29 Ein schreckliches Gefühl

Was hat Perrin für einen Plan, was glaubt Ihr?«, fragte Berelain, die neben Faile und Alliandre ging. Faile antwortete nicht. Die ferne, von Wolken verborgene Sonne erfüllte den späten Nachmittag mit weichem Licht. Bald würde sie den Horizont verbrennen, wenn sie für die Nacht versank. In zwei Tagen würde sich Perrin dem Gericht stellen. Er hatte das absichtlich verzögert, um den Asha’man mehr Zeit zu geben, dem seltsamen Problem mit den Wegetoren auf den Grund zu gehen, das wusste sie.

Ihr Heer wuchs noch immer, ständig strömten Menschen zu ihnen. Kundschafterberichte wiesen darauf hin, dass auch die Streitmacht der Weißmäntel wuchs. Langsamer, aber unaufhaltsam. In Zeiten wie diesen war ein Heer ein Symbol für Stärke und – zumindest – etwas zu essen.

Eine Gruppe Fingerwurzelbäume übersättigte sich mit dem Wasser des Flusses in der Nähe von Perrins Kriegslager. Diese Pflanzen, die ihre Wurzeln ins Wasser tauchten, waren so seltsam. Baumstämme wie aus flüssigem Glas, das beim Erstarren Bündel bildete. Oben in Saldaea gab es nichts Vergleichbares. Es hatte den Anschein, als könnten einen hier zwei falsche Schritte in einen Sumpf locken.

»Keine Antwort für mich?«, fragte Berelain. Irgendwie schien sie in den letzten Tagen abgelenkt zu sein. »Ich habe nachgedacht. Vielleicht wäre es von Vorteil, einen Abgesandten zum Heer der Weißmäntel zu schicken. Glaubt Ihr, Perrin würde mir erlauben, zu ihnen zu gehen und mit ihnen zu sprechen? Vielleicht könnte ich zu seinen Gunsten appellieren.«

Dieses Thema brachte sie immer wieder zur Sprache. »Nein«, sagte Faile. »Ihr wisst doch, dass seine Entscheidung gefallen ist, was diese Gerichtsverhandlung angeht, Berelain. «

Die Erste schürzte die Lippen, verfolgte das Thema aber nicht weiter. Die drei Frauen wurden von zehn Töchtern begleitet. Einst hätte sich Faile vielleicht über die Aufmerksamkeit beschwert. Bevor man sie so unerwartet und mühelos entführt hatte.

In der Ferne sah sie eine kleine Gruppe Flüchtlinge das Lager verlassen und querfeldein nach Südosten gehen. Man hatte ungefähr zehntausend in die ländlichen Gegenden von Cairhien schicken können, bevor die Wegetore versagten. Sie alle hatten den Befehl erhalten, sich ruhig zu verhalten. Perrin wollte nicht, dass sein Aufenthaltsort vorzeitig bekannt wurde. Die Frauen würden den Mund halten, aber natürlich würde die Männer klatschen; so waren sie nun einmal.

Nur wenigen war bekannt, dass die Wegetore versagten; Perrin hatte allgemein verkündet, dass er die Asha’man ausgeruht brauchte für den Fall, gegen die Weißmäntel kämpfen zu müssen. Das stimmte auch. Aber einige der Flüchtlinge hatten gebeten, gehen zu dürfen, und brachen zu Fuß auf. Ihnen hatte Faile Gold oder Juwelen aus Sevannas Hort gegeben und Glück gewünscht. Es hatte sie überrascht, wie viele von ihnen in eine Heimat zurückkehren wollten, die in von den Seanchanern kontrollierten Ländern lag.

Trotzdem wuchs die Größe von Perrins Streitmacht jeden Tag. Faile und die anderen passierten eine große Gruppe, die sich im Schwertkampf übte. Die Flüchtlinge, die sich zu einer solchen Ausbildung entschieden hatten, zählten nun ungefähr fünfundzwanzigtausend Köpfe. Sie übten bis spät am Tag, und Faile konnte noch immer Tams gebellte Befehle hören.

»Nun«, nahm Berelain wieder den Faden auf, »was wird Perrin tun? Warum sich diesem Verfahren stellen? Er will etwas von diesen Weißmänteln.« Sie trat um eine knorrige Fingerwurzel herum. Wie so viele andere las die Erste viel mehr in Perrins Taten hinein, als es da zu finden gab. Es hätte ihn amüsiert, die vielen Pläne zu erfahren, die man ihm zuschrieb.

Und sie will Männer verstehen, dachte Faile. Perrin war alles andere als dumm, und er war auch bei weitem nicht der einfach gestrickte Mann, als den er sich gern hinstellte. Er plante, er dachte nach, und er war sorgfältig. Aber er war auch direkt. Überlegt. Wenn er etwas sagte, dann meinte er es auch so.

»Ich stimme Berelain zu«, sagte Alliandre. »Wir sollten einfach aufbrechen. Oder diese Weißmäntel angreifen.«

Faile schüttelte den Kopf. »Es macht Perrin zu schaffen, wenn die Leute glauben, dass er etwas Falsches tat. Solange die Weißmäntel weiterhin darauf beharren, dass er ein Mörder ist, ist sein Name nicht makellos.« Er war stur und dumm, aber es hatte auch etwas Edles.

Solange er nicht daran starb. Allerdings liebte sie ihn für dieses Ehrgefühl. Ihn ändern zu wollen wäre ein schlechter Rat gewesen, also musste sie dafür sorgen, dass andere ihn nicht ausnutzten.

Wie immer trat ein seltsamer Blick in Berelains Augen, wenn sie über die Weißmäntel sprachen, und sie schaute möglicherweise unbewusst in die Richtung ihres Lagers. Beim Licht. Sie würde doch nicht noch einmal fragen, ob sie mit ihnen sprechen durfte? Bis jetzt hatte sie ein Dutzend verschiedene Gründe gefunden, warum sie das wollte.

Faile bemerkte eine große Gruppe Soldaten, die versuchten, unauffällig auszusehen, während sie eine Runde im Lager drehten und bestrebt waren, mit Faile und ihren Leibwächtern Schritt zu halten. Perrin wollte sie ausreichend beschützt wissen.

»Dieser junge Kommandierende Lordhauptmann«, sagte Alliandre nachdenklich. »Diese weiße Uniform stand ihm wirklich gut, findet Ihr nicht? Falls man über diese Sonne auf seinem Umhang hinwegsehen kann. So ein hübscher Mann.«

»Ach?«, erwiderte Berelain. Überraschenderweise röteten sich ihre Wangen.

