste befand. Sie hob eine Hand, um ihre Augen vor dem grellen Sonnenlicht zu schützen. Es war niemand in Sicht. Sie ging weiter, ihre Füße zertraten Flechten und wurden von heißen Steinen verbrannt.

Die Hitze war überwältigend. Bald war jeder Schritt eine Qual. Glücklicherweise erhoben sich ein Stück voraus ein paar Ruinen. Schatten! Sie wollte darauf zulaufen, aber sie musste ruhig bleiben. Sie ging weiter, und ihre Füße traten auf eine Steinplatte, die im Schatten einer zerstörten Mauer lag. Es fühlte sich so kühl an, dass sie erleichtert seufzte.

In der Nähe lagen ein paar Ziegelsteine auf dem Boden und bildeten einen sechszackigen Stern. Unglücklicherweise lag der Stern im Sonnenlicht. Zögernd verließ sie den Schatten und ging auf das Muster zu.

In der Ferne ertönten Trommeln. Nynaeve fuhr herum. Widerwärtige Kreaturen mit braunem Fell stiegen über einen Hügel in der Nähe, trugen Äxte, von denen rotes Blut tropfte. Irgendwie sahen diese Trollocs falsch aus. Sie hatte schon zuvor Trollocs gesehen, auch wenn sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, wo das gewesen war. Die hier waren anders. Vielleicht eine neue Brut? Mit dickerem Fell und besonders tiefliegenden Augen.

Nynaeve ging schneller, rannte aber nicht. Es war wichtig, die Selbstbeherrschung zu bewahren. Aber das war völlig idiotisch! Warum sollte sie sich zwingen, nicht zu rennen – oder es gar wollen -, wo doch Trollocs in der Nähe lauerten? Sollte sie sterben, nur weil sie sich nicht schneller bewegen wollte, würde das allein ihre eigene Schuld sein.

Behalte die Ruhe bei. Geh nicht zu schnell.

Sie behielt den gleichmäßigen Schritt bei und erreichte den sechszackigen Stern, als die Trollocs schon näher kamen. Sie fing an, das erforderliche Gewebe herzustellen, und trennte dabei einen Strang Feuer ab. Sie schickte einen verzehrenden Hitzeschwall auf den Weg und verbrannte die vordersten der Kreaturen zu Asche.

Mit gegen die Furcht zusammengebissenen Zähnen erschuf sie den Rest des vorgeschriebenen Gewebes. Sie trennte ihre Gewebe ein halbes Dutzend Mal und vollendete das komplizierte Ding in wenigen Augenblicken.

Sie setzte es an Ort und Stelle und nickte. Fertig. Weitere Trollocs kamen, und sie verbrannte sie mit einer Handbewegung.

Der sechszackige Stern war in die Seite eines steinernen Torbogens geritzt. Sie ging darauf zu und bemühte sich, dabei nicht nervös über die Schulter zu sehen. Weitere Trollocs kamen. Mehr als sie womöglich töten konnte.

Sie erreichte den Torbogen und trat hinein.


Nynaeve vollendete das siebenundvierzigste Gewebe, das Glockengeläut durch die Luft hallen ließ. Sie war erschöpft. Dieses Gewebe hatte sie erschaffen müssen, während sie Hunderte von Fuß in der Höhe oben auf einem unnatürlich schmalen Turm stand. Windböen peitschten sie und drohten, sie in den Abgrund zu reißen.

In der Tiefe klaffte ein Durchgang auf. Er schien direkt ein Dutzend Schritte unter ihr aus der Seite der Steinsäule zu wachsen, parallel zum Boden, die Öffnung zum Himmel gewandt. Dort befand sich der sechszackige Stern.

Mit zusammengebissenen Zähnen sprang sie vom Turm und fiel durch die Öffnung.

Sie landete in einer Pfütze. Ihre Kleidung war verschwunden. Was war damit geschehen? Knurrend stand sie auf. Sie war wütend. Sie wusste nicht, warum, aber jemand hatte ihr etwas … angetan.

Sie war so müde. Daran trugen sie die Schuld, wer auch immer sie waren. Als sie sich auf diesen Gedanken konzentrierte, wurde er klarer. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, was sie getan hatten, aber es war definitiv ihre Schuld. Ihre beiden Arme wiesen Schnitte auf. Hatte man sie ausgepeitscht? Die Schnitte schmerzten schrecklich.

Tropfnass schaute sie sich um. Sie hatte siebenundvierzig der hundert Gewebe vollendet. Das wusste sie, aber das war schon alles. Abgesehen von der Tatsache, dass jemand unbedingt wollte, dass sie versagte.

Sie würde sie nicht siegen lassen. Entschlossen, die Ruhe zu bewahren, erhob sie sich aus der Pfütze und fand Kleidung in der Nähe. Schrecklich bunt, helles Pink und Gelb mit einem ordentlichen Schuss Rot. Es schien eine Beleidigung zu sein. Sie zog es trotzdem an.

Sie folgte dem Pfad durch das Moor und wich Löchern und Pfützen aus, bis sie einen in den Schlamm gezeichneten sechszackigen Stern fand. Dort begann sie mit dem nächsten Gewebe, das einen flammenden blauen Stern in den Himmel schießen lassen würde.

Etwas stach sie in den Nacken. Sie schlug danach und tötete eine Schwarzfliege. Nun, die waren in diesem feuchten Sumpf nun wirklich nicht ungewöhnlich. Sie würde froh sein, wenn sie…

Ein weiterer Stich an ihrem Arm. Sie schlug danach. Die ganze Luft fing an zu summen, Fliegen schwirrten um sie herum. Nynaeve biss die Zähne zusammen und machte mit dem Gewebe weiter. Noch mehr Stiche suchten ihre Arme heim. Sie konnte sie nicht alle totschlagen. Konnte sie die Fliegen mit einem Gewebe loswerden? Sie fing an, Luft zu verweben, damit ein Luftschwall sie umwehte, aber die Schreie ließen sie innehalten.

Es war kaum über dem Summen der Fliegen zu hören, aber es klang wie ein im Moor gefangenes Kind! Nynaeve machte einen Schritt auf die Schreie zu und öffnete den Mund, um zu rufen, aber Schwarzfliegen schossen in ihren Mund und würgten jeden Laut ab. Sie trafen ihre Augen, und sie musste sie fest zusammenkneifen.

