Aviendha tat den letzten Schritt und verließ den Wald aus Glassäulen. Sie holte tief Luft, dann schaute sie auf den Pfad zurück, den sie gekommen war.
Der Hauptplatz von Rhuidean war ein ehrfurchtgebietender Anblick. Abgesehen von der genauen Mitte war der ganze Platz mit glatten weißen Steinplatten gefliest. Dort erhob sich ein gewaltiger Baum, dessen weit ausladende Äste in die Höhe griffen, um die Sonne zu umarmen. Der riesige Baum wies eine Perfektion auf, die Aviendha nicht erklären konnte. Da war eine natürliche Symmetrie – keine fehlenden Äste, keine klaffenden Löcher in der Blätterkrone. Das beeindruckte vor allen Dingen deshalb, weil er, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, geschwärzt und verbrannt gewesen war.
In einer Welt, in der andere Pflanzen ohne jede Erklärung abstarben, war der Baum wieder geheilt und schneller erblüht, als möglich hätte sein sollen. Seine Blätter raschelten beruhigend im Wind, und die knorrigen Wurzeln stachen wie die alten Finger eines weisen Greises aus dem Boden hervor. Der Baum entfachte in ihr den Wunsch, sich hinzusetzen und sich im einfachen Frieden des Augenblicks zu sonnen.
Es war, als wäre dieser Baum das Ideal gewesen, nach dessen Muster man alle anderen Bäume erschaffen hatte. In den Legenden nannte man ihn Avendesora. Der Baum des Lebens.
Auf der Seite standen die Glassäulen. Davon gab es Dutzende, vielleicht sogar Hunderte, die konzentrische Kreise bildeten. Von schmaler Statur reichten sie hoch in den Himmel. So natürlich Avendesora war, so unnatürlich waren diese Säulen. Sie waren so schmal und hoch, dass der erste Windstoß sie nach den Gesetzen der Statik hätte umwerfen müssen. Nicht, dass sie bösartig aussahen, lediglich künstlich.
Als Aviendha sie vor einigen Tagen betreten hatte, waren da Gai’schain in Weiß gewesen, die sorgfältig Blätter und Zweige aufhoben. Sobald sie sie erblickten, zogen sie sich auch schon zurück. War sie die Erste, die seit Rhuideans Verwandlung in die Glassäulen ging? Ihr Clan hatte niemanden entsandt, und sie hätte bestimmt gehört, hätte es einer der anderen getan.
Damit blieben nur die Shaido, aber sie hatten Rands Behauptungen über die Vergangenheit der Aiel nicht glauben wollen. Wären Shaido hergekommen, hätten sie vermutlich nicht ertragen können, was sie gezeigt bekamen. Sie wären zur Mitte der Säulen gegangen und nie zurückgekehrt.
Das war bei Aviendha nicht der Fall gewesen. Sie hatte überlebt. Tatsächlich hatte sie nichts Unerwartetes gesehen. Es war beinahe schon enttäuschend gewesen.
Sie seufzte, ging hinüber zum Stamm Avendesoras und schaute in das Geäst hinauf.
Einst war dieser Platz mit anderen Ter’angrealen übersät gewesen; hier hatte Rand die Zugangsschlüssel entdeckt, mit denen er Saidin gereinigt hatte. Dieser Reichtum an Ter’angrealen war verschwunden. Moiraine hatte viele Stücke für die Weiße Burg beansprucht, und die hier lebenden Aiel mussten die anderen genommen haben. Damit blieben nur der Baum, die Säulen und die drei Ringe, durch die Frauen bei ihrer ersten Reise an diesen Ort schritten, die Reise, die sie zu Lehrlingen der Weisen Frauen machte.
An einige Dinge von ihrem Gang durch diese Ringe, der ihr ihr Leben – ihre vielen potenziellen Leben – gezeigt hatte, konnte sie sich noch erinnern. Es waren nur ein paar Bruchstücke hängen geblieben. Das Wissen, dass sie Rand lieben würde, dass sie Schwesterfrauen haben würde. Das Wissen enthielt auch den Eindruck, dass sie hierher zurückkehren würde, nach Rhuidean. Das hatte sie gewusst, obwohl erst das Betreten dieses Platzes einige dieser Erinnerungen wieder zum Leben erweckt hatten.
Mit untergeschlagenen Beinen setzte sie sich zwischen zwei der riesigen Wurzeln. Die leichte Brise war beruhigend, die Luft trocken und vertraut, und der staubige Geruch des Dreifachen Landes erinnerte sie an ihre Kindheit.