»Ich hatte schon gehört, dass Morgases Stiefsohn ein ansehnlicher Mann ist«, fuhr Alliandre fort. »Aber ich hätte nie erwartet, dass er so … makellos ist.«

»Wie eine Marmorstatue«, flüsterte Berelain, »ein Relikt aus dem Zeitalter der Legenden. Ein perfektes Werk, für uns zurückgelassen. Damit wir es anbeten.«

»Er ist ganz passabel«, sagte Faile mit einem Schnauben. »Ich persönlich ziehe ein bärtiges Gesicht vor.«

Das war nicht einmal gelogen – sie liebte ein bärtiges Gesicht, und Perrin war ansehnlich. Er verfügte über eine stattliche Kraft, die ziemlich anziehend war. Aber dieser Galad Damodred war… nun, ihn mit Perrin zu vergleichen war nicht gerecht. Das war so, als würde man ein Buntglasfenster mit einem von einem Meisterschreiner gefertigten Schrank vergleichen. Beide waren ausgezeichnete Beispiele ihres Handwerks, und es fiel schwer, sie gegeneinander aufzuwiegen. Allerdings glänzte das Fenster zweifellos.

Berelains Miene erschien gedankenverloren. Damodred hatte ihr definitiv gefallen. Dabei war das in so kurzer Zeit passiert. Faile hatte Berelain gesagt, dass es für die Gerüchte hilfreich sein würde, einen anderen Mann für ihre Aufmerksamkeiten zu finden. Aber den Hauptmann der Weißmäntel? Hatte die Frau jetzt völlig den Verstand verloren?

»Also was machen wir?«, fragte Alliandre, als sie an der südlichen Lagerseite vorbeistreiften und damit den halben Weg zu ihrem Ausgangspunkt zurückgelegt hatten.

» Mit den Weißmänteln?«, fragte Faile.

»Mit Maighdin«, sagte Alliandre. »Morgase.«

Faile schüttelte den Kopf. »Ich werde einfach das Gefühl nicht los, dass sie meine Freundlichkeit schamlos ausgenutzt hat. Nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, verrät sie mir nicht, wer sie ist?«

»Ihr scheint Euch entschlossen zu haben, ihr nur wenig zuzugestehen«, meinte Berelain.

Faile schwieg. Sie hatte über Perrins Worte nachgedacht, und er hatte vermutlich recht. Sie hätte nicht so wütend auf sie sein sollen. Falls Morgase tatsächlich vor einem der Verlorenen geflohen war, dann war es ein Wunder, dass sie noch lebte. Davon abgesehen hatte sie ihre wahre Identität selbst dann noch verschwiegen, als sie Perrin kennengelernt hatte.

In Wahrheit lag Failes Zorn in der Tatsache begründet, dass Morgase über Perrin richten würde. Sie erdreistete sich, über Perrin zu richten. Maighdin, die Dienerin, mochte möglicherweise dankbar sein, aber Morgase, die Königin, würde Perrin als Rivalen sehen. Würde Morgase diesen Prozess wirklich unvoreingenommen betrachten, oder würde sie die Chance ergreifen, einen Mann zu diskreditieren, der sich selbst zum Lord gemacht hatte?

»Ich fühle da genauso wie Ihr, meine Lady«, sagte Alliandre leise.

»Wie denn?«

»Ich fühle mich hintergangen«, sagte Alliandre. »Maighdin war unsere Freundin. Ich dachte, ich würde sie kennen.«

»Ihr hättet in dieser Situation genau das Gleiche getan«, meinte Berelain. »Warum ohne Not diese Information preisgeben?«

»Weil wir Freundinnen waren«, sagte Alliandre. »Nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, stellt sich heraus, dass sie Morgase Trakand ist. Nicht nur eine Königin, sondern die Königin. Die Frau ist eine Legende. Und sie war hier bei uns und servierte uns Tee. Und das schlecht.«

»Ihr müsst zugeben«, meinte Faile nachdenklich, »dass sie mit dem Tee besser geworden ist.«

Sie griff sich an den Hals und berührte die Schnur mit Rolans Stein. Sie trug ihn nicht jeden Tag, aber sie tat es oft genug. Hatte Morgase die ganze Zeit, die sie zusammen bei den Shaido verbracht hatten, alles nur vorgetäuscht? Oder war sie in gewisser Weise viel wahrhaftiger gewesen? Ohne Titel, dem man gerecht werden musste, war sie nicht gezwungen gewesen, die »legendäre« Morgase Trakand zu sein. Zeigte sich die wahre Persönlichkeit unter solchen Umständen nicht viel eher?

Faile schloss die Finger um die Schnur. Morgase würde sich bei dem Prozess nicht aus Bosheit gegen Perrin wenden. Aber sie würde ein unvoreingenommenes Urteil fällen. Was bedeutete, dass Faile vorbereitet sein musste und …

In der Nähe ertönten Schreie.

Faile reagierte sofort und fuhr zum Wald herum. Instinktiv wappnete sie sich dagegen, dass Aiel aus den Büschen sprangen, um zu töten und Gefangene zu machen, und sie verspürte einen Augenblick der nackten Panik.

Aber die Schreie kamen aus dem Lagerinneren. Fluchend drehte sie sich um, fühlte aber, wie etwas an ihrem Gürtel zerrte. Überrascht schaute sie nach unten und sah, wie sich ihr Messer aus der Scheide schob und in die Luft stieg.

»Eine Blase des Bösen!«, stieß Berelain hervor und stolperte zur Seite.

Faile duckte sich und warf sich zu Boden, als das Messer herumwirbelte und auf ihren Kopf zuschoss. Es verfehlte sie nur knapp. Als sie wieder in der Hocke hochkam, entdeckte sie überrascht, dass Berelain einem Dolch gegenüberstand, der sich dem Schaden an ihrem Gewand nach zu urteilen aus einer in ihrem Ärmel verborgenen Scheide losgerissen hatte.

Hinter Berelain war das Lager in Aufruhr. Die in der Nähe übenden Flüchtlinge stoben auseinander, Schwerter und Speere kreiselten aus eigenem Antrieb durch die Luft. Anscheinend war jede Waffe im Lager plötzlich zum Leben erwacht und griff ihren Herrn an.

Eine Bewegung. Faile wich zur Seite aus, als ihr Messer erneut auf sie zukam, aber eine weißhaarige Gestalt in Braun riss die Waffe aus der Luft und hielt sie mit festem Griff. Sulin rollte sich damit herum und klammerte sich daran fest; mit zusammengebissenen Zähnen hämmerte sie sie gegen einen Stein und brach die Klinge vom Griff ab.

Das Messer hörte auf sich zu bewegen, dafür lösten sich Sulins Speere von ihrem Platz auf ihrem Rücken und wirbelten in der Luft herum, bis die Spitzen auf sie zeigten.

»Lauft!«, befahl die Tochter und versuchte alle drei Speere gleichzeitig ins Auge zu fassen.

»Wohin?«, wollte Faile wissen und hob einen Stein vom Boden auf. »Die Waffen sind überall.« Berelain rang mit ihrem Dolch. Sie hatte ihn gepackt, aber er kämpfte mit ihr, zerrte ihre Arme von einer Seite zur anderen. Alliandre wurde von drei Messern umkreist. Beim Licht! Plötzlich war Faile sehr froh, an diesem Tag nur eines eingesteckt zu haben.