Dieses Summen. Die Schreie. Die Stiche. Beim Licht, sie waren in ihrem Hals! In ihren Lungen!

Vollende das Gewebe. Du musst das Gewebe vollenden.

Irgendwie machte sie trotz der Schmerzen weiter. Der Lärm der Insekten war so laut, dass sie kaum das Rauschen des flammenden Sterns hörte, als er in die Luft aufstieg. Schnell webte sie ein Gewebe, das die Fliegen wegwehte, danach sah sie sich um. Sie hustete und zitterte. Sie konnte die Fliegen in ihrem Mund fühlen. Ein Kind in Gefahr konnte sie nicht entdecken. Hatten ihr die Ohren einen Streich gespielt?

Sie entdeckte einen weiteren sechszackigen Stern, über einer in einen Baum geschnitzten Tür. Sie ging darauf zu, während die Fliegen zurückkehrten. Ruhig. Sie musste ruhig sein! Warum? Es macht keinen Sinn! Sie tat es trotzdem, griff nach der Tür und zog sie auf. Trat hinein.

In einem Gebäude blieb sie stehen und fragte sich, warum sie so schlimm hustete. War sie krank? Erschöpft und wütend lehnte sie sich gegen die Wand. Ihre Beine waren völlig zerkratzt, und ihre Arme juckten durch Insektenstiche. Sie stöhnte und betrachtete das grellbunte Kleid. Was war bloß in sie gefahren, dass sie Rot, Gelb und Pink zusammen trug?

Seufzend richtete sie sich wieder auf und durchquerte den heruntergekommenen Korridor. Die Bodendielen knarrten bei jedem Schritt, an den Wänden blätterte der Verputz ab.

Sie kam zu einer Tür und schaute hinein. Das kleine Gemach enthielt vier kleine Messingbetten; aus den Matratzensäumen stach Stroh hervor. Auf jedem Bett lag ein Kind und krallte sich in eine fadenscheinige Decke. Zwei von ihnen husteten, alle vier sahen blass und kränklich aus.

Nynaeve keuchte auf und eilte in den Raum. Sie kniete neben dem ersten Kind nieder, einem Jungen von vielleicht vier Jahren. Sie untersuchte seine Augen, dann befahl sie ihm zu husten, während sie das Ohr auf seine Brust legte. Er hatte die Schleichseuche.

»Wer kümmert sich um euch?«, verlangte Nynaeve zu wissen.

»Frau Mala leitet das Waisenhaus«, sagte das Kind mit schwacher Stimme. »Wir haben sie schon lange nicht mehr gesehen.«

»Bitte«, sagte ein junges Mädchen auf dem Nebenbett. Seine Augen waren blutunterlaufen und seine Haut so blass, dass sie beinahe weiß war. »Einen Schluck Wasser? Könnte ich einen Schluck Wasser bekommen?« Es zitterte.

Die anderen beiden weinten. Erbarmungswürdige, kraftlose Laute. Beim Licht! In dem Raum gab es nicht ein einziges Fenster, und unter den Betten sah Nynaeve Küchenschaben hervorkrabbeln. Wer würde Kinder in solchen Zuständen unterbringen?

»Pst«, machte sie. »Ich bin ja jetzt da. Ich kümmere mich um euch.«

Sie musste die Macht lenken, um sie zu Heilen. Dann …

Nein. Das kann ich nicht machen. Ich kann die Macht nicht lenken, bis ich den Stern gefunden habe.

Dann würde sie eben Heiltränke brauen. Wo war ihre Kräutertasche? Sie schaute sich in dem Zimmer um und suchte nach einer Wasserquelle.

Sie erstarrte; auf der anderen Korridorseite war noch ein Zimmer. War es eben schon da gewesen? Ein Teppich auf dem Boden zeigte einen sechszackigen Stern. Sie erhob sich. Die Kinder wimmerten.

»Ich komme zurück«, versprach Nynaeve und ging auf das andere Zimmer zu. Jeder Schritt stach ihr ins Herz. Sie ließ sie im Stich. Aber nein, sie begab sich bloß ins Nebenzimmer. Nicht wahr?

Sie erreichte den Teppich und fing an zu weben. Nur dieses eine schnelle Gewebe, dann konnte sie helfen. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter, während sie arbeitete.

Hier war ich schon einmal, dachte sie. Oder an einem ähnlichen Ort. In einer ähnlichen Situation.

Ihr Zorn schwoll an. Wie konnte sie die Macht lenken, wo diese Kinder sie doch brauchten? Sie starben.

Sie vollendete das Gewebe und sah zu, wie es Luftströme ausstieß und ihr Kleid flattern ließ. Sie griff nach ihrem Zopf und hielt ihn, als an der Wand eine Tür erschien. Oben gab es ein kleines Glasfenster, das einen sechszackigen Stern enthielt.

Sie musste weitermachen. Sie hörte das Weinen der Kinder. Mit Tränen in den Augen und brechendem Herzen ging sie zu der Tür.


Es wurde schlimmer. Sie ließ Menschen zurück, die ertranken, geköpft oder lebendig begraben wurden. In einem der schlimmsten Augenblicke musste sie ein Gewebe erschaffen, während Dorfbewohner von riesigen Spinnen mit hellrotem Pelz und Kristallaugen gefressen wurden. Sie hasste Spinnen.

Manchmal erschien sie nackt. Irgendwann störte sie das nicht mehr. Obwohl sie sich abgesehen von der Zahl der vollendeten Gewebe an keine Einzelheiten erinnern konnte, war ihr doch irgendwie klar, dass Nacktheit lächerlich war verglichen mit den Schrecken, die sie gesehen hatte.

Sie stolperte durch einen steinernen Torbogen, und die Erinnerungen an ein brennendes Haus verblassten. Das war das einundachtzigste Gewebe. Daran erinnerte sie sich. Daran und an ihren Zorn.

Sie trug ein einfaches Gewand aus Sackleinen. Wie hatte sie das angesengt? Sich zu ihrer vollen Größe aufrichtend, hielt sie sich den Kopf; ihre Arme pochten, ihr Rücken fühlte sich ausgepeitscht an, Beine und Zehen wiesen Kratzer und Schnitte auf. Sie war in den Zwei Flüssen. Nur dass es nicht die Zwei Flüsse waren. Jedenfalls nicht so, wie sie es in Erinnerung hatte. Einige der Gebäude brannten noch immer.