Ihr Gang zwischen den Säulen war auf jeden Fall eine tiefgehende Erfahrung gewesen. Sie hatte erwartet, den Ursprung der Aiel mitzuerleben, vielleicht sogar Zeuge des Tages zu werden, als sie als Volk entschieden hatten, zu den Speeren zu greifen und zu kämpfen. Sie hatte mit einer noblen Entscheidung gerechnet, wo die Ehre die vom Weg des Blattes diktierte primitive Lebensweise überkam.
Es hatte sie überrascht, wie banal und beinahe zufällig das Ereignis tatsächlich gewesen war. Keine großen Entscheidungen; nur ein Mann, der nicht zusehen wollte, wie man seine Familie ermordete. In dem Wunsch andere zu verteidigen lag Ehre, aber er war diese Entscheidung nicht mit Ehre angegangen.
Sie legte den Kopf gegen den Baumstamm. Die Aiel verdienten ihre Bestrafung im Dreifachen Land, und als Volk schuldeten sie den Aes Sedai Toh. Sie hatte alles gesehen, was sie erwartet hatte. Aber viele der Dinge, die sie zu erfahren gehofft hatte, hatten gefehlt. Aiel würden diesen Ort noch für Jahrhunderte besuchen, so wie sie es schon seit Jahrhunderten taten. Und jeder von ihnen würde etwas erfahren, das mittlerweile Allgemeingut war.
Das machte ihr sehr zu schaffen.
Sie schaute nach oben und sah den Ästen zu, wie sie sich in der Brise bewegten; ein paar Blätter lösten sich und schwebten zu ihr herunter. Eines streifte ihre Wange, bevor es auf ihrem Schultertuch liegen blieb.
Die Passage durch die Glassäulen war einfach keine Herausforderung mehr. Dieses Ter’angreal war ursprünglich eine Prüfung gewesen. Konnte sich der potenzielle Anführer den dunkelsten Geheimnissen der Aiel stellen und sie akzeptieren? Als Tochter war Aviendha an Körper und Kraft auf die Probe gestellt worden. Eine Weise Frau zu werden stellte gefühlsmäßig und geistig auf die Probe. Aber diese Prüfung gab es jetzt nicht mehr.
Sie gelangte zusehends zu der Überzeugung, dass es Unsinn war, Traditionen um der Tradition willen zu bewahren. Gute Traditionen – starke Aieltraditionen – lehrten den Weg des ji’e’toh, die Methoden des Überlebens.
Seufzend stand Aviendha auf. Der Säulenwald sah aus wie die seltsamen Stangen aus gefrorenem Wasser, die sie während des Winters in den Feuchtlanden gesehen hatte. Eiszapfen, so hatte Elayne sie genannt. Die hier wuchsen vom Boden in die Höhe und zeigten zum Himmel, stellten Dinge der Schönheit und der Macht dar. Es war traurig, mit ansehen zu müssen, wie sie ihre Bedeutung verloren.
Aviendha kam ein Gedanke. Vor ihrem Aufbruch in Caemlyn hatten sie und Elayne eine erstaunliche Entdeckung gemacht. Bei ihr hatte sich ein Talent in der Einen Macht manifestiert: die Fähigkeit, Ter’angreale identifizieren zu können. Konnte sie genau bestimmen, was die Glassäulen eigentlich taten? Sie waren doch sicher nicht speziell für die Aiel erschaffen worden, oder doch? Die meisten Gegenstände mit großer Macht waren uralt. Man würde die Säulen im Zeitalter der Legenden erschaffen und dann dazu eingerichtet haben, den Aiel ihre wahre Vergangenheit zu zeigen.
Sie wussten so wenig über Ter’angreale. Hatten die alten Aes Sedai sie wirklich verstanden, so wie sie genau wusste, wie ein Bogen oder ein Speer funktionierte? Oder hatten sie selbst über die Gegenstände gerätselt, die sie da erschufen? Die Eine Macht war so wunderbar, so geheimnisvoll, dass sich Aviendha manchmal selbst bei der Erschaffung vertrauter Gewebe wie ein Kind fühlte.
Sie stellte sich vor die nächste Glassäule, achtete aber darauf, dabei den Kreis nicht zu betreten. Falls sie eine der Säulen berührte, vielleicht würde ihr Talent sie ja etwas aus ihr herauslesen lassen. Mit Ter’angrealen zu experimentieren war gefährlich, aber sie hatte ihre Herausforderung bereits unbeschadet hinter sich gebracht.