Mehrere Töchter rannten auf Alliandre zu, um ihr zu helfen, warfen Steine nach den Messern und wichen Speeren aus, die nach ihnen stachen. Berelain war allein.

Faile biss die Zähne zusammen und sprang mit dem Gefühl, eigentlich eine Närrin zu sein, weil sie der Frau helfen wollte, die sie hasste, an Berelains Seite, ergriff ihre Hände und lieh der Ersten ihre Kraft. Gemeinsam rangen sie den Dolch zum Boden und rammten seine Spitze in die Erde. Erstaunlicherweise hörte seine Bewegung sofort auf.

Faile ließ ihn zögernd los, dann betrachtete sie die zerzauste Berelain. Die Frau drückte die rechte Hand auf die andere Handfläche und versuchte den Blutfluss aus einem Schnitt zu stoppen. Sie nickte Faile zu. »Vielen Dank.«

»Was hat ihn aufgehalten?«, fragte Faile mit pochendem Herzen. Überall aus dem Lager ertönten Rufe. Flüche. Klirrende Waffen.

»Die Erde?«, fragte Berelain.

Faile grub die Finger in die Erde. Alarmiert entdeckte sie, dass eine der Töchter am Boden lag, obwohl die anderen mehrere der fliegenden Speere abgewehrt hatten. Faile warf eine Handvoll Erde auf einen, der noch immer durch die Luft wirbelte.

Als die Erde den Speer berührte, fiel die Waffe zu Boden. Sulin sah es mit weit aufgerissenen Augen hinter dem Schleier. Sie ließ die Steine in ihrer Hand fallen, grub eine Handvoll aus dem Boden und warf sie, als ein Speer auf ihr Herz zielte.

Er fiel aus der Luft. Die Soldaten, die Faile und den anderen gefolgt waren, um sie zu beschützen, waren in Bedrängnis. Sie hatten sich im Kreis aufgestellt und wehrten die herabschießenden Waffen mit den Schilden ab, während sie sich mit besorgten Mienen zusammenkauerten.

»Schnell!«, rief Faile den Töchtern zu und grub beide Hände in den Boden. »Verbreitet die Nachricht! Sagt den anderen, wie man die Waffen aufhalten kann!« Sie fing an, die Dolche neben Alliandre mit Erde zu bewerfen, fällte zwei mit einem Wurf und rannte dann auf die Soldaten zu.


»Eine Entschuldigung ist nicht nötig, Galad«, sagte Morgase leise. »Du konntest nicht wissen, was in der Festung des Lichts geschieht. Du warst meilenweit weg.«

Sie saßen einander gegenüber in seinem Zelt, und das Licht des späten Nachmittags schimmerte auf den Tuchwänden. Galad hatte die Hände verschränkt und beugte sich vor. So nachdenklich. Sie erinnerte sich an ihren ersten Eindruck von ihm, als sie vor langer Zeit seinen Vater geheiratet hatte. Das kleine Kind war einfach ein Teil der Vereinbarung gewesen, und obwohl Morgase ihn adoptiert hatte, hatte sie sich stets Sorgen gemacht, dass er sich weniger geliebt fühlte als seine Geschwister.

Galad war immer so ernst gewesen. Hatte so schnell angezeigt, wenn jemand etwas Falsches tat. Aber im Gegensatz zu den anderen Kindern – vor allem Elayne – hatte er dieses Wissen nie als Waffe benutzt. Sie hätte es erkennen müssen. Sie hätte wissen müssen, dass ihn die Weißmäntel mit ihrer Sichtweise einer Welt in Schwarz und Weiß anziehen mussten. Hätte sie ihn besser vorbereiten können? Ihm zeigen, dass die Welt nicht schwarz und weiß war – dass sie nicht einmal grau war? Sie war voller Farben, die nur manchmal in kein Spektrum der Moral passten.

Mit noch immer verschränkten Händen und sorgenvollem Blick schaute er auf. »Ich habe Valda zu Unrecht beschuldigt. Als ich zu ihm ging, verlangte ich einen Kampf unter dem Licht, weil er dich missbraucht und getötet hatte. Die Hälfte der Beschuldigung war falsch. Ich tat etwas, als ich mich im Irrtum befand, zumindest teilweise. Aber trotz dieser Tatsache bin ich froh, dass ich ihn getötet habe.«

Ihr stockte der Atem. Valda war angeblich einer der besten Schwertkämpfer der Welt gewesen. Und Galad hatte ihn im Duell besiegt? Dieser Junge? Aber er war kein Junge mehr. Galad hatte seine Entscheidungen getroffen, und es fiel ihr sehr schwer, ihn dafür zu verurteilen. In mancherlei Hinsicht schienen sie bewundernswerter als ihre eigenen Entscheidungen zu sein.

»Du hast richtig gehandelt«, sagte sie. »Valda war eine Schlange. Ich bin davon überzeugt, dass er für Nialls Tod verantwortlich war. Galad, du hast der Welt einen Dienst erwiesen.«

Er nickte. »Er hat für seine Taten den Tod verdient. Aber ich werde trotzdem eine Erklärung abgeben.« Er stand auf, verschränkte die Hände hinter dem Rücken, als er auf und ab schritt; seine weiße Kleidung schien im Licht zu leuchten. »Ich werde erklären, dass meine Mordanklage falsch war, aber dass Valda wegen anderer Verbrechen trotzdem den Tod verdiente. Schlimmer Verbrechen.« Er blieb kurz stehen. »Ich wünschte, ich hätte das gewusst.«

»Es gab nichts, was du hättest tun können, mein Sohn«, sagte sie. »Meine Gefangenschaft war meine eigene Schuld. Denn ich vertraute meinen Feinden.«

Galad winkte ab. »Gaebril konnte man nicht widerstehen, wenn es stimmt, was du gehört hast. Was deine Gefangenschaft angeht, du hast nicht deinen Feinden vertraut. Du wurdest wie wir alle von Valda verraten. Die Kinder sind nie die Feinde einer Person, die im Licht schreitet.«

» Und Perrin Aybara?«

» Schattengezücht.«

»Nein, mein Sohn. Mir gefallen einige der Dinge nicht, die er tut, aber ich sage dir, er ist ein guter Mann.«

»Dann wird das der Prozess beweisen«, sagte Galad.

»Gute Männer können Fehler begehen. Wenn du damit weitermachst, könnte es auf eine Weise enden, die keiner von uns haben will.«

Galad blieb abrupt stehen und runzelte die Stirn. »Mutter, willst du andeuten, dass man ihn mit seinem Verbrechen entkommen lassen sollte?«

»Komm.« Sie gestikulierte. »Setz dich wieder. Dein ständiges Herumgelaufe macht mich ganz schwindlig.«

Vielleicht war er erst kürzlich in den Rang des Kommandierenden Lordhauptmanns aufgestiegen, aber sich einen Befehl anhören zu müssen schien ihn bereits zu stören. Allerdings setzte er sich.