»Sie kommen zurück!«, brüllte eine Stimme. Meister al’Vere. Warum hielt er ein Schwert? Menschen, die sie kannte und die ihr viel bedeuteten – Perrin, Meister al’Vere, Frau al’Donel, Aeric Botteger – standen mit Waffen in den Händen neben einer niedrigen Mauer. Jemand winkte ihr zu.

»Nynaeve!«, rief Perrin. »Schattengezücht! Wir brauchen deine Hilfe!«

Auf der anderen Seite der Mauer rührten sich gewaltige Schatten. Schattengezücht von schrecklicher Größe – keine Trollocs, sondern etwas viel Schlimmeres. Sie konnte Gebrüll hören.

Sie musste helfen! Sie ging in Perrins Richtung, erstarrte aber, als sie auf der anderen Seite der Dorfwiese einen sechszackigen Stern auf einen Hügel gemalt sah.

»Nynaeve!« Perrin klang verzweifelt. Er fing an, auf etwas einzuschlagen, das über die Mauer griff – mitternachtschwarze Tentakel. Perrin hackte mit einer Axt auf einen ein, während der nächste Aeric umschlang und ihn schreiend in die Finsternis zog.

Nynaeve fing an, auf den Stern zuzugehen. Ruhig. Beherrscht.

Das war so dumm. Eine Aes Sedai musste beherrscht sein. Das wusste sie. Aber eine Aes Sedai musste auch handeln können, musste alles Nötige unternehmen, um Menschen in Not zu helfen. Es spielte keine Rolle, welchen Preis das von ihr forderte. Diese Menschen brauchten sie.

Also lief sie los.

Aber selbst das schien nicht zu reichen. Sie rannte auf den Stern zu, trotzdem ließ sie geliebte Menschen im Stich. Sie wusste, dass sie die Macht nicht lenken konnte, bevor sie den Stein erreichte. Das machte doch absolut keinen Sinn. Schattengezücht griff an. Sie musste die Macht lenken. Sie umarmte die Quelle, und etwas schien sie aufzuhalten. Etwas wie eine Abschirmung. Mühsam schleuderte sie sie zur Seite, und Macht strömte in sie hinein. Sie fing an, dem Ungeheuer Feuer entgegenzuschleudern, brannte Tentakel ab, die nach Perrin griffen.

Nynaeve warf Feuer, als sie den Stern erreichte. Hier webte sie das einundachtzigste Gewebe, drei in der Luft schwebende Feuerringe.

Sie arbeitete wie wild, griff gleichzeitig an. Sie wusste nicht, welchen Sinn es hatte, dieses Gewebe zu erschaffen, aber sie wusste, dass sie es vollenden musste. Also erhöhte sie die Stärke des Gewebes und machte die brennenden Ringe extrem groß. Dann schleuderte sie sie der Kreatur entgegen. Riesige Flammenräder krachten gegen die finsteren Wesen und töteten sie.

Auf dem Dach von Meister al’Veres Gasthaus war ein sechszackiger Stern. Hatte man ihn dort eingebrannt? Nynaeve ignorierte ihn und reagierte ihren Zorn an den Tentakelungeheuern ab.

Nein. Das ist wichtig. Wichtiger als die Zwei Flüsse. Ich muss weitermachen.

Sich wie ein elender Feigling fühlend, aber in dem Wissen, dass es das Richtige war, rannte sie zu dem Gasthaus und passierte die Tür.


Nynaeve lag schluchzend neben einem zerbrochenen Torbogen auf dem Boden. Sie war bei dem letzten der hundert Gewebe.

Sie konnte sich kaum bewegen. Ihr Gesicht war tränennass. Da waren flüchtige Erinnerungen an Schlachten, vor denen sie floh, an Kinder, die sie zum Sterben zurückließ. Daran, nie genug tun zu können.

Ihre Schulter blutete. Ein Wolfsbiss. Die Haut an ihren Beinen war zerfetzt, als wäre sie durch Dornenbüsche gelaufen. Überall an ihrem Körper waren Verbrennungen und Blasen. Sie war nackt.

Sie erhob sich auf die zerschundenen und blutenden Knie. Ihr Zopf endete eine Handspanne unterhalb ihrer Schulterblätter in einem qualmenden Stumpf. Sie beugte sich vor und würgte, zitterte.

So krank, so schwach. Wie sollte sie bloß weitermachen?

Nein. Sie besiegen mich nicht!

Langsam stand sie auf. Sie befand sich in einem kleinen Raum, durch Spalten in den Wänden fiel greller Sonnenschein. Auf dem Boden lag ein weißes Stoffbündel. Sie hob es auf und entfaltete es. Es war ein weißes Kleid mit den Farben der Ajahs am Saum. Die Kleidung einer Aufgenommenen in der Weißen Burg.

Sie ließ es fallen. »Ich bin eine Aes Sedai«, sagte sie sich, stieg darüber hinweg und stieß die Tür auf. Besser nackt zu sein, als dieser Lüge nachzugeben.

Vor der Tür fand sie ein anderes Kleid. Dieses Mal war es gelb. Schon besser. Sie ließ sich Zeit beim Ankleiden, obwohl sie nicht aufhören konnte zu zittern, und ihre Finger waren so müde, dass sie sie kaum bewegen konnte. Ihr Blut beschmutzte den Stoff.

Angezogen musterte sie ihre Umgebung. Sie stand auf einem Hang in der Großen Fäule; der Boden war mit Unkraut bewachsen, das deutlich dunkle Verfärbungen aufwies. Warum stand in der Fäule eine Hütte, und warum hatte sie sich darin befunden?

Sie war so müde. Sie wollte zurück in die Hütte gehen und schlafen.

Nein. Sie würde weitermachen. Sie stapfte die Höhe hinauf. Oben angekommen schaute sie auf eine Landschaft voller Geröll und Flecken aus Finsternis. Seen, falls man sie so bezeichnen wollte. Die Flüssigkeit sah dick und ölig aus. Dunkle Umrisse bewegten sich darin. Malkier, dachte sie und staunte, dass sie den Ort erkannte. Die Sieben Türme, die jetzt nur noch Geröll sind. Die Tausend Seen, alle verdorben. Lans Erbe.