Zögernd streckte sie die Hand aus und legte die Finger auf die glatte, glasige Oberfläche. Die Säule war etwa einen Fuß dick. Aviendha schloss die Augen und versuchte ihre Funktion zu lesen.
Sie spürte die mächtige Aura der Säule. Sie war weitaus kraftvoller als jedes der Ter’angreale, die sie mit Elayne untersucht hatte. Tatsächlich erschienen die Säulen irgendwie … lebendig. Es war beinahe so, als könnte sie ein darin enthaltenes Bewusstsein spüren.
Sie fröstelte. Berührte sie die Säule oder die Säule sie?
Sie versuchte das Ter’angreal zu lesen wie sonst auch, aber das hier war gewaltig. Unverständlich wie die Eine Macht selbst. Von dem schieren Gewicht des Gefühlten überwältigt, holte sie zischend Luft. Es war, als wäre sie plötzlich in eine tiefe finstere Grube gefallen.
Sie riss die Augen auf und zog die zitternde Hand zurück. Dem war sie nicht gewachsen. Sie war nur ein Insekt, das die Größe und Masse eines Berges begreifen wollte. Sie nahm noch einen beruhigenden Atemzug, dann schüttelte sie den Kopf. Hier gab es nichts mehr für sie zu tun.
Sie wandte sich von der Glassäule ab und machte einen Schritt.
Sie war Malidra, achtzehn Jahre alt aber dürr genug, um wesentlich jünger zu erscheinen. Sie kroch in der Dunkelheit. Vorsichtig. Lautlos. Es war gefährlich, sich so nahe an die Lichtmacher heranzuwagen. Der Hunger trieb sie an. Das tat er immer.
Die Nacht war kalt, die Landschaft unfruchtbar. Malidra hatte Geschichten über einen Ort jenseits der fernen Berge gehört, wo das Land grün war und überall Nahrung wuchs. Sie glaubte diese Lügen nicht. Die Berge waren bloß Linien am Himmel, zerklüftete Zähne. Wer konnte schon etwas so Hohes erklimmen?
Vielleicht die Lichtmacher. Für gewöhnlich kamen sie aus dieser Richtung. Ihr Lager lag voraus und glühte in der Dunkelheit. Das Glühen war zu gleichmäßig, um ein Feuer sein zu können. Es kam aus den Kugeln, die sie mit sich trugen. Geduckt schob sie sich näher, mit dreckigen Händen und nackten Füßen. Ein paar Männer und Frauen des Volkes waren bei ihr. Schmutzige Gesichter, strähnige Haare. Struppige Barte bei den Männern.
Nicht zueinander passende Kleidung. Zerlumpte Hosen, Kleidungsstücke, die möglicherweise einst Hemden gewesen waren. Alles, um während des Tages die Sonne abzuhalten, denn die Sonne konnte töten. Und das tat sie auch. Malidra war die letzte von vier Schwestern, zwei waren durch Sonne und Hunger umgekommen, eine durch einen Schlangenbiss.
Aber Malidra überlebte. Sie überlebte begierig. Am besten folgte man dazu den Lichtmachern. Das war gefährlich, aber sie registrierte Gefahren kaum noch. Das passierte eben, wenn buchstäblich alles andere einen töten konnte.
Malidra schob sich an einem Gebüsch vorbei und beobachtete die Wächter der Lichtmacher. Zwei Wachtposten mit ihren langen, stabähnlichen Waffen. Malidra hatte einmal eine bei einem Toten gefunden, hatte aber nichts damit anfangen können. Die Lichtmacher benutzten Magie, die gleiche Magie, mit der sie ihr Essen und ihr Licht erschufen. Magie, die sie in der bitteren Kälte der Nacht wärmte.
Die beiden Männer trugen seltsame Kleidung. Hosen, die viel zu gut passten, Mäntel voller Taschen und funkelnder Metallstücke. Beide trugen Hüte, allerdings hatte der eine ihn vom Kopf geschoben und ließ ihn an einem dünnen Lederriemen um den Hals baumeln. Die Männer plauderten. Sie hatten keine Barte, so wie es beim Volk üblich war. Ihr Haar war dunkler.
Eine Frau vom Volk kam zu nahe, und Malidra zischte sie an. Die Frau warf ihr einen finsteren Blick zu, verzog sich aber dann. Malidra verharrte am Rand des Lichtscheins. Die Lichtmacher würden sie nicht sehen. Ihre seltsamen Glühkugeln zerstörten ihre Nachtsicht.