Seltsamerweise kam sie sich wieder wie eine Königin vor. Galad hatte sie während der harten Monate nicht gesehen. Für ihn war sie die alte Morgase, darum kam sie sich in seiner Nähe auch wie die alte Morgase vor. Jedenfalls beinahe.

Niall hatte sie als Gefangene behandelt, sie aber auch respektiert, und sie hatte damals den Eindruck gewonnen, ihn möglicherweise auch respektieren zu können. Was war wohl aus dem Spielbrett geworden, auf dem sie und Niall so oft eine Partie Steine gespielt hatten? Die Vorstellung, dass es beim Angriff der Seanchaner zerbrochen war, erfüllte sie mit Unmut.

Würde Galad ein Kommandierender Lordhauptmann wie Niall werden oder vielleicht sogar noch besser? Die Königin in ihr, die wiedererweckte Königin, wollte eine Möglichkeit finden, sein Licht zum Vorschein zu bringen und den Schatten zu verbannen.

»Galad«, sagte sie. »Was wirst du tun?«

»Wegen der Gerichtsverhandlung?«

» Nein. Mit deinem Heer.«

»Wir kämpfen in der Letzten Schlacht.«

»Bewundernswert. Aber weißt du, was das bedeutet?«

»Es bedeutet, an der Seite des Wiedergeborenen Drachen zu kämpfen.«

»Und an der Seite der Aes Sedai.«

»Wir können eine Weile an der Seite der Hexen dienen, wenn es dem Allgemeinwohl nutzt.«

Sie schloss die Augen und atmete aus. »Galad, hör doch einmal, was du da sagst. Du bezeichnest sie als Hexen? Du bist zu ihnen gegangen, um bei ihnen zu lernen, vielleicht sogar ein Behüter zu werden!«

»Ja.«

Sie öffnete die Augen. Er schien so ernst zu sein. Aber selbst der tödlichste und gewalttätigste Hund konnte ernst sein. »Weißt du, was sie mit Elayne gemacht haben, Mutter?«

»Du meinst sie zu verlieren?« Darüber war Morgase noch immer wütend.

»Sie haben sie auf Missionen geschickt«, sagte er angewidert. »Sie haben mir verweigert, sie zu sehen, vermutlich weil sie sich irgendwo in der Welt in Gefahr brachte. Ich bin ihr später begegnet, außerhalb der Burg.«

»Wo war sie?«, fragte Morgase begierig.

»Hier im Süden. Meine Männer bezeichnen die Aes Sedai als Hexen. Manchmal frage ich mich, ob das wirklich so sehr von der Wahrheit entfernt ist.«

»Galad …«

»Nicht alle Frauen, die über die Eine Macht gebieten, sind grundsätzlich böse«, sagte er. »Das ist ein lange bewahrter Irrtum der Kinder. Der Weg des Lichts stellt diese Behauptung nicht auf; dort steht nur, dass die Versuchung, die Eine Macht zu benützen, korrumpieren kann. Ich bin der Ansicht, dass die Frauen, die jetzt in der Weißen Burg den Befehl haben, sich von ihren Plänen und selbstsüchtigen Intrigen blenden ließen. «

Sie nickte, weil sie darüber nicht diskutieren wollte. Man konnte dem Licht dafür danken, dass Elaida nicht hier war, um diese Logik zu hören!

»Aber egal. Wir werden an ihrer Seite kämpfen, und an der des Wiedergeborenen Drachen. Und an der dieses Perrin Aybara, falls es nötig ist. Der Kampf gegen den Schatten übertrifft alle anderen Sorgen.«

»Dann lass uns gemeinsam in diesen Kampf eintreten!«, sagte sie. »Galad, vergiss diesen Prozess! Aybara will einen Teil seines Heeres auflösen und den Rest an al’Thor übergeben.«

Er erwiderte ihren Blick und nickte dann. »Ja, ich erkenne jetzt, dass das Muster dich zu mir geführt hat. Wir reisen mit dir. Nachdem dieser Prozess zu Ende ist.«

Sie seufzte.

»Das ist nicht meine Entscheidung«, sagte Galad und stand wieder auf. »Aybara hat selbst vorgeschlagen, dass man ihn vor Gericht stellt. Diesem Mann macht sein Gewissen zu schaffen, und es wäre falsch, ihm diese Gelegenheit zu verweigern. Soll er uns und sich selbst seine Unschuld beweisen. Dann können wir weitermachen.« Er zögerte, berührte das Schwert in der weißen Scheide auf seinem Ankleidetisch. »Und wenn wir ohne ihn weitermachen, dann wird er im Licht ruhen, weil er für seine Verbrechen bezahlt hat.«

»Galad«, sagte sie, »du weißt, dass Lini unter den Leuten ist, die du aus Perrins Lager festhältst.«

»Sie hätte etwas sagen sollen, sich mir zu erkennen geben. Ich hätte sie freigelassen.«

»Aber sie hat es nicht getan. Ich habe gehört, dass du damit gedroht hast, die Gefangenen hinzurichten, wenn sich Perrin nicht im Kampf stellt. Hättest du das tatsächlich getan?«

»Ihr Blut wäre auf sein Haupt gegangen.«

»Linis Blut, Galad?«

»Ich … ich hätte sie unter den anderen gesehen und aus der Gefahr gebracht.«

»Also hättest du die anderen umgebracht«, sagte Morgase. »Menschen, die nichts falsch gemacht haben, die sich nichts anderes haben zuschulden kommen lassen, als sich von Aybara täuschen zu lassen?«

» Es wäre nie zu den Hinrichtungen gekommen. Das war lediglich eine Drohung.« » Eine Lüge.«

»Bah! Mutter, worauf willst du eigentlich hinaus?«

»Ich will dich zum Nachdenken bringen, mein Sohn. Auf eine Weise, die ich schon zuvor hätte fördern sollen, statt dich deinen einfachen Illusionen zu überlassen. Das Leben ist nicht so einfach wie der Wurf einer Münze, die eine Seite oder die andere. Habe ich dir je von dem Prozess gegen Tham Felmley erzählt?«

Galad schüttelte den Kopf. Er schien gereizt zu sein.

»Hör mir zu. Er war Maurer in Caemlyn, ein ehrenwerter Mann. In den frühen Tagen meiner Herrschaft wurde er angeklagt, seinen Bruder ermordet zu haben. Sein Ruf war gut genug und der Fall wichtig genug, dass ich selbst die Richterin war. Am Ende wurde er gehängt.«

»Das gerechte Ende für einen Mörder.«

»Ja«, sagte Morgase. »Leider ging der wahre Mörder frei aus. Tatsächlich hatte einer seiner Arbeiter die Tat begangen. Das kam erst zwei Jahre später heraus, als der Mann wegen eines anderen Mordes verhaftet wurde. Als wir ihn hängten, lachte er uns aus. Felmley war unschuldig gewesen. Der wirkliche Täter, der Mörder, gehörte zu denen, die ihn während des Prozesses verurteilten.«

Galad schwieg.