Sie machte einen Schritt nach vorn, aber ihr Zeh stieß gegen etwas. Ein Stein unter ihrem Fuß war mit einem kleinen Symbol versehen. Der sechszackige Stern.

Erleichtert seufzte sie. Es war beinahe vollbracht. Sie fing mit dem letzten Gewebe an.

Unten kam ein Mann hinter einem Geröllhaufen hervor und schwang gekonnt ein Schwert. Sie erkannte ihn selbst auf diese Entfernung. Der starke Körper, das ebenmäßige Gesicht, der farbverändernde Umhang und die geschmeidigen Bewegungen.

»Lan!«, brüllte sie.

Bestien umringten ihn, die an Wölfe erinnerten, dafür aber zu groß waren. Sie hatten dunkles Fell, und ihre Zähne blitzten, als sie sich auf Lan stürzten. Schattenhunde, ein ganzes Rudel.

Nynaeve vollendete das hundertste Gewebe überrascht; ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie damit weitergemacht hatte. Um sie herum stieg ein bunter Funkenregen in die Luft. Sie schaute zu, wie sie zu Boden fielen, und fühlte sich benutzt. Hinter ihr ertönte ein Laut, aber als sie in die Richtung sah, war da nichts. Nur die Hütte.

Über einer Tür hing der sechszackige Stern, aus Edelsteinen gemacht. Eben hatte es diese Tür noch nicht gegeben. Nynaeve machte einen Schritt auf die Hütte zu, dann schaute sie zurück.

Lan schlug mit dem Schwert um sich und hielt die Schattenhunde auf Distanz. Ein Tropfen Speichel dieser Bestien würde ihn töten.

»Lan!«, schrie sie. »Lauf!«

Er hörte sie nicht. Der sechszackige Stern. Sie musste zu ihm gehen!

Sie blinzelte, dann schaute sie auf ihre Hände. Genau in der Mitte einer jeden Handfläche war eine winzige Narbe. Kaum zu bemerken. Sie zu sehen rief eine Erinnerung in ihr hervor.

Nynaeve … ich liebe dich …

Das war eine Prüfung. Daran erinnerte sie sich jetzt. Es war eine Prüfung, die sie zwingen sollte, sich zwischen ihm und der Weißen Burg zu entscheiden. Diese Wahl hatte sie bereits einmal getroffen, aber sie hatte gewusst, dass sie nicht real war.

Aber das hier war auch nicht real, oder? Ihr Bewusstsein war getrübt, und sie hob eine Hand an den Kopf. Das da unten ist mein Ehemann, dachte sie. Nein. Ich spiele da nicht mit.

Sie schrie auf, webte Feuer und schleuderte es einem der Schattenhunde entgegen. Die Kreatur brannte sofort, aber das Feuer schien ihr nichts anhaben zu können. Nynaeve setzte sich in Bewegung und schleuderte noch mehr Feuer. Sinnlos! Die Hunde griffen weiter an.

Sie weigerte sich, sich ihrer Erschöpfung zu ergeben. Sie verbannte sie und wurde ganz ruhig, ganz kontrolliert. Man wollte sie an die Grenze treiben, wollte sehen, wozu sie imstande war? Nun, dann sollte es eben so sein. Sie holte weit aus und zog eine gewaltige Menge der Einen Macht in sich hinein.

Dann webte sie Baalsfeuer.

Ein Strich aus purem Licht entschlüpfte ihren Fingern und verzerrte die Luft. Sie traf einen Schattenhund und schien ihn zu durchbohren, das Licht schoss weiter in den Boden. Die ganze Landschaft erbebte, und Nynaeve stolperte. Lan stürzte zu Boden. Die Schattenhunde warfen sich auf ihn.

NEIN! Nynaeve richtete sich wieder auf und webte erneut Baalsfeuer. Sie traf einen weiteren Hund, dann noch einen. Hinter Felsformationen sprangen weitere Ungeheuer hervor. Wo kamen sie alle her? Nynaeve ging weiter und schlug mit dem verbotenen Gewebe zu.

Jeder Schlag ließ den Boden erbeben, als litte er Schmerzen. Das Baalsfeuer hätte den Boden nicht auf diese Weise durchbohren dürfen. Etwas stimmte nicht.

Sie erreichte Lan. Er hatte sich das Bein gebrochen. »Nynaeve«, keuchte er. »Du musst gehen!«

Sie ignorierte seine Worte, kniete nieder und webte Baalsfeuer, während ein weiterer Hund um den Hügel kam. Ihre Zahl wuchs, und sie war so müde. Jedes Mal, wenn sie die Macht lenkte, fühlte sie sich, als wäre es das letzte Mal.

Aber das durfte nicht sein. Nicht, wo Lan in Gefahr schwebte. Sie webte ein kompliziertes Heilgewebe und legte jedes ihr noch verbliebene Quäntchen Kraft hinein, Heilte sein Bein. Er kam auf die Füße und griff nach seinem Schwert, drehte sich um und wehrte einen Schattenhund ab.

Sie kämpften zusammen, sie mit Baalsfeuer, er mit Stahl. Aber seine Schläge waren lethargisch, und sie benötigte bei jedem neuen Baalsfeuer ein paar Herzschläge mehr. Der Boden bäumte sich auf, Ruinen stürzten ein.

»Lan!«, sagte sie. »Halte dich bereit loszulaufen!«

»Was?«

Mit ihrer letzten Kraft webte sie Baalsfeuer und zielte damit direkt vor ihnen auf den Boden. Die Erde wogte gequält, als wäre sie ein lebendes Wesen. In der Nähe klaffte der Untergrund auf und verschluckte Schattenhunde. Nynaeve brach zusammen, die Eine Macht entglitt ihr. Sie war zu erschöpft, um sie lenken zu können.

Lan ergriff ihren Arm. »Wir müssen los!«

Mühsam kam sie auf die Füße, nahm seine Hand. Zusammen liefen sie den grollenden Hang hinauf. Hinter ihnen heulten die Schattenhunde, ein paar von ihnen setzten über den Abgrund hinweg.

Nynaeve rannte, so gut sie konnte, klammerte sich an Lans Hand fest. Sie erreichten den Hügelkamm. Der Boden bebte so schrecklich, dass sie kaum glauben konnte, dass die Hütte noch stand. Zusammen mit Lan stolperte sie die Anhöhe hinunter.