Malidra musterte ihren gewaltigen Wagen. Es gab keine Pferde. Nur den Wagen, der groß genug war, um ein Dutzend Menschen aufzunehmen. Er bewegte sich auf magische Weise durch das Tageslicht und rollte auf Rädern, die so breit waren wie Malidra hoch. Sie hatte in der bruchstückhaften seltenen Kommunikation des Volkes gehört, dass die Lichtmacher im Osten eine gewaltige Straße erschufen. Sie würde direkt durch die Wüste führen. Man baute sie, indem man seltsame Metallstücke aneinanderlegte. Sie waren zu groß, um sie aus dem Boden zu graben, allerdings hatte Jorshem ihr einen großen Nagel gezeigt, den er gefunden hatte. Er benutzte ihn dazu, Fleisch vom Knochen zu schaben.
Es war schon eine Weile her, dass sie vernünftig gegessen hatte – nicht seit sie vor zwei Jahren diesen Kaufmann im Schlaf hatte töten können. Malidra konnte sich noch immer an das Festmahl erinnern, als sie sich über seine Vorräte hermachte und aß, bis ihr der Bauch wehtat. Ein so seltsames Gefühl. Wundervoll und schmerzhaft.
Die meisten Lichtmacher waren zu vorsichtig, um sie im Schlaf töten zu können. Malidra wagte es nicht, sie anzugreifen, während sie wach waren. Eine wie sie konnten sie mit einem Blick verschwinden lassen.
Nervös und ein paar andere vom Volk im Schlepptau, umrundete sie den Wagen und näherte sich ihm von hinten. Hier hatten die Lichtmacher wie vermutet ein paar Reste ihrer früheren Mahlzeit hingeworfen. Sie kroch nach vorn und fing an, den Müll zu durchstöbern. Da waren ein paar Fleischstücke, Fettstreifen. Begierig schnappte sie sie sich – hielt sie nahe an den Körper, bevor die anderen sie sehen konnten – und stopfte sie in den Mund. Dreck knirschte zwischen ihren Zähnen, aber Fleisch war Essen. Hastig wühlte sie weiter im Abfall herum.
Ein grelles Licht flammte auf und erfasste sie. Sie erstarrte, die Hand auf halbem Weg zum Mund. Die anderen beiden vom Volk schrien auf und eilten geduckt davon. Sie schloss sich ihnen an, stolperte aber. Da war ein zischendes Geräusch – eine der Lichtmacherwaffen -, und etwas schlug gegen ihren Rücken. Es fühlte sich an, als hätte sie ein kleiner Stein getroffen.
Sie brach zusammen, der Schmerz kam plötzlich und scharf. Das Licht verblasste etwas. Sie blinzelte, ihre Augen gewöhnten sich daran, während sie fühlte, wie das Leben aus ihrem Körper und um ihre Hände rann.
»Ich habe es dir doch gesagt«, sagte eine Stimme. Zwei Schatten bewegten sich vor dem Licht. Sie musste laufen! Sie versuchte, es sich vorzustellen, bekam aber nur ein schwaches Zucken zustande.
»Blut und Kohle, Flern«, sagte eine zweite Stimme. Eine Silhouette kniete sich neben sie. »Armes Ding. Fast noch ein Kind. Sie hat keinen Schaden angerichtet.«
Flern schnaubte. »Keinen Schaden? Ich habe erlebt, wie diese Kreaturen versuchten, einem schlafenden Mann die Kehle durchzuschneiden. Bloß um an seinen Müll heranzukommen. Verdammtes Ungeziefer.«
Der andere Schatten sah sie an, und sie erblickte ein grimmiges Gesicht. Funkelnde Augen. Wie Sterne. Der Mann seufzte und stand auf. »Das nächste Mal vergraben wir den Müll.« Er zog sich in das Licht zurück.
Der andere Mann, Flern, blieb stehen und beobachtete sie. War das ihr Blut? Das so warm über ihre Hände floss, wie Wasser, das zu lange in der Sonne gestanden hatte?
Der Tod überraschte sie nicht. In gewisser Weise hatte sie ihn den größten Teil ihrer achtzehn Jahre erwartet.
»Verfluchte Aiel«, sagte Flern, als ihre Sicht erlosch.
Aviendhas Fuß berührte die Steinplatte auf dem Platz von Rhuidean, und sie blinzelte entsetzt. Die Sonne am Himmel hatte ihren Platz verändert. Stunden waren vergangen.
Was war geschehen? Die Vision war so real gewesen, genau wie der Blick auf die frühe Geschichte ihres Volkes. Aber sie konnte darin keinen Sinn erkennen. War sie noch weiter in ihrer Geschichte zurückgegangen? Es war wie das Zeitalter der Legenden erschienen. Die seltsamen Maschinen, die Kleidung und Waffen. Aber es war die Wüste gewesen.