»Es ist das einzige Mal, dass ich mit Sicherheit wusste, dass ich jemanden versehentlich aufhängte. Also sage mir, Galad. Sollte ich für meinen Fehler hängen, einen unschuldigen Mann verurteilt zu haben?«

»Du tatest dein Bestes, Mutter.«

»Und trotzdem ist ein Mann tot, der es nicht verdiente.« Galad sah verstört aus.

»Die Kinder sprechen gern davon, dass sie das Licht beschützt«, sagte Morgase, »dass es ihr Urteilsvermögen leitet und Menschen zur Gerechtigkeit führt. So funktioniert das aber nicht, Galad. Valda beanspruchte den Segen des Lichts für sich und konnte schreckliche Dinge tun. Und ich hoffte auf die Führung durch das Licht und habe ungerechtfertigterweise getötet.

Ich behaupte nicht, dass Aybara unschuldig ist. Dazu weiß ich nicht genug über die Sache. Aber ich will, dass du begreifst. Manchmal kann ein guter Mann etwas Falsches tun. Manchmal ist es angebracht, ihn zu bestrafen. Manchmal dient eine Strafe niemandem, und es ist das Beste, ihn weitermachen und lernen zu lassen. So wie ich weitermachte und lernte, nachdem ich eine so schlechte Entscheidung traf.«

Galad runzelte die Stirn. Das war gut. Schließlich schüttelte er den Kopf, und seine Miene hellte sich auf. »Wir werden sehen, was die Verhandlung ergibt. Es …«

Es klopfte an dem Pfosten draußen. Galad drehte sich stirnrunzelnd um. »Ja?«

»Mein Kommandierender Lordhauptmann«, sagte ein Weißmantel, schob den Zelteingang zur Seite und betrat das Zelt. Er war ein hagerer Mann mit tief liegenden Augen. »Wir haben gerade eine Nachricht aus dem Lager der Kreatur Aybara erhalten. Sie bitten darum, den Tag der Verhandlung zu verschieben.«

Galad stand auf. »Wozu?«, verlangte er zu wissen.

»Ein Zwischenfall in ihrem Lager, behaupten sie«, sagte der Weißmantel. »Irgendetwas über Verwundete, die behandelt werden müssen. Mein Kommandierender Lordhauptmann … es ist offensichtlich ein Trick. Irgendeine List. Wir sollten sie angreifen oder zumindest diese sinnlose Verlängerung ablehnen. «

Galad zögerte. Er sah Morgase an.

»Das ist keine List, mein Sohn«, sagte sie. »Das kann ich dir versprechen. Wenn Aybara sagt, dass er mehr Zeit braucht, dann meint er das ehrlich.«

»Bah«, schnaubte Galad und gab dem Boten das Zeichen zu gehen. »Ich denke darüber nach. Zusätzlich zu den Dingen, die du sagtest, Mutter. Vielleicht ist etwas mehr Zeit zum Nachdenken ja… willkommen.« »Die Machtlenker sagen, dass sie so schnell arbeiten, wie sie können«, erklärte Gaul, der neben Perrin ging, während sie verschiedene Teile des Lagers inspizierten. »Aber sie sagen, dass es Tage dauern könnte, sich um jeden zu kümmern.«

Die Sonne sank dem Horizont entgegen, aber vermutlich würde es für viele von ihnen eine lange Nacht werden, da sie sich um die Verletzten kümmern mussten. Tausende waren verwundet worden, auch wenn die meisten Verletzungen – glücklicherweise – nicht gravierend waren. Sie hatten ein paar Menschen verloren. Zu viele, vielleicht genauso viele, wie den Schlangenbissen zum Opfer gefallen waren.

Perrin grunzte. Gaul selbst trug einen Arm in der Schlinge; er hatte seine Speere abgewehrt, nur um beinahe von einem seiner Pfeile getötet zu werden. Er hatte ihn mit dem Unterarm blockiert. Als Perrin gefragt hatte, hatte er gelacht und gesagt, dass es Jahre her sei, seit er das letzte Mal mit seinem eigenen Pfeil auf sich geschossen hatte. Aielhumor.

»Haben sich die Weißmäntel gemeldet?«, fragte Perrin und wandte sich an Aravine, die an seiner anderen Seite ging.

»Ja«, antwortete sie. »Aber sie teilten nichts Genaues mit. Ihr Kommandant sagte, er würde darüber ›nachdenken‹ uns mehr Zeit zu geben.«

»Nun, er wird es nicht entscheiden«, sagte Perrin und betrat den Lagerabschnitt der Mayener, um nach Berelains Leuten zu sehen. »Ich riskiere keine Schlacht, wenn ein Viertel meiner Männer verwundet und meine Asha’man völlig vom Heilen erschöpft sind. Wir gehen zu dieser Verhandlung, wenn ich es sage, und wenn das Damodred nicht passt, kann er uns ja angreifen.«

Gaul grunzte zustimmend. Er trug seine Speere, aber Perrin entging nicht, dass sie fester als gewöhnlich verschnürt waren. Aravine trug eine Laterne, obwohl sie sie bis jetzt noch nicht hatten anzünden müssen. Auch sie rechnete mit einer langen Nacht.

»Lasst mich wissen, wenn Tarn und Elyas wieder da sind«, sagte er zu Gaul. Er hatte sie einzeln losgeschickt, um die Dörfer in der Nähe zu besuchen und sich zu vergewissern, dass ihre Bewohner – die, die sich nicht den vorbeimarschierenden Heeren angeschlossen hatten – nicht unter der Blase des Bösen gelitten hatten.

Berelain hatte sich wieder unter Kontrolle; ihre Hand war verbunden. Sie erstattete ihm in ihrem Zelt selbst Bericht, meldete, wie viele ihrer Soldaten verletzt worden waren, und nannte die Namen der Männer, die sie verloren hatten. In ihrem Lager waren es nur sechs.

Perrin gähnte, als er das Zelt verließ, und schickte Aravine los, um nach den Aes Sedai zu sehen. Gaul war schon gegangen, um beim Transport von Verwundeten zu helfen, und so war Perrin allein, als er den Pfad zu Alliandres Lagersektion betrat.

Sein Hammer hatte nicht versucht, ihn umzubringen. Soweit er wusste, war das die einzige Waffe gewesen, die nicht auf die Blase des Bösen reagiert hatte. Was hat das zu bedeuten?

Er schüttelte den Kopf, dann zögerte er und blieb nachdenklich stehen, als er hörte, wie jemand hinter ihm herlief. Tams Geruch wehte ihm entgegen, und er drehte sich zu dem stämmigen Mann um.