Er stolperte, schrie schmerzerfüllt auf. Seine Hand entglitt ihren Fingern.

Sie fuhr herum. Hinter ihnen strömte eine Flut Schattenhunde knurrend und mit blitzenden Zähnen über den Hügel; Sabber regnete aus ihren Rachen. Lan bedeutete ihr mit weit aufgerissenen Augen weiterzulaufen.

Nein! Sie packte ihn am Arm und schleifte ihn den Hang hinunter. Zusammen stolperten sie durch die Tür und …

… und keuchend fiel Nynaeve aus dem Ter’angreal. Allein und nackt brach sie zitternd auf dem kalten Boden zusammen. Die Erinnerungen schlugen wie eine Flut über ihr zusammen. Jeder schreckliche Augenblick der Prüfung. Jeder Verrat, jedes frustrierende Gewebe. Die Hilflosigkeit, die Schreie der Kinder, der Tod der geliebten Menschen. Zusammengekrümmt schluchzte sie auf dem Boden.

Ihr ganzer Körper brannte vor Schmerzen. Ihre Schultern, Beine, Arme und Rücken bluteten noch immer. Brandblasen zogen sich quer über ihren Körper, und der größte Teil ihres Zopfes war weg. Das gelöste Haar fiel ihr ins Gesicht, als sie versuchte, die Erinnerungen an ihre Taten zu verdrängen.

In der Nähe ertönte Stöhnen, und verschwommen sah sie, wie die zu einem Zirkel verbundenen Aes Sedai ihre Gewebe losließen und zusammensackten. Sie hasste sie. Sie hasste jede Einzelne von ihnen.

»Beim Licht!« Saerins Stimme. »Jemand soll sie Heilen!«

Alles verschwamm. Stimmen wurden undeutlich. Wie Geräusche unter Wasser. Friedliche Geräusche …

Etwas Kaltes traf sie. Sie keuchte auf, und der eiskalte Schock des Heilens ließ sie die Augen aufreißen. Rosil kniete neben ihr. Die Frau sah besorgt aus.

Die Schmerzen in Nynaeves Körper verschwanden, dafür kehrte die Erschöpfung zehnfach zurück. Und der Schmerz in ihrem Inneren… blieb. Beim Licht! Sie konnte die Schreie der Kinder noch immer hören.

»Nun, anscheinend wird sie es überleben«, sagte Saerin in der Nähe. »Würde mir dann bitte jemand im Namen der Schöpfung erklären, was das war?« Sie klang außer sich vor Wut. »Ich habe an vielen Erhebungen teilgenommen, selbst bei welchen, die die Frauen nicht überlebten. Aber ich habe niemals erlebt, dass man eine Frau das durchmachen lässt, was sie hier gerade erlitten hat.«

»Sie musste vernünftig geprüft werden«, sagte Rubinde.

»Vernünftig?«, rief Saerin zornig.

Nynaeve fehlte die Kraft, sie anzusehen. Sie lag einfach nur da und atmete ein und aus.

»Vernünftig?«, wiederholte Saerin. »Das war nicht vernünftig. Das war pure Rachsucht, Rubinde! Beinahe jede der Prüfungen ging weit über das hinaus, was man anderen Frauen abverlangte. Ihr solltet Euch schämen. Das gilt für Euch alle. Beim Licht, seht doch, was Ihr diesem Mädchen angetan habt!«

»Das ist unwichtig«, sagte Barasine die Rote kalt. »Sie hat die Prüfung nicht bestanden.«

»Was?«, krächzte Nynaeve und schaute endlich auf. Das Ter’angreal war erloschen, und Rosil hatte eine Decke und Nynaeves Kleidung besorgt. Egwene stand an der Seite, die Hände vor dem Körper verschränkt. Mit reglosem Gesicht hörte sie den anderen zu. Sie würde keine Stimme haben, aber die anderen schon, wenn es darum ging, ob Nynaeve die Prüfung bestanden hatte oder nicht.

»Ihr habt versagt, Kind«, sagte Barasine und betrachtete Nynaeve mit einem gefühllosen Blick. »Ihr habt nicht den nötigen Anstand gezeigt.«

Lelaine von den Blauen nickte, auch wenn es sie zu ärgern schien, der Roten zustimmen zu müssen. »Dies sollte Eure Fähigkeit prüfen, so beherrscht wie eine Aes Sedai zu sein. Das habt Ihr nicht gezeigt.«

Die anderen erschienen unbehaglich. Es verstieß gegen den guten Ton, über die Einzelheiten einer Prüfung zu sprechen, das wusste Nynaeve. Sie wusste auch, dass ein Versagen meistens mit dem Tod gleichzusetzen war. Obwohl die Behauptung, dass sie versagt hatte, keine völlig unerwartete Überraschung darstellte, jetzt, wo sie so darüber nachdachte.

Sie hatte die Regeln gebrochen. Sie war losgerannt, um Perrin und die anderen zu retten. Sie hatte die Macht gelenkt, bevor es erlaubt gewesen war. Es fiel ihr schwer, Bedauern zu verspüren. Jedes andere Gefühl wurde im Augenblick von dem hohlen Verlust verschlungen, den sie verspürte.

»Barasine hat nicht unrecht«, sagte Seaine zögernd. »Am Ende habt Ihr Eurem Zorn freie Bahn gelassen, und zu vielen der Haltepunkte seid Ihr gelaufen. Und dann ist da die Sache mit den verbotenen Geweben. Sehr beunruhigend. Ich sage nicht, dass Ihr durchfallen solltet, aber das sind Regelwidrigkeiten.«

Nynaeve versuchte aufzustehen. Rosil legte ihr die Hand auf die Schultern, um es ihr zu verbieten, aber sie ergriff den Arm und benutzte ihn als Stütze, zog sich auf die unsicheren Beine. Sie nahm die Decke und legte sie sich um die Schultern, hielt sie vorn geschlossen.