Sie konnte sich genau daran erinnern, Malidra gewesen zu sein. Sie konnte sich an Jahre des Hungers erinnern, an die Nahrungssuche, an den Hass auf die Lichtmacher. An die Furcht. Sie erinnerte sich an ihren Tod. An das Entsetzen, dort in der Falle zu bluten. Das warme Blut auf ihren Händen …
Sie griff sich an den Kopf und verspürte Übelkeit. Tiefes Unbehagen erfüllte sie. Nicht wegen des Todes. Jeder erwachte aus dem Traum, und auch wenn sie das nicht willkommen heißen würde, würde sie es auch nicht fürchten. Nein, das wirklich Schreckliche an dieser Vision war der völlige Mangel an Ehre gewesen, den sie erlebt hatte. Männer für ihre Lebensmittel in der Nacht zu töten? Im Dreck nach weggeworfenem Fleisch zu wühlen? Lumpen zu tragen? Sie war mehr ein Tier als ein menschliches Wesen gewesen!
Da war es besser zu sterben. Sicherlich konnten die Aiel unmöglich solchen Wurzeln entstammen. Die Aiel im Zeitalter der Legenden waren friedliche Diener gewesen, die man geachtet hatte. Wie hätten sie als Müllsammler anfangen können?
Vielleicht war das ja nur eine winzige Gruppe von Aiel gewesen. Oder der Mann hatte sich geirrt. An einer einzigen Vision ließ sich das nicht mit Sicherheit feststellen. Warum hatte man sie ihr gezeigt?
Zögernd entfernte sie sich einen Schritt von den Glassäulen, und nichts passierte. Verstört verließ sie den Platz.
Dann verlangsamte sie ihre Schritte.
Zögernd drehte sie sich wieder um. Die Säulen erhoben sich stumm und allein im schwindenden Licht und schienen mit einer unsichtbaren Energie zu summen.
Gab es da noch mehr?
Diese eine Vision schien so gar nichts mit den anderen zu tun zu haben, die sie erlebt hatte. Wenn sie sich wieder unter die Säulen wagte, würde sich dann wiederholen, was man ihr zuvor gezeigt hatte? Oder … hatte sie womöglich mit ihrem Talent etwas verändert?
In den Jahrhunderten seit der Gründung von Rhuidean hatten diese Säulen den Aiel gezeigt, was sie über sich wissen mussten. Dafür hatten die Aes Sedai gesorgt, nicht wahr? Oder hatten sie das Ter’angreal einfach dort aufgebaut und ihm erlaubt zu tun, was es wollte, in dem Wissen, dass es für Weisheit sorgen würde?
Aviendha lauschte dem Rascheln der Blätter. Diese Säulen waren eine Herausforderung, und zwar so sicher wie ein feindlicher Krieger mit dem Speer in der Hand. Wenn sie sich erneut zwischen sie begab, kam sie womöglich nie wieder heraus; niemand besuchte dieses Ter’angreal ein zweites Mal. Das war verboten. Ein Gang durch die Ringe, einer durch die Säulen.
Aber sie war gekommen, um Wissen zu finden. Und sie würde nicht ohne dieses Wissen gehen. Sie holte tief Luft und trat an die Säulen heran.
Dann machte sie den nächsten Schritt.
Sie war Norlesh. Sie drückte ihr jüngstes Kind an die Brust. Ein trockener Wind zupfte an ihrem Schultertuch. Garivan, der Säugling, fing an zu wimmern, aber sie beruhigte ihn, während ihr Ehemann mit den Außenweltlern sprach.
In der Nähe erhob sich ein Dorf der Außenweltler, eine Reihe Hütten am Fuß der Berge. Sie trugen gefärbte Kleidung und seltsam geschnittene Hosen mit Hemden, die man zuknöpfte. Sie waren für das Erz gekommen. Wie konnten Steine nur so wertvoll sein, dass sie auf dieser Seite der Berge lebten, weit fort von ihrem sagenhaften Land voller Wasser und Nahrung? Fort von ihren Häusern, in denen Licht ohne Kerzen brannte und ihre Karren ohne Pferde fuhren?
Ihr Schultertuch rutschte, und sie zog es hoch. Sie brauchte ein neues; das hier war sehr fadenscheinig, und sie hatte kein Garn mehr, um es zu flicken. Garivan wimmerte auf ihrem Arm, und ihr einziges ebenfalls überlebendes Kind – Meise – klammerte sich an ihren Röcken fest. Meise hatte nun schon seit Monaten kein Wort mehr gesprochen. Nicht seitdem ihr älterer Bruder am Hunger gestorben war.