»Perrin, mein Sohn«, sagte Tarn atemlos vom Laufen. »Gerade ist etwas Ungewöhnliches passiert.«

»Die Blase des Bösen hat das Dorf getroffen?«, fragte Perrin alarmiert. »Gab es Verletzte?«

»O nein«, sagte Tarn. »Das nicht. Im Dorf war alles in Ordnung. Sie haben nicht einmal bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Es geht um etwas anderes.« Tarn roch seltsam. Nachdenklich, besorgt.

Perrin runzelte die Stirn. »Was? Was ist passiert?«

»Ich … nun, ich muss gehen, mein Sohn«, sagte Tarn. »Ich muss das Lager verlassen. Ich weiß nicht, wann ich zurück bin.«

»Ist das…«

»Es hat nichts mit den Weißmänteln zu tun«, sagte Tarn. »Ich darf nicht viel sagen. Aber es geht um Rand.«

Die Farben wirbelten. Rand schritt durch die Korridore des Steins von Tear. Seine Miene war finster. Gefährlich.

»Perrin. Ich glaube, das ist etwas, das ich tun muss. Es hat mit den Aes Sedai zu tun, und ich muss dich jetzt verlassen. Ich kann nicht mehr sagen. Sie haben es mich schwören lassen.«

Perrin schaute Tarn in die Augen und entdeckte dort Ehrlichkeit. Er nickte. »Also gut. Brauchst du Hilfe? Jemanden, der dich begleitet, wo auch immer du hingehst?«

»Ich komme zurecht«, sagte Tarn. Er roch verlegen. Was ging da nur vor? »Ich versuche, dir Hilfe zu besorgen, mein Sohn.« Er legte Perrin eine Hand auf die Schulter. »Das hier hast du gut gemacht. Ich bin stolz auf dich, und dein Vater wäre es auch. Mach weiter so. Ich sehe dich bei der Letzten Schlacht wieder, vielleicht auch früher.«

Perrin nickte. Tarn eilte zu seinem Zelt, vielleicht um zu packen.


Majestätisch auszusehen fiel schwer, wenn man auf einer Krankentrage auf Caemlyns Stadtmauer herumgetragen wurde, aber Elayne tat ihr Bestes. Manchmal war es wichtiger, das zu bekommen, was man wollte, als majestätisch auszusehen.

Bettruhe! Für eine Königin! Um Melfane nicht ständig im Nacken sitzen zu haben, hatte sie geschworen, nicht herumzulaufen. Aber sie hatte nichts davon gesagt, in ihrem Schlafzimmer zu bleiben.

Vier Gardisten trugen die Trage auf ihren Schultern. Elayne saß sicher zwischen Armlehnen. Sie trug ein blutrotes Gewand, hatte das Haar sorgfältig gebürstet und die Rosenkrone von Andor aufgesetzt.

Der Tag war schwül, das Wetter war warm geworden, obwohl der Himmel noch immer von Wolken verfinstert wurde. Sie gönnte sich einen Moment, um sich schuldig zu fühlen, weil sie den armen Männern befohlen hatte, sie in ihren Ausgehuniformen durch diese frühsommerliche Hitze zu schleppen. Aber diese Männer würden in ihrem Namen in die Schlacht reiten; sie konnten warmes Wetter ertragen. Davon abgesehen, wie oft bekamen die Gardisten wohl die Ehre, ihre Königin tragen zu können?

Birgitte ging neben dem Bett her, und der Bund verriet, dass sie sich amüsierte. Elayne hatte befürchtet, sie würde diesen Ausflug verhindern wollen, aber stattdessen hatte sie gelacht! Birgitte musste zu dem Schluss gekommen sein, dass die Aktivitäten dieses Tages kein Risiko für Elayne oder ihre Kinder darstellten – auch wenn sie Melfane sicherlich aufregen würden. Für die Behüterin bedeutete das die Gelegenheit, erleben zu können, wie Elayne durch die Stadt getragen wurde und albern aussah.

Elayne zuckte innerlich zusammen. Was würden wohl die Leute sagen? Die Königin auf einer Trage, die man zur äußeren Stadtmauer brachte? Nun, sie würde sich nicht von Gerüchten davon abhalten lassen, dem Test persönlich beizuwohnen, genauso wenig, wie sie sich von einer tyrannischen Hebamme herumkommandieren lassen würde.

Sie hatte einen erstaunlichen Ausblick von der Mauer. Zu ihrer Linken lagen die Felder, die nach Aringill führten; zu ihrer Rechten brodelte die Stadt vor Leben. Auch diese Felder waren braun. Berichte aus dem Reich waren schrecklich. Neun Felder von zehn waren verdorrt.

Elaynes Träger brachten sie zu einem der Türme an der Stadtmauer, dann gab es eine Verzögerung, als ihnen klar wurde, dass die Stangen der Trage zu lang waren, um durch das Treppenhaus im Turm zu kommen; die Demonstration sollte oben auf seiner Spitze stattfinden. Glücklicherweise gab es für solche Situationen Griffe. Sie entfernten die Stangen, nahmen die Griffe und gingen weiter.

Während man sie nach oben schleppte, lenkte sie sich mit dem Gedanken an Cairhien ab. Alle dortigen Adelshäuser behaupteten, es gar nicht abwarten zu können, dass sie kam und sich den Thron nahm, doch niemand bot ihr mehr als ein Lippenbekenntnis, wenn es um Unterstützung ging. Daes Dae’mar war in vollem Gange, und die Rangelei um die beste Ausgangsposition für Elaynes Thronbesteigung – oder ihr Scheitern – hatte in dem Moment angefangen, in dem Rand seine Absicht erwähnt hatte, ihr diese Nation zu überlassen.

In Cairhien bliesen stets hundert verschiedene politische Winde in hundert verschiedene Richtungen. Sie hatte nicht die nötige Zeit, um sämtliche verschiedene Fraktionen kennenzulernen, bevor sie sich auf den Thron setzte. Davon abgesehen, betrachtete man sie als Mitspielerin im großen Spiel, würde man sie als jemanden betrachten, den man besiegen konnte. Sie musste eine Möglichkeit finden, den Sonnenthron zu ergreifen, ohne sich zu sehr in die örtliche Politik der Adelshäuser einzumischen.

Die Trage erklomm ächzend die Turmspitze. Oben stand Aludra mit einem ihrer Drachenprototypen. Die Bronzeröhre war relativ lang und steckte auf einem Holzrahmen. Das war bloß ein Modell. Ein zweiter, funktionierender Drachen war auf dem nächsten Turm entlang der Mauer aufgebaut worden. Das war weit genug weg, um Elayne bei einer Panne nicht in Gefahr zu bringen.

Die schlanke Tarabonerin schien sich keine Gedanken über die Tatsache zu machen, dass sie der Königin einer fremden Nation eine möglicherweise die Welt verändernde Waffe überließ; offenbar schien sich Aludra nur dafür zu interessieren, sich an den Seanchanern zu rächen, zumindest hatte Mat es so erklärt. Als Elayne mit Lucas Zirkus gereist war, hatte sie einige Zeit mit der Frau verbracht, aber sie war sich noch immer nicht sicher, wie vertrauenswürdig sie letztlich war. Sie würde sie von Meister Norry im Auge behalten lassen.