Sie fühlte sich so leer. »Ich tat, was ich tun musste. Wer von Euch würde stehen bleiben, wenn er Menschen in Gefahr sieht? Wer von Euch würde sich verbieten, nach der Macht zu greifen, wenn er angreifendes Schattengezücht sieht? Ich habe so gehandelt, wie eine Aes Sedai handeln sollte.«

»Diese Prüfung soll sicherstellen, dass eine Frau dazu in der Lage ist, sich einer größeren Aufgabe hinzugeben«, sagte Barasine. »Sie soll beweisen, dass sie die Ablenkungen des Augenblicks ignorieren kann und nach einem höheren Gut strebt.«

Nynaeve schnaubte. »Ich habe die nötigen Gewebe vollendet. Ich habe in meiner Konzentration nicht nachgelassen. Ja, ich verlor die Beherrschung – aber ich bewahrte auch einen kühlen Kopf, um meine Aufgaben zu beenden. Man sollte nicht Beherrschung um der Beherrschung willen verlangen, und einem das Laufen zu verbieten, wenn Menschen gerettet werden müssen, ist albern.

Mit dieser Prüfung wollte ich beweisen, dass ich es verdiene, eine Aes Sedai zu sein. Nun, ich könnte argumentieren, dass das Leben der Menschen, die ich sah, wichtiger als die Erringung dieses Titels war. Wenn ich meinen Titel verlieren müsste, um jemandem das Leben zu retten – und das keine anderen Konsequenzen hätte -, dann würde ich das tun. Jedes Mal. Sie nicht zu retten würde keinem höheren Gut dienen; es wäre einfach nur selbstsüchtig.«

Barasine riss wütend die Augen auf. Nynaeve drehte sich um und begab sich mit einiger Mühe zur Seite des Raumes, wo sie sich auf eine Bank setzen und ausruhen konnte. Die Frauen versammelten sich, um sich leise miteinander zu unterhalten, und Egwene ging noch immer in erhabener Haltung zu Nynaeve hinüber. Die Amyrlin setzte sich neben sie. Obwohl sie an der Prüfung hatte teilnehmen dürfen und einige Erfahrungen erschaffen hatte, die Nynaeve auf die Probe gestellt hatten, blieb die Entscheidung zur Erhebung den anderen überlassen.

»Du hast sie wütend gemacht«, sagte Egwene leise. »Und sie verwirrt.«

»Ich habe die Wahrheit gesagt«, knurrte Nynaeve.

»Vielleicht. Aber ich meinte nicht deinen Ausbruch. Während der Prüfung hast du die Befehle ignoriert.«

»Ich konnte sie nicht ignorieren. Ich habe mich nicht einmal daran erinnert, sie bekommen zu haben. Ich … nun, ich konnte mich zwar an das erinnern, was ich tun sollte, aber nicht an die Gründe.« Nynaeve verzog das Gesicht. »Darum brach ich die Regeln. Ich hielt sie für Willkür. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, warum ich nicht laufen sollte, also erschien es angesichts der Sterbenden einfach nur albern, in aller Ruhe zu gehen.«

»Die Regeln sollten auf jeden Fall Bestand haben, auch wenn man sich nicht daran erinnert«, sagte Egwene. »Und du hättest nicht dazu in der Lage sein sollen, die Macht zu lenken, bevor du den Zielpunkt erreichst. Das liegt in der Natur der Prüfung begründet.«

Nynaeve runzelte die Stirn. »Und wieso …«

»Du hast zu viel Zeit in Tel’aran’rhiod verbracht. Diese Prüfung… sie scheint große Ähnlichkeit mit der Welt der Träume zu haben. Was wir mit unseren Gedanken erschufen, wurde deine Umgebung.« Egwene schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Ich habe sie noch gewarnt, dass das eine Gefahr werden könnte. Deine Erfahrungen in der Welt der Träume haben dich in die Lage versetzt, sich der Prüfung instinktiv zu widersetzen.«

Nynaeve erwiderte nichts; ihr war übel. Und wenn sie nun nicht bestand? Aus der Weißen Burg verbannt wurde, jetzt, nachdem sie so nahe dran gewesen war?

»Aber ich glaube, deine Verstöße könnten dir helfen«, sagte Egwene leise.

»Was?«

»Du bist zu erfahren für diese Prüfung«, erklärte Egwene. »In gewisser Weise sind die Vorkommnisse der Beweis, dass du die Stola verdient hast, als ich sie dir gab. Du hast jedes der Gewebe einwandfrei gewebt, schnell und geschickt. Mir gefiel vor allem, wie du ›nutzlose‹ Gewebe gelegentlich dazu benutzt hast, die Dinge anzugreifen, die du sahst.«

»Der Kampf in den Zwei Flüssen«, meinte Nynaeve. »Das warst du, oder? Die anderen kennen den Ort nicht gut genug, um ihn zu erschaffen.«

»Manchmal kann man Visionen und Situationen aus dem Verstand des Prüflings erschaffen«, sagte Egwene. »Dieses Ter’angreal zu benutzen ist eine seltsame Erfahrung. Ich bin mir nicht sicher, dass ich es richtig verstehe.«

»Aber das mit den Zwei Flüssen warst du.«

»Ja«, gab Egwene zu.

»Und die Letzte. Die mit Lan?«

Egwene nickte. »Es tut mir leid. Ich dachte, wenn ich es nicht mache, wird keiner akzeptieren …«

»Ich bin froh, dass du das getan hast«, sagte Nynaeve. »Es hat mir etwas gezeigt.«

»Tatsächlich?«

Nynaeve nickte, den Rücken gegen die Wand gelehnt, die Decke um sich geschlungen. Sie schloss die Augen. »Wenn ich wählen müsste, Aes Sedai zu werden oder mich an Lans Seite zu stellen, würde ich mich für Lan entscheiden. Wie mich die Leute nennen, ändert nichts daran, was ich bin. Aber Lan … er ist mehr als ein Titel. Selbst wenn ich niemals Aes Sedai werde, kann ich trotzdem die Macht lenken – noch immer ich selbst bleiben. Aber verließe ich ihn, würde ich nie wieder ich selbst sein. Als ich ihn geheiratet habe, hat sich meine Welt verändert. «

Irgendwie fühlte sie sich … befreit, als sie das erkannte und aussprach.