»Bitte«, sagte ihr Ehemann – Metalan – zu den Außenweltlern. Es waren drei von ihnen, zwei Männer und eine Frau, die alle Hosen trugen. Robuste Leute, gar nicht wie die anderen Fremden mit ihren feinen Zügen und der viel zu empfindlichen Seide, die sie am Leib trugen. Die Erleuchteten, richtig, so nannten sich diese anderen manchmal. Die drei hier waren gewöhnlicher.
»Bitte«, wiederholte Metalan. »Meine Familie …«
Er war ein guter Mann. Oder war es zumindest gewesen, als er noch stark und gesund gewesen war. Jetzt erschien er nur noch wie die Hülle eines Mannes, hatte eingefallene Wangen. Seine einst so strahlenden blauen Augen starrten nun häufig ins Leere. Von Erinnerungen heimgesucht. Dieser Blick kam daher, weil er drei seiner Kinder im Verlauf von achtzehn Monaten hatte sterben sehen. Obwohl Metalan einen Kopf größer als die Außenweltler war, schien er vor ihnen zu kriechen.
Der Anführer – ein Mann mit einem buschigen Bart und großen ehrlichen Augen – schüttelte den Kopf. Er gab Metalan den Sack mit den Steinen zurück. »Die Rabenkaiserin, möge sie ewig atmen, verbietet es. Kein Handel mit Aiel. Wir könnten schon unseren Freibrief verlieren, nur weil wir mit euch sprechen.«
»Wir haben nichts zu essen«, sagte Metalan. »Meine Kinder verhungern. Diese Steine enthalten Erz. Ich weiß, dass ihr genau danach sucht. Ich habe Wochen damit verbracht, sie einzusammeln. Gebt uns etwas zu essen. Irgendetwas. Bitte.«
»Es tut mir leid, mein Freund«, sagte der Anführer der Außenweltler. »Das ist den Ärger mit den Raben nicht wert. Geht weiter. Wir wollen keinen Zwischenfall.« Hinter ihnen kamen mehrere Außenweltler dazu; einer trug eine Axt, zwei andere hatten Zischstäbe.
Ihr Mann sackte in sich zusammen. Tagelanges Wandern, wochenlanges Suchen nach den Steinen. Für nichts. Er drehte sich um und kam zu ihr zurück. In der Ferne ging die Sonne unter. Sobald er sie erreicht hatte, schlossen sie und Meise sich ihm an und entfernten sich vom Lager der Außenweltler.
Meise fing an zu schnaufen, aber keiner von ihnen hatte den Willen oder die Kraft, sie zu tragen. Etwa eine Stunde von dem Lager entfernt fand ihr Mann eine Senke in einem Felsmassiv. Dort setzten sie sich, machten aber kein Feuer. Es gab nichts zu verbrennen.
Norlesh wollte weinen. Aber … es erschien so schrecklich schwer, überhaupt etwas zu empfinden. »Ich bin so hungrig«, flüsterte sie.
»Morgen früh fange ich was«, sagte ihr Ehemann und starrte zu den Sternen hinauf.
»Wir haben schon seit Tagen nichts mehr gefangen«, sagte sie.
Er antwortete nicht.
»Was sollen wir nur tun?«, flüsterte sie. »Seit den Tagen meiner Großmutter Tava konnten wir kein Heim mehr für unsere Leute bewahren. Versammeln wir uns, greifen sie uns an. Wandern wir durch die Wüste, sterben wir. Sie treiben keinen Handel mit uns. Sie lassen uns nicht die Berge überqueren. Was sollen wir tun?«
Seine Erwiderung bestand darin, sich hinzulegen und ihr den Rücken zuzukehren.
Da kamen ihre Tränen, stumm und schwach. Sie rollten ihre Wangen hinunter, während sie das Hemd öffnete, um Garivan zu stillen, obwohl sie keine Milch für ihn hatte.
Er bewegte sich nicht. Er saugte sich nicht an ihr fest. Sie hob seine kleine Gestalt in die Höhe und erkannte, dass er nicht mehr atmete. Irgendwann auf dem Weg zur Senke war er gestorben, ohne dass sie es gemerkt hatte.
Das Erschreckendste daran war, wie schwer es ihr fiel, Trauer für seinen Tod zu empfinden.
Aviendhas Fuß berührte die Steinplatte. Um sie herum schimmerte der Wald aus Glassäulen in prismatischen Farben. Es war, als stünde man mitten in einer Vorstellung der Feuerwerker. Die Sonne stand hoch am Himmel, die Wolkendecke war erstaunlicherweise verschwunden.