Immer natürlich vorausgesetzt, die Drachen funktionierten. Elayne warf noch einen Blick auf die Menschen in der Tiefe. Erst da wurde ihr bewusst, in welcher Höhe sie sich eigentlich befand. Beim Licht!

Ich bin sicher, erinnerte sie sich. Mins Sicht. Nicht, dass sie so etwas zu Birgitte sagte, das nicht mehr. Und sie wollte wirklich damit aufhören, so viele Risiken einzugehen. Das hier war kein Risiko. Nicht, wenn man es genau nahm.

Sie wandte den Blick ab, bevor ihr schwindlig werden konnte, und konzentrierte sich auf den Drachen. Er war im Prinzip geformt wie eine große Bronzeglocke, nur länger und schmaler. Wie eine gewaltige Vase, die man auf die Seite gelegt hatte. Elayne hatte mehr als einen Brief von den aufgebrachten Glockengießern der Stadt erhalten. Aludra beharrte darauf, dass ihre Befehle ganz genau ausgeführt wurden, und hatte die Männer gezwungen, die Röhre dreimal neu zu gießen.

Spät am vergangenen Abend war in der Stadt ein lauter Knall zu hören gewesen. Als wäre irgendwo eine Steinmauer umgestürzt oder ein Blitz eingeschlagen. Am Morgen hatte Elayne eine Nachricht von Aludra bekommen.

Erster Test ein Erfolg, hatte dort gestanden. Trefft mich heute auf der Stadtmauer für eine Demonstration.

»Euer Majestät«, sagte Aludra. »Euch geht es … gut?«

»Seid unbesorgt, Aludra«, erwiderte Elayne und versuchte ihre Würde zu bewahren. »Der Drache ist bereit?«

»Das ist er«, erwiderte Aludra. Sie trug ein langes braunes Kleid, und ihr langes, gelocktes schwarzes Haar fiel ihr offen bis zur Taille. Warum heute keine Zöpfe? Aludra schien sich nichts aus Schmuck zu machen, und Elayne hatte sie auch nie welchen tragen gesehen. In ihrer Nähe standen fünf Männer aus Mats Bande der Roten Hand, von dem einer etwas trug, das wie die Bürste eines Schornsteinfegers aussah. Ein anderer hielt eine Eisenkugel in den Händen, ein dritter trug ein kleines Holzfass.

Auf dem nächsten Turm konnte Elayne eine ähnliche Gruppe sehen. Dort hob jemand einen Hut in die Luft und winkte ihr zu. Anscheinend wollte Mat von dem Turm mit dem funktionierenden Drachen zusehen. Leichtsinniger Trottel. Was, wenn das Ding wie eine Nachtblume explodierte?

»Dann wollen wir mit den Demonstrationen beginnen«, sagte Aludra. »Diese Männer hier werden Euch vorführen, was auf dem anderen Turm geschieht.« Sie zögerte und sah Elayne an. »Ich finde, wir sollten Euer Majestät in die Höhe stemmen, damit Ihr das Schauspiel sehen könnt.«

Wenige Minuten später hatten sie ein paar kleine Kisten gefunden, die man unter der Trage stapeln konnte, sodass Elayne nun über die Turmzinnen schauen konnte. Anscheinend hatte man etwas auf einem fernen Hügel aufgebaut, allerdings war es zu weit weg, als dass sie die Einzelheiten ausmachen konnte. Aludra holte mehrere Ferngläser hervor und gab je eines an sie und Birgitte weiter.

Elayne hob das Fernglas ans Auge. Kleiderpuppen. Aludra hatte fünfzig von ihnen in Rängen auf dem fernen Hügel aufgestellt. Beim Licht! Wo hatte sie so viele davon her? Vermutlich würde Elayne ein paar ausführliche Briefe von den Schneidern der Stadt bekommen.

Mat hatte versprochen, dass das jeden Preis wert sein würde. Natürlich war hier die Rede von Mat. Er war nicht unbedingt die verlässlichste Person, wenn es um solche Dinge ging.

Er ist nicht derjenige, der ein unschätzbares Ter’angreal an den Schatten verloren hat, rief sie sich in Erinnerung. Sie runzelte die Stirn. In der Tasche trug sie eine weitere Kopie des Fuchskopfes. Es war eine von dreien, die sie bis jetzt hatte herstellen können. Wenn sie schon ans Bett gefesselt war, dann konnte sie ihre Zeit auch genauso gut nutzen. Es wäre weniger frustrierend gewesen, hätte sie ständig die Macht lenken können.

Alle drei Reproduktionen des Fuchskopf-Medaillons funktionierten genau wie die erste Kopie. Solange sie sie hielt, konnte sie die Macht nicht lenken, und ein mächtiges Gewebe konnte sie überwältigen. Sie brauchte das Original wirklich noch länger, um es genauer studieren zu können.

»Wie Ihr seht, Euer Majestät«, sagte Aludra steif, als wäre sie nicht daran gewöhnt, eine Demonstration zu geben, »haben wir versucht, die Bedingungen nachzustellen, unter denen Ihr die Drachen einsetzen würdet, ja?«

Nur dass wir es statt mit fünfzig Kleiderpuppen mit hunderttausend Trollocs zu tun haben werden, dachte Elayne.

»Ihr solltet zum nächsten Turm schauen«, sagte Aludra gestikulierend.

Elayne richtete das Fernglas auf den benachbarten Turm. Dort standen fünf uniformierte Mitglieder der Bande an dem Drachen. Mat musterte das Ding und schaute ins Rohr.

»Sie haben etwas mit dem Drachen geübt«, fuhr Aludra fort. »Aber sie sind nicht so effizient, wie ich es gern hätte. Für den Augenblick werden sie reichen, ja?«

Elayne senkte das Fernglas, als die Männer das Modell zurückrollten – es war mit Rädern ausgestattet – und das Rohr ein Stück zum Himmel hinaufkippten. Einer schüttete etwas schwarzes Pulver aus seinem Fässchen hinein, dann stopfte ein anderer irgendeinen Propfen nach. Der Mann mit der langen Stange rammte sie dann in das Rohr hinein. Er hielt in Wahrheit gar keine Schornsteinbürste, sondern eine Art Werkzeug, mit dem man alles feststopfen konnte.

» Das sieht wie das Pulver in einer Nachtblume aus «, meinte Birgitte. Sie verspürte Skepsis.

Aludra warf der Behüterin einen Blick zu. »Und woher wisst Ihr, was in einer Nachtblume ist, Maerion? Euch ist schon klar, wie gefährlich es ist, eine davon zu öffnen, ja?«

Birgitte zuckte mit den Schultern.