»Dann bete, dass den anderen das nicht klar wird«, sagte Egwene. »Es wäre nicht gut, wenn sie zu dem Schluss kämen, dass du etwas vor die Weiße Burg stellst.«

»Ich frage mich, ob wir der Institution der Burg nicht manchmal mehr Bedeutung zumessen als den Menschen, denen wir dienen«, sagte Nynaeve. »Ich frage mich, ob wir sie nicht zu einem Ziel werden lassen statt zu einem Mittel, das uns dabei helfen soll, größere Ziele zu erreichen.«

»Hingabe ist wichtig, Nynaeve. Die Weiße Burg beschützt und leitet die Welt.«

»Und doch tun es so viele von uns ohne Familien«, sagte Nynaeve. »Ohne Liebe und abgesehen von unseren mannigfaltigen Interessen auch ohne Leidenschaft. Und während wir auf diese Weise versuchen, die Welt zu führen, wenden wir uns von ihr ab. Wir neigen zur Arroganz, Egwene. Wir gehen immer davon aus, dass wir es besser wissen, riskieren dabei aber, dass wir die Menschen nicht mehr verstehen, denen wir zu dienen vorgeben.«

Egwene runzelte die Stirn. »Verkünde diese Ideen nicht zu laut, zumindest nicht heute. Du hast sie auch so schon genug durcheinandergebracht. Aber diese Prüfung war brutal, Nynaeve. Es tut mir leid. Man durfte nicht den Eindruck haben, dass ich dich bevorzuge, aber ich hätte dem ein Ende machen müssen. Du hast getan, was du nicht tun solltest, und das hat die anderen zu ständig wachsender Strenge getrieben. Sie sahen, dass kranke Kinder dich treffen, also ließen sie immer mehr davon in der Prüfung erscheinen. Manche schienen deine Siege wie eine persönliche Beleidigung zu empfinden, ein Ringen der Willenskraft. Das trieb sie zur Strenge. Sogar zur Grausamkeit.«

»Ich habe es überlebt«, sagte Nynaeve mit geschlossenen Augen. »Und ich habe dabei sehr viel gelernt. Über mich. Und über uns.«

Sie wollte eine Aes Sedai sein, in allem anerkannt. Das wollte sie unbedingt. Aber falls diese Schwestern am Ende ihr die Zustimmung verweigerten, dann wusste sie, dass sie trotzdem mit dem weitermachen würde, was getan werden musste.

Schließlich kamen die Sitzenden heran, gefolgt von Rosil. Nynaeve quälte sich auf die Füße, um respektvoll zu sein.

»Wir müssen über die verbotenen Gewebe sprechen, die Ihr eingesetzt habt«, sagte Saerin streng.

»Das ist die einzige Methode, die ich kenne, um Schattenhunde zu vernichten«, erwiderte Nynaeve. »Es war nötig.«

»Zu dieser Entscheidung fehlt Euch das Recht«, sagte Saerin. »Was Ihr getan habt, hat das Ter’angreal destabilisiert. Ihr hättet es zerstören können, Euch damit töten und uns vielleicht auch. Wir wollen, dass Ihr schwört, dieses Gewebe nie wieder zu benutzen.«

»Das werde ich nicht tun«, sagte Nynaeve müde.

»Und wenn es den Unterschied bedeutet, die Stola zu erringen oder sie für alle Zeiten zu verlieren?«

»Dieser Eid wäre dumm«, sagte Nynaeve. »Ich könnte in eine Situation geraten, in der Menschen sterben würden, wenn ich sie nicht einsetze. Beim Licht! Ich werde in der Letzten Schlacht an Rands Seite kämpfen. Was ist, wenn ich vor den Shayol Ghul trete und entdecken muss, dass ich ohne Baalsfeuer dem Drachen nicht helfen kann, den Dunklen König aufzuhalten? Wollt Ihr, dass ich mich zwischen einem albernen Eid und dem Schicksal der Welt entscheide?«

»Ihr glaubt, Ihr geht zum Shayol Ghul?«, fragte Rubinde ungläubig.

»Ich werde da sein«, sagte Nynaeve leise. »Das ist keine Frage. Rand hat mich darum gebeten, obwohl ich auch dann gehen würde, wenn er das nicht getan hätte.«

Die Sitzenden wechselten einen Blick und erschienen besorgt.

»Wenn Ihr mich erhebt«, sagte Nynaeve, »dann müsst Ihr mir einfach meiner Einschätzung über das Baalsfeuer vertrauen. Wenn Ihr mir nicht vertraut, dass ich einschätzen kann, wann ich ein sehr gefährliches Gewebe benutze und wann nicht, dann wäre es mir lieber, Ihr erhebt mich nicht.«

»Ich wäre da vorsichtig«, wandte sich Egwene an die Frauen. »Die Stola der Frau zu verwehren, die dabei geholfen hat, Saidin vom Makel zu reinigen – der Frau, die Moghedien selbst im Kampf besiegt hat, der Frau, die den König von Malkier geheiratet hat -, das wäre ein äußerst heikler Präzedenzfall.«

Saerin sah die anderen an. Drei nickten. Yukiri, Seaine und – überraschenderweise – Romanda. Drei schüttelten den Kopf. Rubinde, Barasine, Lelaine. Damit blieb nur Saerin übrig. Die entscheidende Stimme.

Die Braune wandte ihr den Rücken zu. »Nynaeve al’Meara, ich verkünde, dass Ihr die Prüfung bestanden habt. Wenn auch nur knapp.«

Egwene stieß neben ihr einen fast unhörbaren Seufzer der Erleichterung aus. Nynaeve wurde sich bewusst, dass sie selbst die Luft angehalten hatte.

»Es ist getan«, intonierte Rosil und klatschte laut in die Hände. »Nie soll jemand über das sprechen, was hier geschehen ist. Es ist an uns, das Schweigen mit der zu teilen, die es erlebt hat. Es ist getan.«

Die Frauen nickten zustimmend, selbst jene, die gegen Nynaeve gestimmt hatten. Niemand würde jemals erfahren, dass Nynaeve beinahe durchgefallen wäre. Vermutlich hatte man sie direkt auf das Baalsfeuer angesprochen – statt eine formelle Strafe zu verhängen -, weil die Tradition gebot, nicht von dem zu sprechen, was in dem Ter’angreal geschah.

Rosil klatschte erneut. »Nynaeve al’Meara, Ihr werdet die Nacht im Gebet und in der Meditation über die Bürden verbringen, die Ihr morgen auf Euch nehmen werdet, wenn Ihr die Stola einer Aes Sedai anlegt. Es ist getan.« Sie klatschte ein drittes Mal in die Hände.