Sie wollte den Platz für immer verlassen. Auf das Wissen, dass die Aiel einst dem Weg des Blattes gefolgt waren, war sie vorbereitet gewesen. Dieses Wissen war nicht besonders schlimm. Schließlich würden sie bald ihr Toh erfüllen.
Aber das hier? Diese versprengten und gebrochenen Elendsgestalten? Leute, die nicht für sich eintraten, die bettelten, die nicht wussten, wie man im Land überlebte? Das Wissen, dass das ihre Vorfahren waren, war eine beinahe unerträgliche Schande. Es war gut, dass Rand al’Thor den Aiel diese Vergangenheit nicht enthüllt hatte.
Konnte sie fliehen? Von diesem Platz weglaufen und nicht mehr erfahren? Sollte es noch schlimmer werden, würde die Schande sie überwältigen. Leider wusste sie genau, dass hier nur einen Weg herausführte, jetzt, nachdem sie ihn begonnen hatte.
Mit zusammengebissenen Zähnen machte sie den nächsten Schritt.
Sie war Tava, vierzehn Jahre alt. Sie lief schreiend in die Nacht hinaus, fort von ihrem brennenden Haus. Das ganze Tal – eigentlich war es eine Schlucht mit steilen Wänden – stand in Flammen. Jedes Gebäude in der erst kürzlich gegründeten Festung war in Brand gesteckt worden. Albtraumhafte Kreaturen mit biegsamen Hälsen und breiten Schwingen flatterten durch die Nacht und trugen Reiter mit Bögen, schweren und seltsamen neuen Waffen, die beim Schießen zischende Geräusche machten.
Tava schrie und suchte nach ihrer Familie, aber in der Festung herrschte nur Chaos und Verwirrung. Ein paar Aiel-Krieger leisteten Widerstand, aber jeder, der den Speer hob, fiel nur Augenblicke später, getötet von einem Pfeil oder einem der unsichtbaren Schüsse aus diesen neuen Waffen.
Vor ihr starb ein Aielmann, und seine Leiche rollte über den Boden. Sein Name war Tadvishm gewesen, ein Steinhund. Das war eine der wenigen Gemeinschaften, die noch an einer Identität festhielten. Die meisten Krieger gehörten nicht länger einer Gemeinschaft an; sie wurden Bruder oder Schwester von jenen, mit denen sie gerade lagerten. Viel zu oft wurden diese Lager sowieso in alle Himmelsrichtungen verstreut.
Diese Festung hatte anders sein sollen, sie war geheim gewesen, hatte tief in der Wüste gelegen. Wie hatten ihre Feinde sie finden können?
Ein nur zwei Jahre altes Kind weinte. Sie rannte zu ihm und riss es auf die Beine, da es in der Nähe der Flammen lag. Ihre Häuser brannten. Das Holz war unter großen Schwierigkeiten in den Bergen am Ostrand der Wüste zusammengestohlen worden.
Sie hielt das Kind an den Körper und rannte auf die Kluft in der Schlucht zu. Wo war ihr Vater? Mit einem plötzlichen Rascheln landete eine der Albtraumkreaturen vor ihr, und der Windstoß blähte ihren Rock auf. Auf dem Rücken der Kreatur saß ein furchteinflößender Krieger. Sein Helm erinnerte an ein Insekt mit scharfen und gezackten Mandibeln. Er richtete den zischenden Stab auf sie. Sie schrie entsetzt auf, krümmte sich um das schluchzende Kind und schloss die Augen.
Das Zischen ertönte nie. Ein Grunzen und das plötzliche Aufkreischen der schlangenartigen Bestie ließ sie aufsehen. Eine Gestalt kämpfte mit dem Außenweltler. Der Feuerschein zeigte das Gesicht ihres Vaters, der den Geboten der Tradition zufolge glatt rasiert war. Die Bestie bäumte sich unter den beiden Männern auf und schleuderte beide zu Boden.
Wenige Augenblicke später erhob sich ihr Vater mit dem Schwert des Angreifers in seinen Händen; die Klinge war dunkel verfärbt. Der Angreifer rührte sich nicht, und hinter ihnen sprang die Bestie heulend in die Luft. Tava schaute auf und sah, dass sie dem Rest des Rudels folgte. Die Invasoren zogen sich zurück und hinterließen ein gebrochenes Volk mit brennenden Häusern.