Aludra runzelte die Stirn, erhielt aber keine Antwort, also holte sie tief Luft und beruhigte sich. »Dieses Gerät ist völlig sicher. Wir haben den anderen Drachen zum Schießen vorbereitet, also besteht keine Gefahr, ja? Aber es bestünde sowieso keine Gefahr. Der Guss ist gut, und meine Berechnungen sind perfekt.«

»Elayne«, sagte Birgitte, »ich finde noch immer, wir sollten uns das besser auf der Mauer dort unten ansehen. Selbst wenn das Ding hier nicht angezündet werden wird.«

»Nach der ganzen Mühe, die ich mir machen musste, um hier heraufzukommen?«, fragte Elayne. »Nein, danke. Aludra, Ihr dürft weitermachen.«

Sie ignorierte Birgittes Verärgerung. Glaubte Aludra allen Ernstes, sie würde mit ihrer Eisenkugel eine der Kleiderpuppen treffen? Das war ein weiter Weg, und die Kugel war so klein, kaum breiter als die Handfläche eines Mannes. Hatte sie diese ganze Mühe für ein Gerät investiert, das noch schlechter als ein Katapult funktionierte? Es hatte sich angehört, als könnte dieser Drache seine Kugel weiter schleudern, aber die von einem Katapult geschleuderten Steine waren vielfach größer.

Die Männer kamen zum Schluss. Der letzte Mann hielt eine kleine Fackel an eine Zündschnur, die aus der Kugel ragte, und ließ sie dann in das Rohr rollen, dann drehte er die Röhre genau nach Süden.

»Seht Ihr?«, sagte Aludra und tätschelte den Drachen. »Drei Männer sind am besten. Vier zur Sicherheit, falls einer fällt. Falls nötig kann das auch einer allein bewältigen, aber das wäre dann sehr zeitraubend.«

Die Männer traten zurück, als Aludra eine rote Fahne hervorholte. Sie hielt sie in die Luft und signalisierte der anderen Mannschaft auf dem benachbarten Turm. Elayne richtete das Fernglas auf sie. Einer hielt eine kleine Fackel. Mat sah neugierig zu.

Aludra senkte die Fahne. Der Soldat hielt die brennende Fackel an die Seite des Drachen.

Die folgende Explosion war so mächtig, dass Elayne zusammenzuckte. Der Knall war scharf wie ein Donnerschlag, und in der Ferne ertönte etwas, das wie das Echo der Explosion klang. Elayne legte eine Hand an die Brust und erinnerte sich Luft zu holen.

Auf dem Hügel explodierte eine Stelle zu einer massiven Wolke aus Staub und Erde. Der Boden selbst schien zu erzittern! Als hätte eine Aes Sedai den Erdboden mit einem Gewebe aufgerissen, dabei war die Eine Macht gar nicht zum Einsatz gekommen.

Aludra erschien enttäuscht. Elayne hob das Fernglas. Die Explosion hatte die Kleiderpuppen um gute zwanzig Schritte verfehlt, dafür aber ein fünf Schritte breites Loch in den Boden gerissen. Explodierte die Kugel wie eine Nachtblume, um das zu erreichen? Dieses Gerät war nicht bloß ein verbessertes Katapult oder Trebuchet; es war etwas anderes. Etwas, das eine Eisenkugel mit einer solchen Gewalt in den Boden schmettern konnte, dass sie ein großes Loch schlug und danach vermutlich selbst explodierte.

Elayne konnte eine ganze Mauer mit diesen Drachen bestücken! Und wenn sie dann alle gemeinsam feuerten …

Aludra hob wieder die Fahne. Elayne sah zu, wie die Männer auf dem anderen Turm das Rohr reinigten und dann nachluden. Mat hielt sich stirnrunzelnd die Ohren zu, was Elayne lächeln ließ. Er hätte von ihrem Turm aus zusehen sollen. Das Nachladen nahm nicht viel Zeit in Anspruch, vielleicht drei Minuten. Und Aludra wollte dafür sorgen, dass es noch schneller ging?

Auldra schrieb ein paar Befehle nieder und übersandte sie per Boten zu den Männern. Sie veränderten die Position des Drachen ein Stück. Wieder schwenkte Aludra die Fahne; Elayne wappnete sich gegen die Explosion, zuckte aber dennoch zusammen, als sie ertönte.

Dieses Mal saß der Schuss genau und traf die Mitte der Reihen aus Kleiderpuppen. Ihre zerfetzten Überreste wirbelten durch die Luft. Der Schuss zerstörte fünf oder sechs und schleuderte ein gutes Dutzend zu Boden.

Mit der Fähigkeit, alle zwei Minuten so weit zu schießen und dabei eine solche Zerstörung anzurichten, würden diese Waffen tödlich sein. Möglicherweise sogar so tödlich wie Damane. Birgitte schaute noch immer durch ihr Fernglas, und auch wenn ihre Miene reglos war, konnte Elayne ihr Erstaunen spüren.

»Die Waffe – Ihr findet sie zufriedenstellend?«, fragte Aludra.

»Ich finde sie zufriedenstellend, Aludra«, sagte Elayne lächelnd. »Ich finde sie sogar in der Tat zufriedenstellend. Die Ressourcen der ganzen Stadt gehören Euch, die Ressourcen von ganz Andor. Es gibt in Andor noch mehr Glockengießer.« Sie sah die Feuerwerkerin an. »Aber Ihr müsst diese Konstruktionspläne geheim halten. Ich werde Euch Wächter mitgeben. Wir können es uns nicht leisten, dass einer der Glockengießer darüber nachdenkt, was es ihm einbringt, wenn er sein Zuhause verlässt und Informationen an unsere Feinde verkauft.«

»Solange die Seanchaner nichts davon erfahren, ist mir das egal«, sagte Aludra.

»Nun, mir aber nicht«, erwiderte Elayne. »Und ich bin diejenige, die dafür sorgen wird, dass diese Dinger vernünftig eingesetzt werden. Ihr müsst mir noch einen Eid leisten, Aludra.«

Die Frau seufzte, gehorchte aber. Elayne hatte nicht vor, diese Waffen gegen jemand anderen als Trollocs oder Seanchaner einzusetzen. Aber das Wissen, sie zu haben, würde sie doch sehr beruhigen, wenn es um die Sicherheit ihrer Nation ging.

Sie lächelte, als sie darüber nachdachte, und es fiel ihr schwer, ihre Aufregung zu verbergen. Birgitte senkte endlich das Fernglas. Sie fühlte sich … ernst an.

»Was ist?«, fragte Elayne, als die Gardisten nacheinander ihr Fernglas benutzten und die Zerstörung inspizierten. Sie fühlte eine seltsame Verstopfung. Hatte sie etwas Verkehrtes zu Mittag gegessen?

»Gerade hat sich die Welt verändert, Elayne«, sagte Birgitte und schüttelte den Kopf; der lange Zopf baumelte etwas. »Sie hat sich auf bedeutende Weise verändert. Ich habe das schreckliche Gefühl, dass das erst der Anfang ist.«

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