»Danke«, sagte Nynaeve. »Aber ich habe bereits meine Stola und …«

Sie unterbrach sich, als ihr Egwene einen finsteren Blick zuwarf. Einen abgeklärten Blick, aber finster war er auf jeden Fall. Vielleicht hatte sie ja die Dinge in dieser Nacht schon weit genug getrieben.

»… freue mich, der Tradition zu folgen «, fuhr Nynaeve fort und vergaß ihren Einwand. »Solange es mir erlaubt ist, vorher noch eine wichtige Sache zu erledigen. Dann kehre ich zurück und erfülle die Tradition.«


Nynaeve benötigte ein Wegetor, um dorthin zu gelangen, wohin sie wollte. Sie hatte darauf verzichtet, den anderen in allen Einzelheiten zu erklären, dass sie die Burg verlassen musste, wenn sie ihre Angelegenheit erledigen wollte. Allerdings hatte sie auch nicht gesagt, dass sie es nicht tun würde.

Sie eilte durch das dunkle Zeltlager, das sich direkt vor einer zur Hälfte fertiggestellten Mauer befand. Der Nachthimmel war wolkenverhüllt und darum dunkel, und am Lagerrand brannten Feuer. Vielleicht zu viele Feuer. Diese Leute hier waren außerordentlich vorsichtig. Glücklicherweise hatten die Wächter ihr kommentarlos den Zutritt zum Lager gewährt. In den richtigen Gegenden konnte der Große Schlangenring wahre Wunder wirken. Sie hatten ihr sogar verraten, wo sich die von ihr gesuchte Frau befand.

Tatsächlich hatte es Nynaeve überrascht, diese Zelte außerhalb der Mauern der Schwarzen Burg zu finden und nicht dahinter. Man hatte diese Frauen losgeschickt, um mit Asha’man den Bund einzugehen, genau wie es Rand angeboten hatte. Aber den Wächtern zufolge hatte man Egwenes Gesandte warten lassen. Die Asha’man hatten behauptet, dass die »anderen die erste Wahl hätten«, was auch immer das zu bedeuten hatte. Vermutlich wusste Egwene mehr darüber; sie hatte den Frauen hier Boten geschickt, vor allem um sie vor den möglicherweise in ihrer Mitte befindlichen Schwarzen Schwestern zu warnen. Jene, die ihnen bekannt gewesen waren, waren vor dem Eintreffen des ersten Boten bereits verschwunden gewesen.

Nynaeve hatte keine Lust, sich nach den näheren Einzelheiten zu erkundigen. Sie hatte eine andere Aufgabe zu erledigen. Sie fand das gesuchte Zelt und verspürte dabei eine derartige Müdigkeit, dass sie das Gefühl hatte, jeden Augenblick umzukippen. In der Nähe streiften ein paar Behüter durch das Lager und musterten sie mit reglosen Mienen.

Das Zelt vor ihr war grau und schlicht. Schatten bewegten sich im gedämpften Lampenschein. »Myrelle«, sagte Nynaeve laut, »ich möchte mit Euch sprechen.« Es überraschte sie, wie stark ihre Stimme klang. Sie hatte nicht den Eindruck gehabt, noch immer über so viel Kraft zu verfügen.

Die Schatten verharrten, dann bewegten sie sich wieder. Der Zelteingang raschelte, ein verwirrtes Gesicht spähte hinaus. Myrelle trug ein beinahe durchsichtiges Nachthemd, und einer ihrer Behüter – ein Bär von einem Mann mit einem dichten schwarzen Bart nach illianischer Mode – saß ohne Hemd auf dem Boden.

»Kind?« Myrelle klang überrascht. »Was tut Ihr denn hier?« Sie war eine Schönheit mit olivfarbener Haut, langen schwarzen Haaren und üppigen Rundungen. Nynaeve musste sich zusammenreißen, nicht nach ihrem Zopf zu greifen. Er war jetzt zu kurz, um daran ziehen zu können. Sich daran zu gewöhnen würde auf jeden Fall schwierig werden.

»Ihr habt etwas, das mir gehört«, sagte Nynaeve.

»Hmmm… das kommt auf den Blickpunkt an, Kind.« Myrelle runzelte die Stirn.

»Man hat mich heute erhoben«, sagte Nynaeve. »Formell. Ich habe die Prüfung bestanden. Wir sind jetzt gleichgestellt, Myrelle.« Den zweiten Teil ließ sie unausgesprochen – dass Nynaeve die stärkere von ihnen beiden war. So gesehen waren sie doch nicht gleichgestellt.

»Kommt morgen wieder«, sagte Myrelle. »Ich bin beschäftigt.« Sie wollte zurück ins Zelt.

Nynaeve griff nach ihrem Arm. »Ich habe mich nie bei Euch bedankt«, sagte sie, auch wenn sie die Zähne zusammenbeißen musste, um die Worte auszusprechen. »Das tue ich hiermit. Er lebt nur wegen Euch. Das ist mir klar. Allerdings ist das nicht der Augenblick, um mich herumzuschubsen, Myrelle. Heute musste ich mit ansehen, wie geliebte Menschen abgeschlachtet wurden, ich war gezwungen, Kinder in einer lebenden Hölle zurückzulassen. Man hat mich verbrannt, gegeißelt und gequält.

Ich schwöre Euch, Frau, wenn Ihr Lans Behüterbund nicht in diesem Moment auf mich übertragt, komme ich in dieses Zelt und bringe Euch die Bedeutung des Wortes Gehorsam bei. Bedrängt mich nicht. Morgen früh lege ich die Drei Eide ab. In dieser Nacht bin ich noch frei von ihnen.«

Myrelle erstarrte. Dann seufzte sie und trat aus dem Zelteingang heraus. »Also gut.« Sie schloss die Augen, webte Geist und schickte die Gewebe in Nynaeve hinein.

Es fühlte sich an, als ramme man einen festen Gegenstand in ihren Verstand. Nynaeve keuchte auf, alles um sie herum drehte sich.

Myrelle wandte sich ab und schlüpfte zurück in ihr Zelt. Nynaeve rutschte an der Seite herunter, bis sie auf dem Boden saß. In ihrem Geist blühte etwas auf. Eine Wahrnehmung. Wunderschön, großartig.

Er war es. Und er lebte noch.

Gesegnetes Licht, dachte sie mit geschlossenen Augen. Danke.

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