Sie schaute wieder nach unten. Der Anblick entsetzte sie; so viele Leichen, Dutzende lagen blutend am Boden. Der Angreifer, den ihr Vater getötet hatte, schien der einzige gefallene Feind zu sein.
»Holt Sand!«, brüllte ihr Vater Rowahn. »Erstickt die Flammen!«
Groß selbst für einen Aiel und mit eindrucksvollen roten Haaren, trug er die alte Kleidung in dunklen und hellen Brauntönen, die Stiefel hoch bis zu den Knien verschnürt. Diese Kleidung zeichnete einen als Aiel aus, darum hatten viele auf sie verzichtet. Als Aiel erkannt zu werden, bedeutete den Tod.
Ihr Vater hatte seine Kleidung von seinem Großvater geerbt, zusammen mit einem Auftrag. Folge den alten Wegen. Vergiss Ji’e’toh nicht. Kämpfe und halte die Ehre aufrecht. Auch wenn er nur wenige Tage in der Festung gewesen war, hörten die anderen auf ihn, als er ihnen befahl, die Brände zu löschen. Tava brachte das Kind einer dankbaren Mutter zurück und half dann Sand und Dreck zu sammeln.
Ein paar Stunden später versammelten sich müde und blutverschmierte Menschen in der Mitte der Schlucht und betrachteten mit stumpfen Blicken, wofür sie monatelang geschuftet hatten. Es war in einer einzigen Nacht ausgelöscht worden. Ihr Vater trug noch immer das Schwert. Er benutzte es, um die Menschen zu dirigieren. Einige der Alten behaupteten, dass ein Schwert Pech brachte, aber warum behaupteten sie das? Es war doch nur eine Waffe.
»Wir müssen alles wieder aufbauen«, sagte ihr Vater und musterte die Trümmer.
»Wieder aufbauen?«, wiederholte ein rußverschmierter Mann. »Der Kornspeicher brannte als Erstes! Es gibt nichts zu essen!«
»Wir werden überleben«, sagte ihr Vater. »Wir können tiefer in die Wüste hineingehen.«
»Es gibt nichts mehr, wo man hingehen kann!«, sagte ein anderer Mann. »Das Rabenkaiserreich hat sich mit den Fernen verständigt, und sie jagen uns an der Ostgrenze!«
»Sie finden uns, wo auch immer wir uns versammeln!«, rief noch ein anderer.
»Das ist eine Strafe!«, sagte ihr Vater. »Aber wir müssen durchhalten!«
Die Leute sahen ihn an. Dann wandten sie sich paarweise oder in kleinen Gruppen von ihm ab und gingen.
»Wartet«, sagte ihr Vater und hob die Hand. »Wir müssen zusammenbleiben, weiter kämpfen! Der Clan …«
»Wir sind kein Clan!«, sagte ein mit Asche beschmierter Mann. »Allein kann ich besser überleben. Keine Kämpfe mehr. Sie besiegen uns, wenn wir kämpfen.«
Ihr Vater senkte das Schwert, und seine Spitze traf auf den Boden. Tava stellte sich neben ihn und sah besorgt zu, wie die anderen in der Nacht verschwanden. Die Luft war noch immer voller Rauch. Die gehenden Aiel waren Schatten, die mit der Dunkelheit verschmolzen wie Staubwolken im Wind. Sie blieben nicht stehen, um ihre Toten zu begraben.
Ihr Vater senkte den Kopf und ließ das Schwert auf den aschebedeckten Boden fallen.
Tränen standen in Aviendhas Augen. Man musste sich nicht schämen, um wegen dieser Tragödie zu weinen. Sie hatte die Wahrheit gefürchtet, und sie konnte sie nicht länger verneinen.
Das waren seanchanische Angreifer gewesen, die auf Raken ritten. Das Rabenkaiserreich, die Lichtmacher aus ihrer ersten Vision, waren die Seanchaner -, und es hatte sie vor der Mitte des derzeitigen Zeitalters, als Artur Falkenflügels Heere den Ozean überquert hatten, nicht gegeben.
Also sah sie gar nicht die tiefe Vergangenheit ihres Volkes. Sie sah seine Zukunft.
Bei ihrem ersten Aufenthalt zwischen den Säulen hatte sie jeder Schritt zurückgeführt, sie durch die Zeit ins Zeitalter der Legenden gebracht. Anscheinend hatten die Visionen dieses Mal an einem fernen Punkt der Zukunft begonnen und arbeiteten sich nun zu ihrer Zeit zurück; jede Vision sprang eine oder zwei Generationen zurück.
Mit tränenüberströmten Gesicht tat sie den nächsten Schritt.